Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!. Andrea Charlotte Berwing

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Название Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!
Автор произведения Andrea Charlotte Berwing
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783969530061



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das nie infrage. Sie hatte in der Liebe in blaue oder grüne Augen geschaut. So wie die Augen ihres Vaters. In das Meer wollte sie schauen, nur in das Meer und in den Sternenhimmel. Und anders wollte und konnte sie es sich gar nicht vorstellen. Und Nana? Ohne sie wäre dieses wundersame Kind Lea nicht auf die Welt gebracht worden. Manchmal braucht es nicht viel, überlegt die Großmutter, um seine Schöpfung zu rechtfertigen.

      Dann besinnt sich die Großmutter. Sie richtet ihre Schultern auf und schaut Lea fest in die Augen.

      „Du wirst bald nach Berlin fliegen und dann wirst du mir erzählen, wie es dort ist“, antwortet sie mit fester Stimme.

      Lea geht nun regelmäßig an ihren heiligen Baum, hockt sich im Schneidersitz auf den Boden und lehnt ihren Rücken an seinen Stamm. Sie betet. Für sich, für ihre Eltern, für ihre Großmutter, für den Baum. Nicht für Deutschland. Vier Monate kann sie zeitlich nicht einordnen, für Lea ist es ein Abschied für immer, vier Monate sind eine Ewigkeit. Kurz überlegt sie zu fliehen. Doch wohin, in die Wüste? Dorthin hat sie ihren Vater, einen alten Tuareg, oft begleitet, manchmal mussten sie sogar mehrere Monate an entfernten Orten bleiben. Sie durfte sich nie mehr als drei Meter von ihrem Vater entfernen. Vor dieser Fremde hat sie Angst. Die Wüste und die fernen Handelsplätze scheinen feindlich zu sein für ein kleines Mädchen wie Lea. Das weiß sie ganz genau. Ihr sind auch die langen trockenen Wege durch endlosen Sand und die großen traurigen Augen anderer Kinder auf den verschiedenen Märkten im Gedächtnis geblieben. Außerdem ist sie ein auffälliges Mädchen, ihre Haut ist heller als die der Einheimischen und wenn Sonnenlicht in ihre Augen fällt, schimmern sie grünlich. Nur im Dunkeln wirken sie braun. Dann fällt Leas Blick auf ihre kleine Schlange, sie ist größer geworden und schaut sie jetzt aufmerksam an. Lea hat sich ihre Schachtel mit den länglich grünen Blättern der Pflanzen vom Ufer so an der Schulter befestigt, dass sie immer bei ihr sein kann. Manchmal bringt sie sie an verschiedene Orte, um ihr die Welt zu zeigen. Sie ist unverhofft anhänglich. Sie verlieren sich nie aus den Augen. Nur reden kann sie nicht mit ihr. So bleibt Lea mit ihren düsteren Gedanken allein. Ihre Heimat, ihre Eltern erscheinen ihr nun umso wertvoller, da sie ihr verloren gehen. Jeder Moment ist von zukünftigem Schmerz erfüllt in ihrer kleinen Brust.

      Henriette liegt in ihrem Bett. Ihr rechtes Bein fühlt sich schwer an, es ist eingegipst. Viele Stunden verbringt sie nun allein zu Hause, der Schulweg ist noch zu beschwerlich. Tschibi, der kleine Wellensittich, leistet ihr immerhin Gesellschaft. Zusammen haben sie viel Spaß. Wenn Henriette durch die Wohnung humpelt, läuft er ihr langsam hinterher. Henriette muss vorsichtig sein, bei so einem kleinen Vogel. Henriettes Vater kommt, obwohl sie krank ist, weiterhin nur alle zwei Wochen nach Hause zu seiner Familie. Er muss arbeiten und studieren. Jetzt hat Henriette viel mehr Zeit, ihn zu vermissen. Nach vier Wochen kommt der Gips ab. Ihr Bein sieht schneeweiß aus, die Haut schuppt sich. Es fällt ihr schwer, sich wie früher zu bewegen. Außerdem erscheint ihr das rechte Bein dünner zu sein. So wie der Kontakt zur Welt. Ihre Freunde müssen sie vergessen haben, draußen lacht die Sonne, niemand besucht sie. Nun ist sie es, die bei Lena klingelt.

      „Kommt Lena raus, hier ist Henriette.“ Sie steht unten an der Haustür Nummer fünf, das Bein kribbelt.

      „Henriette!“, eine scharfe Stimme tönt aus der Sprechanlage in Halle.

      „Ja?“ Henriette ist unsicher.

      „Ihr geht nicht auf die Baustelle, versprochen!“, die Stimme des Vaters von Lena klingt bedrohlich.

      „Nein, das tun wir nicht. Ich hab meinen Kreisel mit.“

      „Gut, dann nimmt Lena ihren auch mit. In fünf Minuten ist sie da.“

      Die beiden Mädchen begrüßen sich schüchtern, das Erlebnis auf der Baustelle sitzt noch in den Knochen. Sie laufen zusammen auf den Platz vor dem Zentrum, der mit breiten Betonplatten ausgelegt ist, auf die die Sonne knallt. Dann schlagen sie mit ihren kleinen Peitschen die Kreisel an, die sich lustig drehen. In Halle, auf einem Platz zwischen Zentrum, Sand und Neubauten.

      Plötzlich ziehen sich Wolken zusammen, die vorher wie kleine Wattebällchen über ihnen dahingezogen waren. Aus der Ferne grollt der Donner. Dann bricht sich das Wasser Bahn und schlägt in Massen auf dem Boden auf. Plötzlich sind viele Kinder auf der Straße. Henriette und Lena laufen zu ihrem Haus. Rasch entledigen sie sich ihrer Sachen, es ist schwül. Die Baupfützen vor dem Haus füllen sich schnell. Henriette badet und es kommt ihr vor, als wäre sie in Bulgarien am Meer im Urlaub. Die Kinder plantschen begeistert, bespritzen sich gegenseitig und kreischen. Henriette fühlt sich wieder heimisch. Beim Abendbrot eröffnet ihr die Mutter, dass sie nach Berlin ziehen werden. Zum Vater. Susanne freut sich, Henriette schaut aus dem Fenster und den weißen Wattebällchen nach.

      Bevor ihr Vater geht, tritt er noch zu Lea und wiegt das sich schlängelnde Tier, das sich streckt, als es in den großen Händen des Vaters liegt. Um sich dann blitzschnell wieder zusammenzukringeln. Er stellt fest, dass das Reptil ein Weibchen und schon größer geworden ist, schneller als der Vater dachte. Er runzelt die Stirn. Lea beobachtet ihn gespannt. Sie spürt die Achtung des Vaters gegenüber ihrem Findling, auf dessen Rücken sich schon gezackte Linien bemerkbar machen. Rot und schwarz. Und Gelb. Der Vater klappt den Kiefer der kleinen Schlange auseinander und befühlt die kleinen Zähne. Er drückt auf die seitlichen spitzen Zähne, aus denen sich eine Flüssigkeit absondert. Die zerreibt er zwischen seinen kräftigen Fingern. Dann legt er die kleine Schlange vorsichtig in Leas Hände, die sie schnell in der kleinen Kiste verschwinden lässt. Der Vater dreht sich um und geht. Lea sieht ihn zu seinem Kamel laufen, die Silhouette seines großen Körpers harmoniert beeindruckend mit der Größe seines Kamels Lala. Er reitet es seit vielen Jahren. Sie vertrauen sich ohne viel Tamtam. Nie lässt ihr Vater Lala in der Sonnenhitze stehen, so wie es viele andere Besitzer mit ihren Kamelen machten, bis sie durchdrehten und verzweifelt wegrannten oder ihre Besitzer bissen.

      Nie bindet der Vater seinem Kamel die Beine zusammen. Immer steht in einem Eimer Wasser für Lala bereit und immer auch getrocknetes Gras und sogar Brot. Lala dankt es dem alten Tuareg mit Sanftheit und Gutmütigkeit. Und auf langen Ritten durch die Wüste mit Hartnäckigkeit und Härte gegen die gleißende Hitze. Sein Kamel kann sich durchschlagen, Sandstürmen trotzen, lange Durststrecken überwinden. Es ist zäh. Schön und zäh in der Wüste. Der Tuareg weiß, von ihm hängt dort in der gelben Unendlichkeit der Welt sein Leben ab. Und das seiner Familie. Überlebenskampf. Um nichts in der Welt würde er sein Leben tauschen wollen. Nicht mit der Moderne, nicht gegen Geld, nicht gegen Liebe. Seine dunklen Augen sind wie die eines Wolfes, sie glühen durch die Nacht, sein Blick ist dann feindselig. Und so manch ein nächtlicher Reiter durch die Wüste wagt es nicht, sich zu diesem düster und konzentriert wirkenden Mann ans Feuer zu setzen. Dann achtet der Tuareg nur auf mögliche Gefahren, auch seine Ohren nehmen jedes Geräusch wahr. Und jeder Fremde oder auch vermeintliche Freund kann hier schnell zum Feind werden. Das sagen ihm die unzähligen Geschichten, die sich die Einheimischen erzählten. Sie haben sich in den langen Nächten von Jahrzehnten, Jahrhunderten an den Feuern in der Wüste erhalten. Tagsüber arbeitet er hart, Handel betreiben, Tiere pflegen, das kleine Haus flicken. In den Fältchen seiner Haut immer den Wüstenstaub, der ewige Begleiter dieser Wildnis.

      Unbezähmbar wirkt auch der sanfte, stolze Blick Lalas mit stets hoch erhobenem Kopf. Lea dankt dem Kamel oft, wenn es ihren Vater heil von den langen Touren wiederbringt, mit einer Extraportion Hirse, die sie sich selbst heimlich vom Munde abgespart hat. Manchmal gibt Nana etwas dazu. Lalas regelmäßiges Kauen nimmt sie als Danksagung. Oft auch nimmt sie eine alte verrostete Stahlbürste und kämmt das von der Sonne verblichene und struppige Fell. Es fühlt sich strohig an, trotzdem liebt es Lea, ihm geduldig durch das Fell zu streichen. Und Lala genießt es. Die langen Wimpern haben es Lea besonders angetan, stundenlang schaut sie sie an und versinkt in den sinnlichen Tiefen der dunklen großen Augen. Sie wusste, was das Kamel wusste.

      Das Wüstenmädchen bemerkt, dass der letzte Blick des Vaters dem Familienradio mit dem Generator gilt. Auch sonst fällt es dem beeindruckenden Tuareg schwer, Abschied zu nehmen. Zu gerne hört er mit seiner Frau Nana und der Großmutter während der Mittagshitze Radio. Unvergesslich die Momente für Lea, wenn