Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!. Andrea Charlotte Berwing

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Название Jetzt spinnen wir um die Wette, Henriette!
Автор произведения Andrea Charlotte Berwing
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783969530061



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ihm einen Hirsekolben hinein. Der Stiel ist widerspenstig und zerbricht bei dem Versuch, ihn zwischen die dünnen Käfigstäbe zu flechten. Tschibi flattert aufgeregt hin und her. Henriette hält dem Wellensittich ihre kleine Hand vor den weichen gelben Bauch, Tschibi hackt einmal mit dem Schnabel in die Hand, wie um sich zu vergewissern, ob sie auch echt ist. Dann setzt er sich darauf. Die kleinen Krallen bohren sich in Henriettes Haut. Es piekst. Sie spürt das Gewicht von Tschibi und wundert sich, wie leicht er ist. Eigentlich nicht existent. Und wie sehr sich so ein kleiner Vogel in ihr Herz hineinkatapultiert hat.

      Bevor ihr Vater, der nur jedes zweite Wochenende nach Hause kam, eines Abends erst den Käfig bedeutsam aus Zeitungspapier auswickelte und dann eine kleine Pappschachtel mit Löchern, in dem der kleine Vogel sitzt, aus seiner schwarzen Aktentasche hervorzauberte, versuchte Henriette selbst Eier auszubrüten. Sie stahl ihrer Mutter Hühnereier aus dem Kühlschrank, legte sich diese im Bett vorsichtig zwischen ihre Oberschenkel. Bevor sie sich für die Schule zurechtmachte, wickelte sie die Eier in ihren Schal und ihre Mütze. Sehr gespannt lief sie nach der Schule zu den Eiern, nur noch dieser eine Gedanke. So konnte sie es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Doch nie, nie krabbelte auch nur ein Küken heraus. Sie hielt die Eier an ihr Ohr, horchte, Stille. Sie befühlte sie, die glatte Oberfläche, kein Schnäbelchen pochte von innen an die dünne Wand. Die weißen Eierschalen starrten sie nur leer an. Doch die Vorstellung von einem eigenen Küken aus dem Ei bewahrte sich Henriette tapfer.

      Henriette nimmt Tschibi nun vorsichtig mit ins Bad und setzt den kleinen Vogel dort auf die Spiegelablage. Dann wäscht sie sich zuerst das Gesicht und schaut in den Spiegel. Es klingelt an der Tür; Henriette hört, dass ihre Mutter zur Sprechanlage geht. Es brummt und knirscht laut, als sie sie bedient.

      „Kommt Henriette runter?“ Lena, ihre blonde Freundin steht unten und möchte auf den Spielplatz gehen. Henriette erkennt ihre helle Stimme sofort.

      „Nein, es ist doch noch viel zu früh, Henriette darf erst ab 11.00 Uhr raus!“ Die Mutter lässt den Knopf los und geht in die Küche. Ihre Schritte sind sehr fest für so eine kleine zierliche Person. Henriette schaut sich weiter im Spiegel an; sie hat blaue Augen, stellt sie immer wieder fest. Nicht so schöne braune wie Lena.

      Die Hände der Großmutter klopfen den Stein ab, viele Steine für das neue Lagerhaus werden es bis zum Abend. Endlich ein Häuschen für Vorräte. Oft schon ist sie erschöpft und würde sich am liebsten zum Sterben niederlegen. Doch so leicht ist das nicht; ein bisschen noch, sagt sie sich, noch ein bisschen. Lea braucht mich noch. Dann schaut sie in die Wüste hinein, die unergründliche. Sandkorn für Sandkorn, hier und da ein Kaktus, diese Kargheit, diese überwältigende Weite, das soll ihre Zukunft gewesen sein? Die Wüste ihr Schicksal?

      Erinnerungen überwältigen sie. Auch in Deutschland war es karg. Vor allem auf dem Standesamt. Auf dem Schreibtisch dort. Den wird sie nie vergessen. So als wäre es heute. Genau jetzt! So sehr sind die Bilder dieser Momente in ihrem Gedächtnis haften geblieben. Das jedoch lässt sich nicht vorschreiben, welche Bilder die Seele sehen will. Dieser abgedunkelte Raum im zweiten Stock des alten Gebäudes mit den hohen Fenstern, die Eiche davor. Ihre Blätter gelb und braun zotteln im Wind hin und her. Der Stift liegt akkurat neben der Heiratsurkunde. Daneben der Brief. Das Einverständnis ihres zukünftigen Mannes. Handgeschrieben. Inmitten von Blut und Hunger und Durchhaltevermögen. Das Letzte, was sie von ihrem Geliebten sieht: den Stahlhelm. Der wusste wahrscheinlich mehr von den Tagen an der Front und ihrem Werner als sie. Und dann die bedrückende Einsamkeit, sie ist verheiratet, endlich und doch ganz allein mit ihrer stillen Sehnsucht, die überall nagt. Und sie überallhin verfolgt.

      Ja, er hat Briefe geschrieben, lange Briefe, sehnsuchtsvolle Briefe. Mit seiner schönen gestochen eleganten Handschrift. Ein Herz druntergemalt, unter seine Briefe. Ein Herz. Sein Herz. Das nie zurückkommen sollte zu ihr. Lange warb er um sie, geduldig. Fast fünf Jahre lässt sie ihn zappeln, werben. Werben um sie. Um eine gemeinsame Zukunft.

      Werner, ihr erster Mann. Groß ist er und gutmütig. Zu gutmütig. Zu groß. Zu stark. Er hat die Pferde beschlagen, mit Eisen gearbeitet, später an der Front mit Kanonen. Genau als sie ihn am meisten liebt, wird er ihr entrissen. Durch ein Formular. Einzug an die Front. Für das Vaterland. Auf dem Standesamt dann der Helm, Hochzeit mit dem Stahlhelm. Einsamkeit. Ihre Schönheit wird ihr zum Verhängnis, scheint ihr gerade zum Fluch zu gereichen. Denkt sie manchmal. Später.

      Nach dem Tod ihres Mannes an der Front interessiert sich Heinz für sie. Er stellt ihr nach. Er versucht sie zu schlagen, als sie ihn nicht einlässt. Doch die Tür ist schneller zu, den will sie nicht. Er sieht hässlich aus in seiner Uniform, hager, zu helle Augen. Irgendwie missgestaltet in ihren Augen. Es muss etwas mit Aufrichtigkeit zu tun haben. Sie sieht immer nur Werner, auch in ihrer Wohnung. Er verblasst nicht. Die Erinnerung bleibt stark. Heinz, erbost und in seiner Ehre verletzt, lässt ein paar Monate später ihre zwei Töchter abholen. Kraft seines Amtes. In ein Heim. Sie sieht sie nicht wieder. Auf dem Formular steht Erbschaden.

      ‚Was für ein Erbschaden?‘, überlegt sie. Lange. Es findet sich keine Antwort auf das Absurde. Das musste sie nicht verstehen. Ihre Tränen sind jetzt versiegt; es waren einmal so viele, dass sie sie der Wüste nicht antun wollte.

      Dann lernt sie Bernard kennen. Er ist Deportierter, irgendwann fliehen sie in die Wüste. Über Ungarn, Paris, dann mit dem Schiff. Sie schaffen das Unmögliche. Unterwegs, erinnert sie sich, essen sie alles. Sie gehen in die Nähe von Restaurants, schnappen sich Essensreste von Tellern, wenn die Gäste sich zum Gehen erheben. Niemand wird gefragt. Dass es sie ihre Würde kosten würde, zu fragen, das ist es nicht. Die Würde, die ist erst anwesend nach dem Schmerz im Gedärm. Er Franzose, sie Deutsche. Nana wird ihr die beiden verlorenen Töchter nie ersetzen. Das weiß sie so genau, darüber ist sie nicht bitter geworden. Nein, bitter nicht. Eher noch schöner in ihrer Einsamkeit. Eine Frau, ein Wort. Eine Frau, die nichts zu verlieren hat, denn alles, was sie jemals dachte zu besitzen, wurde ihr auf grausame Art und Weise genommen. Sie weiß, wie es ist, leer zu sein. Noch ganz jung weiß sie es. Auch wenn sie sonst nicht zu den Begnadetsten gehört. Die Sprache in Bilma, zungenbrecherisch. Doch auch das. Sie wird sich verständigen. Vor allem mit ihren Lieben. Und manchmal muss sie auch gar nicht reden. Wozu noch? Allein ihre Anwesenheit genügt. Mit ihr geht niemand respektlos um. Niemand. Jetzt gibt es noch Lea. Lea. Lea. Ihr Herz. Und eine Art Frieden, der sich in ihr ausgebreitet hat, in jeder ihrer Körperzellen spürt sie eine müde Entspannung, die ihr niemand mehr nehmen wird.

      An diesem schicksalshaften Morgen wacht Lea auf, als ihr Land, die Sahara schon vollends der Sonne ausgesetzt ist. Die Luft über dem Sand flirrt vor Hitze und lauter kleine Fata Morganen lassen sich, wenn die Augen dort verweilen, ausmachen. Lea sieht die Salzbrote und die noch größeren Salzkegel, die ihre Mutter gerade für ihren Vater und die anderen Männer verpackt. Sie werden in den nächsten Tagen aufbrechen, nach Timia. Noch bevor der Harmattan, der stürmische Wind aus der Sahara, der noch viele wilde Kinder hat, den Sahel mit undurchdringlichem rotem Staubnebel überziehen wird. Das Brot für die Reise ist schon gebacken, Brot und Datteln sind der unverzichtbare Reiseproviant für die Männer mit ihren hochnäsig wirkenden Kamelen. Zerklüftete Felswände in der Ferne lassen die langatmigen trockenen Wege durch die Wüste erahnen. Ihr Vater wird sich auf seiner Route an die Sterne, die die Richtung gen Westen anzeigen, halten.

      „Ajuan“, begrüßt sie ihre Mutter Nana, die kaum den Blick hebt, so sehr nimmt die körperlich schwere Arbeit ihre Konzentration in Anspruch. Dann sieht Lea ihre Großmutter mit ungewohnt großen Schritten auf sich und ihre Mutter zueilen. Sie kneift die Augen zusammen, erst nach genauerem Hinsehen sieht sie Papier in der linken Hand der Großmutter flattern. Als würde es sich sträuben, mit dem Tempo der alten Frau mitzuhalten. Weit hinter der Großmutter macht sie die Silhouette einer Karawane der Kel Ewey aus, die sich durch den Sand schlängelt. Sie brauchen bestimmt noch zwei Stunden, bis sie in der Oase Bilma eintreffen.

      „Nana, Nana, schau nur, heute ist es endlich angekommen, zwei Monde habe ich gewartet!“ Lea hört aus der Stimme der Großmutter große Freude heraus. Leas Herz rutscht sonst wohin, doch es schlägt nicht mehr in ihrer Brust.

      „Frühstück“,