Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen. Ava Farmehri

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Название Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen
Автор произведения Ava Farmehri
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960542353



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fremden Sachen vergriffen habe, sind lange vorbei. Im Gefängnis sitze ich aus einem ganz anderen Grund. Manchmal frage ich mich, warum meine Eltern mich eigentlich nie in Schutz genommen haben, vor allem mein Vater nicht, der doch genau wusste, wie es sich anfühlt, ununterbrochen verleumdet und als Bösewicht abgestempelt zu werden. Mein Leben lang haben sich immer nur Fremde für mich eingesetzt. Nur sie haben meine Absichten erklärt, meine Absichten verstanden, mich verstanden. Vielleicht lag das daran, dass die Fremden nicht mit mir unter einem Dach leben mussten und nicht darunter zu leiden hatten, dass sie meine Eltern waren. Sie konnten nach der Begegnung mit mir einfach nach Hause zu ihren friedlichen Familien gehen und ihren wohlerzogenen Kindern Geschichten über böse Kinder wie mich erzählen, Kinder, die ihren Eltern und Gott den Gehorsam verweigerten. Sie konnten ihnen erzählen, was diese bösen Kinder für eine Zukunft erwartete, dass sie nämlich zu bösen Erwachsenen heranwuchsen, die Autos klauten und Pulver schnupften, das zwar weiß, aber trotzdem dreckig war.

      Ich frage mich, ob es stimmt, was die Leute sagten: Dass die Menschen, die dich jeden Tag sehen, die mit dir zusammenleben, die mit dir essen, mit dir verreisen und mit dir beten, dich am besten kennen. Meine Eltern haben mich nie verstanden. Vielleicht war das das einzige wirkliche Trauma meiner Kindheit. Denn ich wollte unbedingt verstanden werden. Ich wollte, dass die beiden Menschen, die ich am meisten liebte, mir zeigten, wo es langging. Doch sie wollten etwas anderes. Sie wollten vom jeweils anderen verstanden werden und hatten keine Zeit für mich. Sie wollten wissen, warum und wann und wie, sie wollten große Antworten auf große Fragen. Und ich war nur eine winzig kleine Frage ohne Fragezeichen.

      Als ich an jenem Tag nach Hause kam, in mein Zimmer lief und mich vor den Spiegel stellte, fiel mein Blick auf das Stück Schokolade, das an meiner Stirn klebte. Den ganzen Nachhauseweg über hatte mir mein Schatz im Gesicht gepappt. Ich entfernte das klebrige Stück und schob es mir in den Mund. Dann leckte ich mir die Finger ab und verrieb den Fleck, bis meine Stirn ganz rot war. Ich war gezeichnet. Mein Vater hatte mich also doch bestraft. Er hatte mich als Lügnerin gebrandmarkt.

      Heute frage ich mich, was es wohl zu bedeuten hat, dass sich der Vorfall an Shab-e Yalda ereignete, der Nacht, in der Mithra geboren wurde, der zoroastrische Gott der Wahrheit. Ich frage mich, ob die Tatsache, dass es die längste und dunkelste Nacht des Jahres ist, irgendwelche Auswirkungen darauf gehabt hat, was für ein Mensch ich geworden bin.

      Solche Dinge, solche scheinbar unwichtigen Dinge, spielen nämlich eine große Rolle. Ich war wahrhaftig rettungslos verloren.

       3

      Meine Eltern hatten mir meinen Teddybär weggenommen, nachdem sie mich mit einer großen Schere auf dem Bett ertappt hatten. Ich hatte versucht, meinen Kopf in das Loch zu schieben, das ich in die Unterseite meines Teddys geschnitten hatte, in der Hoffnung, dass der Rest meines Körpers folgen würde. Das ursprüngliche Loch zwischen seinen Beinen war durch Abnutzung entstanden und ich war unschuldig daran, aber seine Erweiterung war zugegebenermaßen ein überlegter, gezielter Akt. Ein paar Tage zuvor hatte mein Onkel Dariusch mich auf seinen Knien reiten lassen, und während ich damit beschäftigt war, seinen absonderlichen Walross-Schnurrbart zu studieren, begann er, mir die wundersame Geschichte von Ḥayy ibn Yaqẓān zu erzählen. Hayy war ein Kind der Wildnis, das wie Moses von seiner wohlmeinenden Mutter in einen Fluss geworfen wird und auf einer unbewohnten Insel landet. Dort nimmt sich eine Gazelle, die ihr Kitz verloren hat, seiner an. Sie zieht ihn auf, bis sie stirbt. Bei ihrem Tod ist er gerade einmal sieben Jahre alt. »Genauso alt wie du!« Aus wissenschaftlicher Neugier seziert Hayy mithilfe von angespitzten Zweigen und scharfkantigen Steinen die Leiche seiner Mutter. Er will herausfinden, warum die Wärme aus ihrem Körper gewichen und das leise Pochen in ihrer Brust verstummt ist. Dann streift er über die Insel und seziert alles, was er in die Finger bekommt. Er vergleicht die Tiere und Pflanzen mit sich selbst, weil er den Tod, die Materialität des Körpers und die Körperlosigkeit der Seele verstehen will …

      Hier endete die Geschichte meines Onkels, aber in Wahrheit geht sie weiter. Hayy widmet sein Erwachsenenleben dem Nachdenken und der inneren Einkehr. Als er von der Insel gerettet wird und in den Schoß der Gesellschaft zurückkehrt, kann er nicht fassen, wie ahnungslos die Menschen sind. Sie ignorieren all die mystischen Erkenntnisse, zu denen er in der Einsamkeit gekommen ist. Er kann ihre irrationale Hingabe an fromme Praktiken und religiöse Lehren nicht verstehen. Er selbst will diese Lehren über ihre offensichtliche Bedeutung hinaus erweitern, um seinen Mitmenschen einen Gefallen zu tun, aber sie begegnen ihm mit Ungeduld und Feindseligkeit. Er sinnt über die Irrtümer und den Exhibitionismus der religiösen Rituale nach, die nichts zu tun haben mit einem Leben in innerer Harmonie und dem direkten Weg zur Wahrheit. Er beschließt, auf seine Insel zurückzukehren, wo er zuvor jenseits aller religiösen Dogmen ein sehr viel besseres Verhältnis zur Wahrheit hatte, als es unter den Menschen, die nicht begreifen, dass Religion nur ein Mittel zum Zweck ist, möglich ist.

      Faszinierender spiritueller Hokuspokus, aber damals war ich wie besessen von Hayys Geschichte. Deshalb ertappte mich mein Vater eines Nachts, nachdem ich das Sorgerecht für meinen Teddy an einen verschlossenen Schrank verloren hatte, dabei, wie ich mich mit einer Schere in der Hand über meine schlafende Mutter beugte, um sie aufzuschneiden. Ein paar Wochen später saß ich in Dr. Fereyduns Praxis.

      Zu meiner Verteidigung: Sie schlief reglos wie ein Stein, ihre Haut war kalt, und als ich mein Ohr an ihre Brust legte, um ihrem Herzschlag zu lauschen, hörte ich nichts.

      Als Kind, und so lange ist das noch gar nicht her, legte ich oft den Kopf in den Nacken, blickte in den Himmel – was mir jetzt verwehrt ist – und dachte über Gott nach. Ich fragte mich, warum er beschloss, sich manchen Menschen zu erkennen zu geben und anderen nicht. Waren wir in seinen Augen nicht alle gleich? Und wenn er seinen Propheten tatsächlich Tugenden mitgegeben hatte, die für Normalsterbliche unerreichbar waren, warum hatte er sie dann obendrein auserwählt? Erst erschuf er sie als etwas Besonderes und belohnte sie dann auch noch für diese Ehre (oder diesen Fluch).

      In der Schule nahmen wir diese Art von phantastischen Fabeln im Unterricht durch, und ich saß wie gebannt da, das Kinn auf die Hand gestützt, und starrte auf die Lippen der Lehrerin. Ich stellte mir das Leben dieser bemerkenswert frommen Männer vor – ja, es waren immer Männer, aber das fiel mir damals nicht auf –, die offenbar samt und sonders eine eher seltsame Kindheit gehabt hatten: Sie waren Außenseiter oder Waisen, von den Eltern verstoßen, ausgesetzt oder verraten. Ihre missverstandenen Herzen quollen vor Weisheit über, und sie verbrachten die meiste Zeit allein, mit Visionen oder in tiefer Meditation. Auch wurden sie alle für verrückt erklärt, entweder von Kindesbeinen an oder im Verlauf ihres Lebens.

      Gott schien Einzelgänger zu bevorzugen. Ich dachte, dass Gott sicher gut nachempfinden kann, wie man sich als solcher fühlt, weil die Götter auch meist allein sind. Als ich Hayys Geschichte zum ersten Mal hörte, entwirrten sich tausend Knoten in meinem Magen und ein Seil schoss von meinem Kopf zum Himmel und verband mich mit all diesen großen Seelen. Ich war eine von ihnen. Ich war sicher, dass meine Zeit noch kommen würde. Ich war überzeugt, dass Gott Großes mit mir vorhatte. Für meinen Schmerz gab es einen Grund, und die Leiden meiner Kindheit, dieses schreckliche Gefühl von Verlust, das mich nie verließ, hatte eine Bedeutung, die irgendwann ans Licht kommen würde. Und dann würde der Wal mich in die sandigen Arme eines Ufers spucken. Ich war Hayy, ich war Jonas im Bauch des Wals, ich war Joseph auf dem finsteren Grund des Brunnens.

      Einmal nahm mein Vater uns mit in den Norden, ans Ufer des Kaspischen Meers. Ich lief bekleidet und bekopftucht ins Wasser, kämpfte mich durch die Wellen und rutschte über Algen und Steine, die meinen Namen riefen und mich immer weiter hinauslockten. Das Wasser zerrte an meinen roten Plastiksandalen, spülte sie vor und zurück, bis das Meer sie mir auszog und die Sandalen wie zwei kleine rote Schiffchen in den Wellen versanken. Ich musste das Unglück hilflos mitansehen, während mir der Sand durch die Zehen rann und ich mit den dürren Armen einer Neunjährigen gegen die Brecher anschwamm, die mich trafen.

      Ein Stück weiter weg hatte mein Vater seine Angel ausgeworfen, und meine Mutter war zurück zum Auto gegangen, um Brot und eine zweite Kanne Chai zu holen. Ich wollte den Beweis für meine Theorie erbringen, dass Gott mich vor dem Ertrinken retten würde, so wie er meine Seelenverwandten