Название | Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen |
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Автор произведения | Ava Farmehri |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960542353 |
Ich streckte einen Arm aus und rief etwas zu laut: »Der da oben ist es, der glänzende Apfel über dir.« Der Sittich versteckte sich in meinem Haar, knabberte an meinem Ohr, rieb seinen gebogenen Schnabel an meinem Nacken und kitzelte mich so sehr, dass ich lachen musste. Als der Junge nach meinem Apfel griff, sah er zu mir herunter, und an seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Aber da war es zu spät. Eva hatte den Apfel gewollt, Adam würde ihn essen. Mit den Beinen hielt der Junge die Taille des Baums umschlungen, griff mit der linken Hand nach dem Ast, zog ihn zu sich herab und pflückte den schimmernden Apfel. Er rieb ihn an seiner Hose blank und biss dann mit einem lauten Krachen hinein, das mir noch tagelang im Ohr klingen würde.
Tränen schossen mir in die Augen und begannen mir über die Wangen zu laufen. Wütend warf ich seinen Karton zu Boden, sammelte mehrere verfaulte, ameisenbedeckte Äpfel in meinem Pullover und begann, ihn damit zu bewerfen. Ich hasste ihn, ich hasste ihn abgrundtief. Der Sittich flatterte schimpfend über den regenbogenfarbenen Blättern, die jetzt überall auf dem Rasen verstreut waren. Einige Äpfel trafen den Jungen nur am Hals oder am Bauch, aber der letzte traf ihn mitten auf die Nase. Er verzog das Gesicht und plumpste wie ein Stein zu Boden, mit blutender Nase, den angebissenen Apfel in einer Hand.
Ich lief davon.
Eine Viertelstunde später kam ich mit meinen Eltern aus dem Haus. Ich versteckte mich hinter meinem Vater und umklammerte seine Beine wie ein verängstigter Koala. Ich zerrte so heftig an seinen Hosentaschen, dass er fast gestolpert wäre. Er befreite sich von meinen schwitzigen Tentakeln und sagte: »Baba dschan, bitte geh wie ein normaler Mensch.«
Der Junge saß auf dem Bürgersteig, an derselben Stelle wie vorher, und hielt sich ein blutiges Taschentuch an die Nase. Der Karton mit den Umschlägen stand wieder vor ihm, und obenauf thronte der Sittich wie ein gelangweilter Wahrsager, der in einem Jahrmarktszelt darauf wartet, dass jemand seine übersinnlichen Fähigkeiten in Anspruch nehmen möchte.
»He, junger Mann!«, sagte mein Vater, als er die blutige Nase und das schmutzige Hemd des Jungen sah, und wuschelte ihm aufmunternd durchs schwarze Haar. »Alles in Ordnung?«
Der Junge zog einen Apfel aus seinem Hemd und rieb ihn an der Hose blank. »Ja.« Er grinste mich mit seinem bescheuerten abgebrochenen Zahn an und streckte mir den Apfel hin. »Den hier hast du vergessen.«
Ich bat meine Mutter mit einem Blick um Erlaubnis, und der Junge erklärte: »Sie hat mich gebeten, ihr einen Apfel zu pflücken, und ist dann ohne ihn weggerannt.«
»Das war aber wirklich nett von dir«, sagte mein Vater zu dem Jungen. »Das war wirklich nett von ihm, nicht wahr, Sheyda?« Er schob mich zu dem Jungen. »Sei nicht undankbar! Er hat sich sogar verletzt, nur um dir einen Gefallen zu tun. Na los, nimm den Apfel.«
Ich tat wie geheißen. Ich riss ihm den Apfel aus der Hand, bevor der Junge es sich anders überlegen und ihn selbst essen konnte. »Warte!«, rief meine Mutter, als sie sah, dass ich Anstalten machte hineinzubeißen. »Wir müssen ihn erst waschen. Du kannst ihn zu Hause essen.« Sie griff in ihre Handtasche und kramte etwas Geld hervor, um den Jungen für seine Bemühungen zu bezahlen.
»Ich will den Vogel haben«, sagte ich ruhig.
»Sheyda dschan, sei nicht dumm«, zischte meine Mutter.
»Der ist nicht zu verkaufen«, rief der Junge wütend, und ich war heilfroh, dass ich den Apfel schon an mich genommen hatte.
»Warum lässt du den Sittich nicht eine Prophezeiung für dich aussuchen?«, sagte meine Mutter. »Du hast doch bestimmt eine Frage, auf die du eine Antwort möchtest, Schatz?«
»Nein. Ich will den Vogel.«
»Den kannst du aber nicht haben. Junger Mann, bitte lass deinen Vogel ein fal für meine Tochter aussuchen«, sagte mein Vater mit wachsender Ungeduld und einem Anflug von Ärger in der Stimme. »Stell eine Frage, Sheyda. Aber behalte sie für dich. Oder formuliere einen Wunsch.«
»Wie viele Wünsche habe ich denn?«
»Einen.«
Ich schloss die Augen und dachte an etwas, was mir damals sehr bedeutsam vorkam. Nachdem der Vogel mit schiefgelegtem Kopf alle Möglichkeiten durchgegangen war, zog er mit dem Schnabel einen kleinen Umschlag hervor. Meine Mutter bat ebenfalls um ein fal. Wir bezahlten den Jungen und gingen mit den beiden Umschlägen davon; der eine war orange wie der Lolli, den ich von der Kinderärztin bekommen hatte, der andere himmelblau wie die Augen des Jungen. Im Taxi nach Hause öffnete meine Mutter ihren Umschlag und las das Gedicht, faltete das Papier dann sorgfältig wieder zusammen und schob es in ihre Handtasche. Dann öffnete sie meinen und las, was darauf geschrieben stand.
»Was um Himmels willen hast du dir gewünscht?«, fragte meine Mutter, die Hafis’ Prophezeiungen viel zu ernst nahm. Das Papier zitterte in ihren Händen.
»Ich habe geschummelt. Ich habe mir mehrere Sachen gewünscht.«
»Das macht nichts. Was hast du dir gewünscht?«
»Ich habe mir gewünscht zu verschwinden. Oder in einem Apfel zu leben wie ein Wurm.« Ich starrte auf die glänzende Schale des Apfels und versuchte, mein Spiegelbild darin zu erkennen. »Und du, maman? Was hast du dir gewünscht?«
Mein Vater drehte sich vom Beifahrersitz zu uns um. Er hielt eine halb abgebrannte Zigarette zwischen zwei angespannten Fingern, atmete den Rauch aus und sagte: »Sie hat sich gewünscht, du wärst normal.«
»Ich habe mir auch noch den Vogel gewünscht«, sagte ich und starrte weiter auf meinen Apfel.
Meine Mutter zerknüllte das orange Papier und warf es kurzerhand aus dem Fenster des fahrenden Taxis.
Ich habe nie erfahren, was in Dr. Vafas Sprechzimmer gesagt worden war. Aber ich kann es mir denken, denn drei Wochen später saß ich in einer anderen Praxis auf einer anderen Couch und sah aus einem anderen Fenster. Diese Couch stank nach teurem Parfüm, freien Assoziationen und Albträumen, und ich saß zwischen denselben Eltern, die fest überzeugt waren, dass ich verrückt war. Dr. Fereydun ist bis heute mein treuer Psychiater. Dr. Vafa hatte ihn meinen Eltern empfohlen, weil er große Erfolge mit schweren Fällen vorzuweisen hatte, und so einer war ich offenbar.
Die Wände seines Büros rochen nach verschämten Geständnissen und bösen Erinnerungen. Das Büro war zweimal so groß wie unser Wohnzimmer, und auf Dr. Fereyduns Schreibtisch standen viele schöne Dinge. Dinge, die in unserem Wohnzimmer, so fand ich, noch schöner ausgesehen hätten, zum Beispiel in einem der beiden Glasschränke, in denen meine Mutter das gute Geschirr und ihre Sammlung Porzellanengel aufbewahrte. Diesmal saß ich zwei lange Stunden still und wartete darauf, dass der Doktor mir einen Lutscher schenkte. Aber das tat er nicht. Er sprach die ganze Zeit mit meinem Vater und bombardierte mich mit Fragen zu meinem Spielzeug. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern. Am besten im Gedächtnis geblieben ist mir der Geruch seiner Couch, aber das liegt vor allem daran, dass er über die Jahre hinweg derselbe geblieben ist. Den Geruch von Erinnerungen bekommt man nicht so leicht wieder raus.
Der Glasschrank mit den Engeln war immer verschlossen. Meine Mutter versteckte den Schlüssel, aber ich wusste, wo ich suchen musste. Jeden Freitag schloss sie die Tür auf, um die Engel abzustauben und neu zu arrangieren. Sie nahm jeden einzelnen zärtlich in die Hand, hüllte ihn in ein feuchtes schwarzes Tuch und rieb ihn ab. Manche Engel beteten im Knien, andere blickten gütig auf mich herab, füllten meine Augen mit Wärme und segneten mich mit ausgebreiteten Armen. Ein weiblicher Engel spielte Harfe, zwei andere hielten arrogant die Augen geschlossen. Der Schlüssel befand sich in der Küche, in einem leeren Porzellankrug, in dem meine Mutter auch sämtliche Hemdknöpfe aufbewahrte, die mein Vater bei der Arbeit verlor.
Drei