Название | Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen |
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Автор произведения | Ava Farmehri |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960542353 |
Leider blieb Gott nicht genug Zeit, mir einen Wal vorbeizuschicken. Aber mir blieb genug Zeit, eine Menge Wasser zu schlucken und ein hastiges Gebet zu sprechen, als ich den Boden unter den Füßen verlor und unterging. Der Himmel verschwamm vor meinen Augen, die Wellen brachen über mein Leben herein, und ich atmete einen Schwall kleiner Luftblasen aus. Ich sank auf den Grund. Alles war ruhig und friedlich. Die nasse Höhle des Kaspischen Meers umfing mich. Aber dann erhörte noch jemand mein Gebet: Ein Fischer, der mich in den Wellen hatte planschen und untergehen sehen, packte mich an der Bluse und zog mich zurück an die Oberfläche.
Als seine Lungen wieder Bekanntschaft mit Sauerstoff machten, rief er keuchend nach meinem Vater. Ich hustete und schnappte nach Luft. Er warf mich über seine Schulter und trug mich zum Strand, während mein Vater, dem das Wasser bis zu den Oberschenkeln reichte, seine Angel wegwarf und sich durch die Wellen kämpfte, um zu uns zu gelangen. Ich schlang meine dünnen Arme um den Hals des Fischers, roch das Salz des Meeres und schmeckte die ölige Nässe seines Haars. Ich blickte zum Horizont, wo sich zwei verschiedene Blautöne küssten, und dann hoch zum Himmel. In dem Wissen, dass Gott mich erhört hatte, schloss ich lächelnd die Augen.
Nachdem meine Mutter mir ein Hemd meines Vaters angezogen und meine Kleider zum Trocknen in der Sonne ausgebreitet hatte, setzte sie sich mit mir ins Auto und umarmte mich lang. Alle vier Türen standen offen, wir saßen auf dem Rücksitz, mein Kopf auf dem Herzen meiner Mutter, ihre Wange auf meinem nassen Haar. Zitternd flehte ich sie an, unser Picknick nicht zu beenden. Ich musste versprechen, nicht mehr in die Nähe des Wassers zu gehen. Mein Vater verdonnerte mich dazu, die Fische zu bewachen, die er gefangen hatte, und ich saß weinend neben dem Eimer und versuchte, sie wiederzubeleben. Ich nahm jeden einzelnen in die Hand, fasziniert von den regenbogenfarbenen Schuppen und der Art, wie sie, wenn ich sie in den Sonnenuntergang hielt, bläulich, gelb und purpurrot schimmerten.
Ich gab den Fischen eine Mund-zu-Mund-Beatmung und blies, in dem Glauben, ihnen zu helfen, Kohlendioxid in ihre geschürzten Lippen. Ich war stolz auf meine gute Tat und fand es lustig, dass sie sich mit aufgerissenen Augen aufblähten wie ein Luftballon. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus, und sobald mein Vater sich abwandte, trug ich den Eimer zum Meer, wobei ich wegen des Gewichts der fünf Fische ziemlich Schlagseite hatte, während meine Mutter mir hinterherbrüllte. Dann schleuderte ich einen Fisch nach dem anderen in die sich überschlagenden Wellen, nicht ohne mich vorher mit einem Kuss von ihnen zu verabschieden. Dem letzten flüsterte ich ein aufrichtiges Dankeschön zu. Sie schlugen auf das Wasser auf und erwachten zuckend zum Leben. Zufrieden versetzte ich dem Eimer einen Tritt und humpelte mit blutendem Zeh zurück zu meinem Vater, der mir eine Tracht Prügel verpasste, weil ich unser Abendessen und drei Stunden Arbeit weggeworfen hatte.
Dann sammelte mein Vater Treibholz und entzündete ein Lagerfeuer. Zum Abendessen gab es zwei Tüten Chips mit Mast-o-Mussir, Knoblauchjoghurt. Eine Familie, die ihr Auto ganz in der Nähe geparkt hatte, gesellte sich zu uns, und wir luden auch noch ein paar ortsansässige Fischer, einschließlich des gottgesandten, ein, mit uns am Feuer zu sitzen und ihr Essen mit uns zu teilen. Ich weigerte mich, irgendetwas anzurühren. Später verteilte meine Mutter kleine Papierbecher und goss allen goldbraunen Chai ein. In meinen Tee gab sie einen Schluck kaltes Wasser, und ich pustete auf die dampfende Flüssigkeit, bis sie abgekühlt war. Fröhliches Gelächter stieg zum Himmel, und bald schienen alle die Tatsache, dass ich fast im Kaspischen Meer ertrunken wäre, vergessen zu haben. Die Erwachsenen rissen Witze, tauschten Familiengeschichten aus und machten sich über süße Feigen und Wassermelonen her. Als die Fischer begannen, Legenden von Meerjungfrauen und Wassermännern zu erzählen, die Kinder in ihr Unterwasserreich entführten, bedeutete mein Vater ihnen zu schweigen, weil »die Kleine sich solche Geschichten immer viel zu sehr zu Herzen nimmt«.
Das Feuer brannte herunter und die anderen Feriengäste sammelten ihre Siebensachen ein, um zurück zu dem Haus zuvorkommender Einheimischer zu fahren, bei denen sie ein Zimmer angemietet hatten. Dort würden sie auf Teppichen und Schaumstoffmatten schlafen, und wenn sie ihren Darm entleeren wollten, würden sie sich umständlich über ein Loch im Boden hocken, das ihren Schlüsselbund und ihre Münzen verschluckte. Anschließend würden sie mit einem Wasserschlauch auf ihr Poloch zielen, in der Hoffnung, sich nicht komplett nasszuspritzen, während sie sich nach dem Komfort ihres eigenen Hauses mit seinen gottlosen französischen Bidets sehnten.
Die Fischer gingen mit meinen Eltern zum Wasser, um ihnen »Meeresgetier zu zeigen, das wie Glühwürmchen leuchtet«. Ich blieb im Sand sitzen, lauschte dem Hundegeheul in der Ferne und beobachtete den silbernen Halbmond. Da wusste ich, dass Gott durch sein Schlüsselloch zu uns hinunterschaute. Noch Jahre später konnte ich nicht schlafen, wenn ich vergeblich am Himmel nach dem Mond suchte, denn das bedeutete, dass Gott beschäftigt war. Entweder rettete er gerade woanders Leben oder er hatte sich erschöpft ein Kissen über den Kopf gezogen und war eingeschlafen, weil er unser hasserfülltes Geschrei nicht mehr hören konnte.
Die Nacht zog ihren samtenen Schleier über die Welt. Kein Stern stand am Himmel. Der Wind trug die Geheimnisse der Dunkelheit davon. Der Gesang der Grillen verstummte, und Stille hüllte uns ein. Wir gingen zurück zum Auto, das neben ein paar Bäumen stand. Der Eimer, den mein Vater aus dem Meer gerettet hatte, quietschte an seinem sonnenverbrannten Arm. Sein uraltes Geräusch lenkte meine Schritte. Ich hielt mir die Hand wenige Zentimeter vors Gesicht und konnte nichts sehen. Aus Angst vor der alles verschlingenden Dunkelheit drehte ich mich um und blickte zum Mond, der das Meer beschien. Und da sah ich alles. Glasklar und zum ersten Mal sah ich alles.
Ich wollte geliebt werden. Ich wollte einfach nur geliebt werden. Ich wollte in den Armen der Nacht versinken, wollte, dass mich jemand hielt, wollte ebenso vertrauensvoll mit einem geliebten Menschen verschmelzen wie der Himmel mit dem Meer. Wir sind so jung wie unsere Unschuld und so alt wie unsere Sorgen. Ich bin in einem Gewirr aus Zahlen verloren, aus Jahren, die mich zu ersticken drohen, aus bloßgelegten schwärenden Wunden. Ich sitze hier fest, in der Dunkelheit gefangen, mit einer zersplitterten Seele, die einfach nicht heilen will. Die Maden meiner Vergangenheit lassen nicht von mir ab. Hungrig fressen sie immer weiter.
Obwohl ich seitdem viele Male am Kaspischen Meer gewesen bin, hat keine der Reisen die Erinnerungen an diesen ersten Ausflug verblassen lassen. Nie wieder habe ich auf dem Rücksitz unseres Autos den Oberkörper aus dem heruntergekurbelten Fenster gehalten und lauthals mitgesungen, während Hayedeh mit ihrer legendär melancholischen Stimme davon erzählte, was für ein Wunder die Liebe sei. Sobald das Lied Aroosak, »Puppe«, zu Ende war, bat ich meine Mutter, die Kassette zurückzuspulen. Ich hängte mich aus dem Fenster und brüllte die Zeilen in den Wind, mein Kopftuch gebläht wie die Bäuche der Fische, die ich gerettet hatte. Wir fuhren zwischen waldbedeckten Berghängen hindurch, deren tiefes Grün sich in meinen tränenden Augen spiegelte. Der Fahrtwind nahm mir die Luft, ließ meine Ohren flattern, kühlte meine Zunge, und ich weinte, tief berührt von der Musik. Ich fühlte mich hilflos ob des ewigen Winters in Hayedehs Herzen und der Bitterkeit, die sie empfand. Ich verstand den Kummer ihrer Puppe, der man das Herz gebrochen hatte und die wie ich tausend Tränen in den Augen hatte. Ich klammerte mich an die heruntergekurbelte Scheibe meines Fensters und beobachtete das Gesicht meiner Mutter im Seitenspiegel. Der Wind trocknete meine Tränen, und ich prägte mir ein, wie sie aussah, wenn sie glücklich war. Dann zog ich den Kopf wieder ins Innere, betrachtete das Gesicht meines Vaters und stellte fest, dass auch ihm ein Lächeln um die Lippen spielte, während er gedankenverloren eine Zigarette rauchte und mit einer Hand das Auto steuerte. Sobald das Lied zu Ende war, beugte ich mich vor, um die Kassette zurückzuspulen. Mein Vater fragte: »Warum willst du das Lied eigentlich immer wieder hören, wenn es dich so traurig macht?«
Ich gab erst ihm und dann meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und