Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen. Ava Farmehri

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Название Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen
Автор произведения Ava Farmehri
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960542353



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du eine? Ich schenke sie dir.«

      Ich klatschte begeistert in die Hände, aber meine Mutter, die mit einem Mal ganz bleich geworden war, sagte nein. Es gebe niemanden, der sich um das Tier kümmern könne. Komm jetzt.

      Sofort.

      »Chanum, die Raupe kümmert sich um sich selbst. Setzen Sie sie einfach mit einer Schüssel Wasser und ein paar Blättern in ein großes Glas.«

      Nein.

      Ich stampfte auf und warf mich zu Boden. Das ganze Gewicht des Tages floss aus mir heraus. Ich hörte erst auf zu heulen, als ein Kompromiss gefunden war. Der Mann wies mich an, ihm die Hand hinzuhalten. Dann stupste er die Raupe mit einem zweiten Blatt an, und wir beobachteten, wie sie langsam von einem Finger auf den anderen wechselte, wobei sie sich krümmte wie ein Komma.

      »Ein Schmetterling, es ist ein Schmetterling, meine Kleine.« Er sah meine Mutter an und lächelte.

      Mein Vater, der uns am Tadschrisch-Platz abgesetzt hatte, hatte versprochen, uns wieder abholen zu kommen. Also liefen wir über die Brücke zurück zur Hauptstraße, um dort auf ihn zu warten. Unter uns rauschte der schwarze Fluss vorbei, als hätte er es eilig. Am liebsten hätte ich mich auf die Steinmauer gekniet, so wie meine Mutter sich vorher zum Gebet hingekniet hatte, und gelauscht, wie der Fluss durch die zitternde Nacht pulsierte und einer geschichtsvergessenen Stadt Leben spendete. Ich wollte, dass der Fluss meine Erinnerungen abwusch, dass er mich gründlich einseifte, umdrehte, mich von der anderen Seite einseifte und dann abspülte. Ich wollte, dass er mir dreimal kräftig auf den Rücken klopfte, damit ich meine überbordende Phantasie und all die anderen Dinge, die meine Mutter traurig machten, ausspuckte wie ein Stück Brot, das mir in den falschen Hals geraten war. Meine Mutter hechelte ihrem eigenen Atem hinterher, sog pfeifend die Luft durch die Nase und redete mit sich selbst oder mit mir. Ständig sah sie sich nervös um und murmelte wütend: »Wo ist dein Vater? Wo bleibt er nur? Warum begleitet er uns nie? Ich –«

      Ich begann, ein Lied zu singen, und dachte an die flaumigen Beine der Raupe, die die Landschaft meiner Handfläche überquert hatte.

      »Dieser dreckige Bastard hat mir seinen Finger reingesteckt«, flüsterte meine Mutter dem traurigen Fluss zu. Dann flüsterte sie dasselbe noch einmal der unter Gedächtnisschwund leidenden Nacht zu, weil ich, ihre Tochter, weit weg war, verloren in meinen Träumen.

      Ich sang weiter vor mich hin, melodisch und selbstvergessen.

      Meine Mutter und ich unternahmen eine weitere, allerdings weniger denkwürdige Pilgerreise nach Maschhad im Nordosten von Iran, wo sie im Imam-Reza-Mausoleum weinte und für meine geistige Gesundheit und mein Seelenheil betete. Es war das erste und einzige Mal, das ich den Zug nahm. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden fuhren wir in schaukelnden, rostigen Waggons durch vier verschiedene Jahreszeiten. Berggipfel trugen eine Federboa aus gleißendem Schnee, Blumen glänzten golden in der Sonne, Wolken schwebten am klaren Himmel und folgten unserer frommen Reise wie Fäuste, die sich urplötzlich zusammenballten und Regensplitter aufs Waggondach trommeln ließen, bevor sie langsam davonzogen, um betrunkenen, schläfrigen Göttern als Kissen zu dienen. Vagabundierende Herbstblätter verließen ihre heimischen Baumwipfel und wurden dem Zug von einem sanften Wind ins Gesicht geblasen, und es war, als würden sie um ihre Zukunft trauern.

      Das Mausoleum war voller Menschen, eine ganze Flut von Menschen, die wie Ameisen in einem unterirdischen Bau durcheinanderwimmelten. Meine Mutter nahm mich an die Hand und führte mich durch unzählige Innenhöfe. Ich hatte Mühe, mit ihr Schritt zu halten, weil die blauen und schwarzen Tschadors der Frauen mit ihrem Geruch nach Schweiß und Tränen mein Gesicht streiften. Ich sah mir alles ganz genau an. Ich sah andere Kinder mit verwirrten Augen und rotzverschmierten Gesichtern, sah, dass auch sie am liebsten woanders gewesen wären, und sie blickten mich an und schüttelten stumm den Kopf. Wir verstanden uns wortlos. Ich sah, wie Männer mit Ringen an den haarigen Fingern sich im Schritt kratzten, wie sie mich überragten und Sonnenlicht durch den weißen oder gelblichen Stoff ihrer Hemden schien.

      Alles war golden. Goldene Minarette und eine goldene Kuppel leuchteten über dem goldeingefassten Grab von Imam Reza, dem heiligen Mann, vor dessen Tod die Gazellen gewarnt hatten, indem sie mit den Hufen stampften, und als er an vergifteten Trauben starb, weinten die Tiere, weil er einst eine Artgenossin vor den Pfeilen eines Jägers gerettet hatte. Wir schritten über kalten Marmor, wie Millionen anderer vor uns, und in der Moschee wärmten wir unsere Füße an teuren Teppichen, auf denen Menschen schliefen und beteten und auf Wunder warteten, und die ganze Zeit umgab uns von allen Seiten der penetrante Geruch schuhloser, bestrumpfter Füße. Im Innenraum sah ich hoch zu den Kronleuchtern, die wie funkelnde Diamanten aussahen, meine Geburtssteine. In ebendiesen türkisenen, mit arabischer Kalligraphie verzierten Wänden hatten fromme Männer den Vater des Schahs den »neuen Yazid« genannt und waren Tage später eines gewaltsamen Todes gestorben.

      Auf dem Weg nach draußen segnete mich ein einarmiger Bettler, der als frommer Mann verkleidet auf einer Matte auf dem Boden saß und meine Mutter um Geld bat. Meine Mutter griff in ihre Tasche, zückte ihr Portemonnaie, nahm alle Scheine heraus und drückte sie dem alten Mann in dessen einzige Hand. Münzen klirrten in ihrem Portemonnaie, und sie zog den Reißverschluss auf, holte eine 100-Rial-Münze hervor, zeigte mit einem Finger auf die Rückseite und sagte zu mir: »Hier sind wir, siehst du?« Sie drehte mein Gesicht zu der Moschee und hielt die Münze daneben. »Siehst du es jetzt?« Sie schüttelte mich.

      »Ja«, sagte ich mit schniefender Nase.

      Dann stellte meine Mutter ihre Geldbörse auf den Kopf und leerte den Inhalt auf die Matte des hocherfreuten Bettlers. Die Münzen prallten gegeneinander: pling, pling, pling.

      »Ein Segen ist nicht mit Geld aufzuwiegen«, säuselte der Bettler.

       DRITTES KAPITEL

       1

      In der ersten Woche nach meiner Verhaftung kam niemand außer Dr. Fereydun zu Besuch, doch dann tauchten Onkel Dariusch und sein Sohn Navid im Gefängnis auf und wollten mich sehen. Anfangs waren die drei meine einzigen Besucher, aber ich versuchte, das nicht allzu persönlich zu nehmen. Ich kenne nicht viele Leute, und besonders beliebt bin ich nie gewesen, auch nicht, bevor bekannt wurde, was ich getan habe. Und seien wir mal ehrlich, wer will schon die glückliche Geborgenheit seines Heims verlassen, um einer Mörderin gegenüberzusitzen. Onkel Dariuschs Frau Hilla hatte offenbar zu große Angst, um mich besuchen zu kommen, aber natürlich behauptete er, dass sie nicht in der Stadt wäre. Wo sie hingefahren war, sagte er nicht, deshalb wusste ich, dass er log. Onkel Dariusch gehört zu den Menschen, die einem immer ungefragt ihre komplette Lebensgeschichte erzählen. Er ist durchsichtig wie ein nasses weißes Hemd. Seine Ehrlichkeit ist seine beste und seine schlimmste Eigenschaft, damit hat er sich viele Freunde gemacht und ebenso viele Feinde. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie er es geschafft hat, meinen Vater zu überleben. Und wie er es jetzt schafft, mich zu überleben. Er nimmt nie ein Blatt vor den Mund, geht keinem Streit aus dem Weg, ist strammer Atheist und hasst alles, was mit der arabischen Welt und dem Islam zu tun hat, wie die Pest.

      »Meine Dreifaltigkeit ist tot: Gott, Schah, Vaterland«, hat er oft verkündet. Deshalb wusste ich gleich, dass etwas im Busch war, als er bei seinem Besuch im Gefängnis kaum etwas sagte und ihm die Wörter so schwer über die Lippen kamen, als müsste er sie wie Läuse aus dichtem Haar klauben. Ich war enttäuscht, dass meine Tante nicht mitgekommen war. In meiner Kindheit stand ich ihr sehr nahe, und auch mit meinem Cousin Navid spielte ich oft, wenn sie uns besuchen kamen. Meist jagte ich ihn mit dem Schlauch durch den Garten und brachte sein sorgfältig gegeltes Haar, das er furchtbar wichtig nahm, durcheinander.

      Dann beschwerte Navid sich bei meiner Mutter, strich seine schwarzen Locken glatt und trug neues Gel auf. Anschließend tränkte er ein Handtuch und verfolgte mich durch den Garten. Er wirbelte das nasse Handtuch durch die Luft und klatschte mir damit auf den Po, während ich vor ihm wegrannte und versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Kleine Tropfen flogen durch die Luft, glitzerten in der Sonne wie die Juwelen eines aufgebrochenen Granatapfels, landeten kalt auf meinem