Название | Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen |
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Автор произведения | Ava Farmehri |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960542353 |
»Maman«, sagte ich schläfrig, bevor sie aus dem Zimmer ging und die Tür hinter sich zuzog, »bitte sag Nana, sie soll noch mehr Erdbeermarmelade machen.«
»Schon geschehen, mein Liebling.«
Wenn ich an jene Nacht zurückdenke, weiß ich noch, dass ich, während meine Mutter mir das Schlaflied sang, reglos dalag. Ich lauschte ihrer melancholischen Stimme und genoss ihre hoffnungsvollen Bewegungen und ihren warmen, süßen, nach Minztee duftenden Atem. Ich war völlig gebannt vor Bewunderung. In jener Nacht fragte ich mich, warum meine Mutter mich liebte und warum sie mir verziehen hatte. Wenn ich ihr die Frage gestellt hätte, hätte sie sicher geantwortet, dass sie mich liebe, weil ich ihre Tochter sei. Vielleicht wäre sie auch errötet und hätte nicht gewusst, was sie sagen soll. Aber dann hätte ich an das Gutenachtlied gedacht. Ich war ihr Schicksal, ihre Seelengefährtin, ihre blühende Blume. Ich war ihre liebeskranke Nachtigall.
Als Kind verstand ich nicht, was diese Worte wirklich bedeuteten, aber für mich waren sie das Schönste von der Welt, weil meine Mutter sie täglich zu mir sagte. Sie waren das Schönste von der Welt, und die wenigen Minuten, wenn ich vor dem Schlafengehen der Stimme meiner Mutter lauschte, waren unser gemeinsames Gebet.
Liebte sie mich, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte? Umarmte sie mich deshalb jeden Abend? Die Menschen tun so viel aus schlechtem Gewissen! Sie würden alles tun. Ich nutzte ihre Schuldgefühle zu meinem Vorteil, hatte aber keine Ahnung, wie und warum das funktionierte.
Als ich am nächsten Tag aufwachte, stellte ich fest, dass mein Vater ein großes Paket Windeln und einen blauen Plastiküberzug für meine Matratze gekauft hatte.
2
Eine Woche vor meinem Malheur hatte ich vor dem Schokoladenregal gestanden, während mein Vater an der Kasse mit Agha Ali redete, dem freundlichen Ladenbesitzer, der mir immer eine Flasche Parsi-Cola schenkte, wenn er mich schwitzend auf der Straße spielen sah. Sie unterhielten sich über Agha Alis Khodro Samand, der am Abend vorher aufgebrochen worden war. Der Wagen war sein ganzer Stolz, und alles, was herausnehmbar und wegtragbar war, einschließlich des Fahrer- und Beifahrersitzes, war gestohlen worden: das Radio, der Motor, die Scheibenwischer, die Seitenspiegel, der Rückspiegel und sogar der Duft-Tannenbaum am Rückspiegel. Alles weg! Die Diebe hatten die Türen von außen mit einem Schlüssel zerkratzt und die Innenverkleidung mit einem Messer aufgeschlitzt. Sie hatten die Scheinwerfer zertrümmert. Sie hatten alle vier Reifen zerstochen, aber erst, nachdem sie das Auto die Straße hinuntergeschoben hatten, weg von Agha Alis Haus, zu einer Stelle, wo sie ihrem schändlichen Tun ungestört nachgehen konnten. Agha Ali war außer sich, er schüttelte den Kopf, rieb sich die Stirn, schimpfte lauthals auf die Diebe, die seinen geliebten Samand geschändet hätten, und tat seine Meinung darüber kund, was die gerechte Strafe für dieses Pack wäre.
»Man sollte ihnen die Nasen abschneiden, damit sie ihr weißes Pulver nicht mehr schnupfen können. Nur deswegen klauen sie Autos!«
Um ihn zu trösten, sagte mein Vater, die Polizei sei auf der Suche nach den Übeltätern und außerdem besitze einer seiner Freunde eine Autowerkstatt und werde ihm einen guten Preis machen, falls er Ersatzteile oder einen neuen Gebrauchtwagen kaufen wolle.
Die glänzende Verpackung einer Tafel Milchschokolade war aufgerissen, und eine Ecke schaute hervor. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich mir vorstellte, wie der weiche braune Klumpen auf meiner Zunge schmolz. Während die Männer in ihr Gespräch vertieft waren, tat ich nichts weiter, als das zu vollenden, was jemand anders begonnen hatte: Ich streckte die Hand aus, brach ein verlockendes Schokoladenstück ab und zog es aus der dünnen Aluminiumfolie. Doch noch bevor ich es in meinem Mund verschwinden lassen konnte, warfen beide Männer ruckartig den Kopf herum und sahen mich stirnrunzelnd an. Vier misstrauische und peinlich berührte Augen starrten mich an. Sie vermehrten sich, bis überall im Laden Augen schwebten, die mich strafend ansahen. Ich erstarrte, das Schokoladenstück in der Hand, auf halbem Weg zu meinem geöffneten Mund.
»Die Schokolode war offen, ammu Ali. Be choda, sie war offen!«
Mein Vater räusperte sich und begann so laut zu atmen, dass ich trotz der Entfernung die Luft durch seine Lungen rauschen hörte. »Sheyda dschan, wir essen keine Dinge, für die wir noch nicht bezahlt haben«, sagte er mit beherrschter Stimme, jede einzelne Silbe betonend.
Ich blickte zu Agha Ali, der mich verständnisvoll anlächelte und gleichzeitig darüber nachzudenken schien, was er sagen sollte.
Meine Eltern hatten mir einmal erzählt, dass einem, wenn man die Unwahrheit sagt, die Stirn knallrot anläuft und in Leuchtschrift das Wort »Lügner« darauf erscheint. Von da an trug ich das Haar offen und versteckte meine Stirn hinter einem schützenden Pony, der mir, selbst wenn ich ein Kopftuch trug, ins Gesicht fiel.
»Ich wollte nicht –«, stammelte ich. Doch ich beendete den Satz nicht, sondern strich stattdessen mein Haar beiseite und rief: »Seht! Seht her! Ich sage die Wahrheit.«
Die beiden Erwachsenen blickten einander überrascht an, vielleicht auch ein wenig belustigt von meinem theatralischen Auftritt.
Das Stück Schokolade, das in meiner schwitzigen Hand zu schmelzen begonnen hatte, fiel zu Boden.
Ich blickte fassungslos auf meine unschuldige Beute und sah für einen kurzen Moment unzählige Splitter in alle Richtungen davonstieben wie hungrige Ameisen, die sich mit allem, was sie tragen konnten, davonmachten und sich unter Regalen, staubigen Teppichen und in Abflüssen verkrochen.
Ich hätte mich am liebsten auch verkrochen. Also ließ ich mich wie ein Stein zu Boden fallen. Ich landete auf dem Gesicht und gab keinen Ton von mir, nicht mal ein »Aua«. Ich lag ganz still da, atmete und wartete, dass mein Vater wegging, wartete, dass ich aus dieser peinlichen Situation erwachte, wartete, dass jemand in den Laden kam und die beiden Männer ablenkte, damit ich mich hinausschleichen und nach Hause rennen konnte. Ich lag da und wartete, dass auch ich in tausend Splitter zersprang und verschwand.
Agha Ali und mein Vater kamen angelaufen. Agha Ali zog mich hoch und legte mir die Hände auf die Schultern. »Alles in Ordnung, Sheyda chanum. Alles in Ordnung, asisam. Du kannst die Tafel Schokolade mit nach Hause nehmen. Ist doch nur ein dummes Stück Schokolade, mein Kind. Komm, nimm noch mehr Schokolade mit nach Hause, schließlich ist heute Shab-e Yalda, Wintersonnenwende, und wir alle haben einen Haufen Süßigkeiten verdient.«
Mein Vater drehte mich herum, um sich mein Gesicht anzusehen, und wischte mir mit dem Daumen zwei Blutstropfen von der Unterlippe. Dann schob er mir die Lippen auseinander, als wäre ich ein Pferd, dessen Gesundheit er überprüfen wollte, untersuchte mein Zahnfleisch und vergewisserte sich, dass kein Zahn abgebrochen war.
Nachdem er festgestellt hatte, dass alles in Ordnung war, ließ er mich los.
Ich schaute nach rechts und nach links wie ein Muslim nach dem Gebet, erst zu Agha Ali, der leicht lächelte und mir eine Tafel Schokolade hinstreckte, dann zu meinem Vater, der ganz und gar nicht lächelte.
Ich brüllte meinen Vater an: »Be choda, die Schokolade war schon offen.« Dann stürmte ich mit flatterndem Kopftuch aus dem Laden. An der Straßenecke blieb ich stehen.
Was soll ich sagen, er glaubte mir nicht. Das Einzige, was mein Vater zu mir sagte, als er an der viel befahrenen Kreuzung ankam, war, dass er mich streng bestrafen würde, sollte ich jemals wieder etwas stehlen. Wir gingen zusammen zurück nach Hause. Ich trug die Plastiktüte voller Schokolade und anderer nutzloser Dinge, die mein Vater aus Scham gekauft hatte, als Entschuldigung für mein Fehlverhalten.
»Ich dulde keine Diebe unter meinem Dach, verstanden?«
Er zerrte unsanft an meinem schmalen Körper, als er mir half, die Straße zu überqueren und über die Bäche zu springen, die durch die Rinnsteine liefen.
Was mir mein Vater leider nicht erklärte, war, wen ich um Erlaubnis fragen sollte, bevor ich etwas nahm. Das erklärte mir erst meine Mutter nach dem Vorfall mit der schwarzen Katze