Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen. Ava Farmehri

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Название Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen
Автор произведения Ava Farmehri
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783960542353



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Porroya hinterlässt einen Teddybär, der auch ihr Zellengenosse war, eine treue Stoffpuppe namens Laleh, ein Universum, das für niemanden auch nur einen Moment innehält, und viele wunderschöne unsterbliche Träume.

       ZWEITES KAPITEL

       1

      »Dann ist sie eben etwas seltsam. Jedes Kind ist anders!«, sagte meine Kinderärztin. Sie gab mir einen Lutscher, und ich wickelte ihn aus und schob ihn mir in den Mund. Das orange Papier warf ich auf den Boden. Mein Vater beugte sich vor, hob es auf und bedachte mich mit einem missbilligenden Blick, den ich ignorierte. Stattdessen sah ich aus dem Fenster. Draußen stand ein Apfelbaum, der aussah wie gekreuzigt. Oder wie der Buchstabe T. Seine Äste bogen sich unter der Last reifer Früchte, der Rasen war mit verfaulten Äpfeln übersät. Ich saß zwischen meinem Vater und meiner Mutter auf einer hellbraunen Ledercouch, die nach Kleinkindkotze stank. Meine Eltern blickten sich an und wussten nicht, was sie sagen sollten. Schließlich fragte Dr. Vafa, wohl aus professionellem Pflichtgefühl oder aus dem Bedürfnis, ihre Patienten zu beruhigen: »Worum geht es denn? Imaginäre Freunde? Angst im Dunkeln?«

      Ich schenkte Dr. Vafa ein Lächeln und ersetzte ihren Anblick dann wieder durch das T, das seine blutigen Arme beschwörend gen Himmel reckte. Ich stand auf und wollte gehen, aber mein Vater zog mich zurück auf die Couch. »Setz dich.«

      Ich gehorchte.

      Mein Vater räusperte sich. »Nein, es geht um etwas Ernsteres.« Er warf meiner Mutter einen Seitenblick zu, aber sie saß nur zurückgelehnt auf der Couch und starrte ausdruckslos auf das Gemälde an der Wand gegenüber. Das Bild in dem kostbaren geschnitzten Holzrahmen zeigte eine Gruppe schmaläugiger Jäger mit Turbanen, die eine Löwin mit Speeren durchbohrten. Vielleicht hatte meine Mutter Mitleid mit dem verwundeten Tier und wünschte, sie könnte sich zwischen die blutrünstigen Jäger und die Löwin werfen und den Männern, indem sie die Speere in ihr eigenes Fleisch eindringen ließe, zeigen, dass sie die wahren Tiere waren. Ich weiß es nicht, aber meine Mutter stierte auf das Gemälde, als wollte sie seine ganze Grausamkeit in sich aufnehmen. Als wäre das Gemälde der einzige Grund, warum wir in diesem kühlen Zimmer saßen. Ihr Haar, das sie sich zu Hause oft um den Finger wickelte, ihr Haar, auf dessen Spitzen sie gern herumkaute, war von einem schwarzen, lose gebundenen Kopftuch verhüllt.

      Da meine Mutter weiter beharrlich schwieg, blieb meinem Vater nichts übrig, als verschämt zu murmeln: »Unsere Tochter ist sieben Jahre alt und macht immer noch ins Bett, und sie –« Er starrte beschämt zu Boden und warf meiner Mutter wieder einen Blick zu: »Aresu, vielleicht solltest du es ihr erklären. Sag doch auch mal was.« Meine Mutter erwachte aus ihrer Trance und drehte sich halb zu meinem Vater um, der sich müde die Augen rieb. An seinem Mittelfinger prangte der schwere Silberring mit dem gelben Edelstein.

      Dr. Vafa klappte den Mund auf, aber bevor sie etwas sagen konnte, ergriff meine Mutter das Wort: »Sheyda dschan«, sagte sie und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, »warum gehst du nicht nach draußen und spielst ein bisschen, bis Papa und ich hier fertig sind?«

      Ich sprang auf und wollte zur Tür laufen, aber sie packte mich am Ellbogen, griff nach meinem Kinn und zog mein Gesicht dicht an ihres heran. Der Lutscher, den ich immer noch im Mund hatte, schlug klackernd gegen meine Zähne. »Bleib von der Straße weg und sprich nicht mit Fremden.« Dann küsste sie mich auf die Wange und wischte die braune Lippenstiftspur mit dem Daumen ab.

      Ich nickte und rannte nach draußen.

      Dort stand ich unter dem Baum, berührte sein Rückgrat und blickte hoch zu einem knallroten Apfel, der weit oben an einem Ast hing. Mit in den Nacken gelegtem Kopf überlegte ich, wie ich am besten an dem Stamm hochkäme, wo ich die Füße hinsetzen und an welchen Ästen ich mich festhalten musste. Nach drei gescheiterten Versuchen ließ ich mich ins Gras fallen, das vom Dauerregen am Vormittag noch feucht war, und lehnte meinen Rücken an den Stamm. Ich atmete angriffslustig, wickelte mir Grashalme um den Finger und kaute auf dem Rest meines Lutschers herum, der zerbröselte und nach Pappe zu schmecken begann. Der widerlich süße Geruch verfaulter Äpfel vernebelte mir den Kopf, und ich musste mich aus diesem Dämmerzustand befreien, bevor er mich ganz und gar überwältigte. Ich reckte den Hals und beschwor den Apfel, versuchte, ihn zum Herunterfallen zu überreden, sang ihm die Lieder vor, mit denen meine Mutter mich abends in den Schlaf wiegte, versprach, ihn niemals zu essen, und beteuerte gleich darauf, ich würde ihn mit der allergrößten Zärtlichkeit verspeisen.

      Geduldig wartete ich auf ein Wunder, so geduldig, wie ich es den Rest meines Lebens tun würde. Ich wartete darauf, dass mich jemand rettete und mir die Lösung auf dem Silbertablett servierte. Irgendwann fand ich, dass es Zeit für einen Kompromiss war. Ich stand auf und suchte das Schlachtfeld nach einer Apfelleiche ab, die einigermaßen intakt aussah, so als würde sie höchstens leichten Durchfall verursachen. Als ich meine Beute aufhob, spürte ich, dass die verborgene Seite matschig war. Meine Finger glitten über die klebrige braune Haut und drangen tief in die überreife Feuchte ein. Ich schloss die Augen und biss sehnsüchtig in den Apfel. Süßer Saft rann mir über die Zunge, und ich sog ihn mit lautem Schlürfen ein, woraufhin die Frucht an meinen Lippen kleben blieb.

      Als ich den Bissen gerade herunterschlucken wollte, spürte ich an meinen Lippen einen Wurm, ungefähr so groß wie der kleine Finger eines Babys. Er versuchte verzweifelt, sich zu retten, indem er in das nächstbeste warme Loch kroch: meinen Mund. Hastig spuckte ich mehrmals aus, wischte mir wütend über den Mund und rieb mir die Zunge mit dem Ärmel meines Pullovers ab. Vorher hatte ich allerdings noch auf den Wurm gebissen und die Bitterkeit seines gallertartigen Körpers geschmeckt. Apfelwürmer schmecken nach Eiter. Keine Ahnung, wie andere Würmer schmecken, aber Apfelwürmer schmecken nach Eiter.

      Meine Eltern brauchten zu lang.

      Bei unserer Ankunft hatte ein Junge mit blauen Augen auf dem Bürgersteig gesessen und Prophezeiungen des Dichters Hafis verkauft. Er hatte einen gelbgrünen Sittich dabei, der auf einem Stapel aus verschiedenfarbigen, zu kleinen Umschlägen gefalteten Blättern thronte. Auf jedem Blatt stand ein fal, ein Gedicht, das den Erfolg oder das Scheitern deiner niya, deiner Absicht, vorhersagte. Es war Aufgabe des Sittichs, einen Umschlag auszuwählen. Die ganze Zeit, während ich erst vergeblich versucht hatte, auf den Baum zu klettern, und dann vergeblich versucht hatte, den Apfel zu verhexen und zum Runterfallen zu bewegen, hatte mich der Junge beobachtet. Seine Blicke hatten mich angestachelt, es noch beharrlicher zu versuchen, seinetwegen hatte ich den Apfel noch heftiger begehrt. In dieser Hinsicht war ich wie meine Mutter. Nicht wie meine Mutter Aresu, sondern wie unser aller Urmutter: Eva. Ich wollte unbedingt das Gesicht wahren. Deshalb stand ich auf, nahm einen großen Stein, zielte sorgfältig und schleuderte den Stein mit aller Kraft in Richtung des Apfels. Wieder und wieder verfehlte ich mein Ziel. Schließlich kam der Junge näher, seinen Sittich auf der einen Hand, seine lyrische Einkommensquelle in der anderen.

      »Wo sind deine Eltern?«, fragte er.

      Ich vermied es krampfhaft, den Vogel anzusehen, starrte weiter hoch zu dem Apfel und gab keine Antwort.

      »Wo sind sie? Noch da drinnen? Bist du stumm oder was?« Der Sittich knabberte an den Fingern des Jungen, tippelte dann zielstrebig seinen Arm hoch und setzte sich auf seine Schulter. Ich schwieg.

      »Wenn du es mir sagst, hole ich dir den Apfel vom Baum«, sagte er mit einem dümmlichen Grinsen, bei dem er einen abgebrochenen Schneidezahn entblößte. Ich gab mich geschlagen und zeigte auf Dr. Vafas Praxis, die sich im Erdgeschoss des angrenzenden Hauses befand.

      »Du musst lernen, wie man auf einen Baum klettert. Welchen Apfel willst du denn? Ich hole ihn dir. Aber du musst in der Zwischenzeit auf meinen Vogel aufpassen, damit ihn niemand klaut. Übrigens, du darfst nie die Blätter von einem Apfelbaum oder die Kerne essen.«

      »Warum nicht?«

      »Weil du dann stirbst.«

      Noch bevor ich ihm den Apfel zeigen konnte, schob er seine Tageseinnahmen in die Brusttasche seines Hemdes und überreichte mir den Karton mit den Gedichten. Dann forderte er den Sittich mit einem Pfiff dazu auf, auf meine angststarre