Название | Im düstern Wald werden unsre Leiber hängen |
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Автор произведения | Ava Farmehri |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960542353 |
Ich genoss es, wenn Navid geschlagen wurde. Trotzdem glaube ich nicht, dass sich meine sadistische Ader gegen ihn persönlich richtete. Ich habe nichts gegen den armen Jungen, der in unserer Kindheit mindestens genauso unter meinen Streichen gelitten hat wie ich unter seinen. Nein, meine Genugtuung betrifft das ganze männliche Geschlecht und geht sehr viel tiefer als jugendlicher Sadismus und Rachegelüste. Meine Verachtung und meine gemischten Gefühle gegenüber Männern habe ich von meiner Mutter geerbt. Wieder Eva, nicht Aresu.
Mit Navid erlebte ich meinen ersten Kuss, und er ist der Beweis, dass Liebe und Gewalt untrennbar miteinander verbunden sind. Man kann nur jemanden, den man liebt, ernsthaft verletzen. Um einen Menschen zu verletzen, um ihm einen irreparablen Schaden zufügen zu können, musst du ihn lieben. Und damit der Schaden dauerhaft ist, muss dein Opfer dich ebenfalls lieben. Wer liebt, wird zwangsläufig bestraft, denn die Liebe trägt ihre eigene Strafe auf der Schulter wie einen siamesischen Zwilling.
Tante Hilla ergriff immer Partei für mich, und die Tatsache, dass sie sich auf meine Seite schlug, machte mir Mut. Dank ihr war ich stolz, eine Frau zu sein. Ich fand es seltsam, dass sie mich nicht im Gefängnis besuchen kam. Was hatte ich ihr bloß getan? Wovor hatte sie Angst? Ihr Sohn und ihr Mann hätten sie begleitet, außerdem trug ich Handschellen. Hunderte von Augen wären auf mich gerichtet gewesen, und abgesehen davon töte ich nur Menschen, die ich liebe. Und so nett Tante Hilla auch ist, zu sagen, dass ich sie liebe, wäre gelogen. Aber sie hatte meiner Mutter nahegestanden. Vielleicht hätte sie einen Besuch bei mir als Verrat empfunden.
Navid saß stumm neben seinem Vater. Er sagte kein Wort, nickte nur bei Onkel Dariuschs Fragen oder schüttelte bei meinen Antworten den Kopf. Ich weiß nicht, ob er schockiert war oder Angst vor mir hatte. Vielleicht glaubte er zu träumen, und sein Traum wurde nach und nach zu einem Albtraum. Er starrte mit leerem Blick auf den Tisch zwischen uns, während mein Onkel redete. Dann legte er die Hände vor sich auf den Tisch, immer noch mit demselben leeren Blick, als hätte er noch nie Hände oder einen Tisch oder einen Stuhl gesehen. Als Nächstes hielt er sich die Handflächen vors Gesicht und bewegte sie vor und zurück. Einen Moment lang glaubte ich, meine Dunkelheit wäre ansteckend. Am liebsten hätte ich ihm geraten, bis Mitternacht zu warten und seine Hände dann dem Mond entgegenzustrecken, denn der Mond würde ihm alles, was er sehen musste, in seinem silbernen Licht zeigen. So wie er es mir gezeigt hatte.
Onkel Dariusch fragte, wie es mir gehe.
Gut.
Er fragte mich, warum ich es getan hätte, und ich sagte, dass ich es einfach hätte tun müssen.
Warum?
Weil es nicht anders ging, und weil es das Richtige war, der einzige Ausweg.
Fühlst du dich allein?
Ein bisschen.
Hast du Angst?
Wovor?
Vor dem, was dich erwartet?
Warum? Was erwartet mich denn?
Na ja, vielleicht wirst du den Rest deines Lebens im Gefängnis verbringen. Macht dir das keine Angst?
Doch.
Und was ist mit dem Tod? Hast du Angst vor dem Tod?
Nein.
Bereust du deine Tat?
Nein.
Brauchst du irgendwas? Sollen wir dir beim nächsten Mal was mitbringen?
Nur eine Uhr und ein Foto vom Himmel.
Eine Uhr?!
Ja, und ein Foto vom wolkenlosen Himmel!
Onkel Dariusch schüttelte den Kopf, leckte sich über seinen spröden Schnurrbart und bedeutete Navid aufzustehen.
Pass auf dich auf, sagte er. Wir werden für dich beten.
Ich hätte gern gesagt, dass das nicht nötig war, aber ich schwieg. Mein atheistischer Onkel wollte für mich beten. Es geschehen noch Zeichen und Wunder.
Als im Iran-Irak-Krieg Väter und Söhne vom Busen weinender Ehefrauen und Mütter gerissen wurden, um die Ehre ihres Landes zu verteidigen, war mein Cousin Navid vierzehn Jahre alt. Ich weiß noch, wie er sich in unserem Haus versteckte und tagelang weinte, weil die schmutzstarrenden Jungs aus der Nachbarschaft, mit denen er immer auf der Straße spielte, nachts aus ihren Häusern geholt und an die Front geschickt wurden. Onkel Dariusch, der wusste, dass sein Sohn als Nächstes an der Reihe sein würde, kaufte für Navid und Hilla zwei Fahrkarten nach Syrien. Er beschloss zu bleiben, weil er seinen Laden im Basar nicht aufgeben wollte. Er bat seine Frau, im Sayyida-Zainab-Mausoleum in Damaskus für ihn und für Iran zu beten. Nach neun Monaten kam Tante Hilla zurück, ohne die einzige Bitte, die ihr Mann ihr mit auf den Weg gegeben hatte, erfüllt zu haben. Sie sagte: »Ich habe vergessen, wie man betet.« Woraufhin Onkel Dariusch gleichmütig antwortete: »Macht nichts. Die Zeiten, in denen uns Gebete geholfen hätten, sind vorbei. Hilla dschan, meine Dreifaltigkeit ist tot.«
Nach meiner Urteilsverkündung rechnete ich mit weiteren Besuchen, aber ich bekam meinen Onkel und Navid zwei Wochen lang nicht zu Gesicht. Und eine Uhr oder ein Foto vom Himmel brachten sie mir auch nicht.
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