Als Jakob vom Himmel fiel. Peter Fuhl

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Название Als Jakob vom Himmel fiel
Автор произведения Peter Fuhl
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347114470



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war Jakob an der Reihe.

      „ABC-Alarm! Gummifotze raus!“

      Jakob nahm die Maske aus der ABC-Tasche und sinnierte kurz darüber, warum dieses Teil mit Sichtscheiben und Atemfilter wohl „Gummifotze“ genannt wurde. Es war unbehaart, trocken, grün und schien bei weitem nicht den gewohnten Komfort zu bieten. Aber jetzt war ein schlechter Zeitpunkt für einen philosophischen Diskurs.

      „Schlaf nicht ein und hau endlich ab!“, brüllte Fhj Berger ungeduldig.

      Jakob verwandelte sich schnell in einen Rüsselkäfer und rannte los.

      Sobald er die ersten beiden Nebeltöpfe passiert hatte, wurde es schwierig. Überall war Rauch. Weißer Rauch, gelber Rauch, schwarzer Rauch. Mal mehr, mal weniger. Er strömte aus den Nebeltöpfen, verbreitete sich schnell und baute sich mächtig auf. Dutzende von Flaschengeistern entflohen mit einem dunklen Zischen gleichzeitig ihren Wunderlampen und ein leichter Wind verschmolz sie schon nach wenigen Metern zu riesigen Rauchwolken, die alles in sich verschluckten. Sie erfüllten keine Wünsche, sondern nahmen den Rüsselkäfern nur die Sicht.

      Jakob musste sich immer wieder neu orientieren, da das Blickfeld auch noch wegen der Sichtscheiben eingeschränkt war. Der Kopf musste beim Laufen ständig bewegt werden, um die Umgebung einigermaßen erfassen zu können. Kam er einer der Wunderlampen zu nahe, umarmte ihn ihr Geist und machte Jakob und alles um ihn herum unsichtbar.

      Die Herbstsonne bestrahlte das Ganze mit goldfarbenem Licht und verwandelte das Treiben unter sich in ein surreales Theaterstück. Überall tauchten Rüsselkäfer mit Gewehren im Rauch auf und verschwanden wieder. Rannten in das Zelt und auf der anderen Seite wieder hinaus ins Freie.

      Die Sonne betrachtete eine Weile das Spektakel, lachte dann und schüttelte ihre Scheibe. Die Temperatur am Boden stieg abrupt um mehrere Grad an.

      Bald machte sich die körperliche Anstrengung bemerkbar.

      Die Momente, in denen Jakob kurz stehenblieb und sich neu orientierte, wurden länger. Er hörte wie seine Lungenflügel pfeifend verbrauchte Luft durch den Maskenfilter pressten und sofort wieder neue Luft einsaugten. Sein Herz trommelte und gab ihnen den Takt vor. Zweimal konnte er gerade noch einen Zusammenstoß mit anderen Rüsselkäfern vermeiden, da einige völlig orientierungslos umherrannten.

      Als er das dritte Mal in das Zelt lief, ging er drei Schritte neben dem Eingang in die Hocke. Der Gummi der Gasmaske klebte unangenehm auf seiner verschwitzten Haut. Die Sicht betrug keine zwei Meter und es war im Zelt noch heißer als draußen. Aber hier konnte er sich und seine unter Sauerstoffmangel klebrig gewordenen Gedanken sammeln. Hier brüllte ihn niemand an, dass er weiterlaufen soll und niemand würde ihn hier suchen. Der Ort war perfekt.

      Nicht einmal Darth Vader, der keine zwei Meter entfernt in großen Schritten an Jakob vorbeistiefelte, bemerkte ihn.

      Allmählich beruhigte sich sein Puls. Seine Atmung wurde langsamer und gleichmäßiger. Er nahm sein G3 zwischen die Beine, lehnte sich mit dem Helm gegen den Lauf und starrte durch die Sichtscheiben seiner Maske auf den Boden, wo ein echter Rüsselkäfer ihm einen Vogel zeigte und kopfschüttelnd weiterlief.

      Ein akustisches Signal beendete schließlich die Übung und alle gingen am Sanka vorbei auf eine Wiese zum Antreten. Einer wollte Helm und Maske abnehmen und bekam sofort einen Anschiss. Jakob war der Letzte. Er sah sich noch einmal kurz um. Aus dem Zelt und über dem Boden strichen traurige Rauchschwaden umher und lösten sich nach einigen Metern auf. Als ob die US-Kavallerie gerade eine Indianerfamilie besucht hätte.

      Endlich durften die ABC-Masken abgenommen werden. Nasen und Münder wurden von ihren grünen Gefängnissen aus Gummi befreit.

      Die Rüsselkäfer wurden wieder zu menschlichen Wesen.

      „Einer wurde abgelöst“, flüsterte Harry. „Er hat während der Übung die Gummifotze abgenommen und wollte nicht mehr mitspielen.“

      Es war nicht das erste Mal, dass jemand abgelöst worden war. Auch auf Rolands Stube hatte es schon einen Wechsel gegeben. Diese Vorgänge fanden still und leise statt. Wer abgelöst wurde, verschwand einfach. Aus Scham. Die anderen nahmen es lediglich zur Kenntnis. Man war mit sich selbst beschäftigt. Mit Blasen, mit blauen Flecken, mit Prellungen. Mit Schlafmangel und der Angst, es selbst nicht zu schaffen. Der Ausleseprozess hatte begonnen …

      Plötzlich waren ein Bett und ein Spind leer und ein neuer Rekrut stand in der Stube.

      „Rührt euch! Wegtreten!“, brüllte der Schallplattendieb. Ein lautes „HURRA!“ schallte ihm entgegen und im Laufschritt ging es zur Kantine.

       7. Gäb es nur eine Krone

      Nach einem hastig hineingewürgten Mittagessen, war die 5. Kompanie wieder angetreten. Diesmal auf dem Exerzierplatz. Marschieren mit Gesang stand auf dem Programm. Der Schallplattendieb kam, nahm die Meldung entgegen, grüßte und ging mit einem Gesicht, als ob er etwas ganz Wichtiges zu erledigen hätte, zum Kompaniegebäude zurück. Der Spieß übernahm das Kommando und legte sofort los.

      In den ersten beiden Reihen waren nur Fahnenjunker und Fähnriche sowie der Leutnant, der die Wahl zum Vertrauensmann durchgeführt hatte. Dahinter folgten die Mannschaftsdienstgrade.

      „Im Gleichschritt -MARSCH! LINKS, ZWO, DREI …“, brüllte der Spieß und gab das Schritttempo vor. Die Formation setzte sich in Bewegung und war schon nach wenigen Metern nicht mehr als solche zu erkennen. Man trat sich gegenseitig auf die Hacken, einige Reihen fielen auseinander, Rudel bildeten sich.

      „Abteilung -HALT!!“

      Jeder blieb augenblicklich stehen, wo er gerade war. Der Spieß war mit dem Resultat sichtlich zufrieden.

      „So, jetzt sehen Sie sich mal um. Und? Wissen Sie, wie man das in Fachkreisen nennt? Einen SAUHAUFEN!!“

      Sofort schwärmten die Unteroffiziere aus und sammelten ihre Gruppen. Die Kompanie löste sich auf und es wurde jetzt in kleineren Formationen zu je zwölf Mann exerziert. Nach gut einer Stunde war es dann soweit und man hatte die Abstände verinnerlicht. Man marschierte ohne sich krampfhaft auf seinen Vordermann zu konzentrieren und ständig nach rechts und links zu schielen. Alles passte und Fhj Berger gab „Feuer frei“ für eine Zigarettenpause.

      Nach einer weiteren Stunde ging es auch elegant um die Kurven. Sowohl nach links als auch nach rechts. Die anderen Gruppen brauchten dafür wesentlich länger. Denn was auf den ersten Blick eigentlich einfach aussieht, ist in Wirklichkeit eine choreographische Meisterleistung.

      Der Knackpunkt ist nämlich die Geschwindigkeit, die bei jedem einzelnen unterschiedlich ist. Die Person ganz außen muss sich dabei am schnellsten bewegen und der Soldat ganz innen in der Kurve am langsamsten. Er tritt fast auf der Stelle. Und alle marschieren so, dass eine gerade Linie entsteht, die sich auch in der Bewegung fortsetzt. Dass die Schrittfolge gleichfalls perfekt abgestimmt sein muss, versteht sich von selbst.

      Es ist ein uraltes Problem, das Synchronschwimmerinnen mit Fallschirmjägern teilen.

      Fhj Berger war mit seiner Gruppe mehr als zufrieden, gab „Feuer frei“ und wieder durfte ein Lungenbrötchen verzehrt werden, während man den anderen beim Exerzieren zusah.

      Nachdem man anschließend in Kompaniestärke den Platz noch dreimal umrundet hatte, fand der Spieß, dass es an der Zeit wäre, den musikalischen Teil des Programms miteinzubeziehen. Das Repertoire bestand zwar nur aus einem einzigen Lied, aber es handelte sich dabei immerhin um das altehrwürdige Traditionslied der deutschen Infanterie „Gäb es nur eine Krone“.

      Zu Übungszwecken marschierten jetzt in der ersten und in der letzten Reihe die Unteroffiziere. Der Spieß wünschte sich mit einem lauten „Männer -EIN LIED!“ ein ebensolches und das Codewort „Krone“ verbreitete sich wie ein Lauffeuer in den Reihen, bis es hinten beim letzten Mann angekommen war. Der schrie dann laut „LIEEED DURCH!“, der Spieß zählte „Zwo, drei, vier“ und aus voller Kehle wurde gesungen.

      „Gäb es nur eine Krooone

      Wohlan, ich schenkte sieee,

      der