Als Jakob vom Himmel fiel. Peter Fuhl

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Название Als Jakob vom Himmel fiel
Автор произведения Peter Fuhl
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347114470



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furzte, konnte man kein Fenster aufmachen. Nee. Panzergrenadier? Grübel. Luftlandetruppe.

      Er ging noch einmal alles durch. Sein Auge blieb hängen. Luftlandetruppe. Fallschirmjäger. Er kreuzte an.

      Es dauerte noch ein paar Minuten, bis er aufgerufen und ins gegenüberliegende Zimmer geführt wurde. Dort saßen zwei Uniformierte und ein Militärarzt hinter zwei zusammengeschobenen Tischen. An der Wand hing eine große schwarzrotgoldene Fahne mit Bundesadler. Der Soldat, der ihn ins Zimmer führte, nahm ihm das Formular aus der Hand und legte es zu Jakobs Mappe, die vor den Uniformierten auf dem Tisch lag. Dann zeigte er kurz mit ausgestrecktem Arm auf einen Stuhl, der in der Mitte des Zimmer stand, verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich.

      Eine gefühlte Ewigkeit saß Jakob mutterseelenallein auf dem Stuhl, während die drei Männer vor ihm seine Mappe studierten. Nur das Rascheln von Papier war zu hören.

      „Bei der spanischen Inquisition muss es ähnliche Szenen gegeben haben“, dachte sich Jakob und war beruhigt, da er ja nicht als Ketzer verbrannt, sondern nur im Falle eines Krieges als Wehrpflichtiger verheizt werden sollte.

      Endlich räusperte sich jemand. Sechs Augenpaare waren auf ihn gerichtet und ein Mund mit Oberlippenbart begann langsam zu sprechen.

      „Beabsichtigen Sie den Wehrdienst zu verweigern?“

      „Nein“, klang es schüchtern aus der Mitte des Zimmers.

      „Gut. Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen, das Sie uns gerne mitteilen möchten?“

      „Nein.“

      „Dann sind Sie hiermit entlassen. Danke für Ihr Kommen. Sie werden von uns hören.“

      Als Jakob am Abend ins Wohnzimmer ging, lief gerade die Tagesschau. Seine Mutter lächelte ihn kurz an und nickte ihm zu. Sein Vater saß mit einem Bier in der Hand auf dem Sofa und starrte höchst konzentriert mit einem Ich-will-jetzt-nicht-gestört-werden-Blick Richtung Bildschirm. Der Nachrichtensprecher berichtete, dass der PLO-Chef Jasir Arafat aus Syrien ausgewiesen wurde und im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg anlässlich des Luther-Jahres die Ausstellung „Martin Luther und die Reformation in Deutschland“ eröffnet wurde.

      Seine Musterung interessierte kein Schwein.

       3. Silberkordel

      Auf das Kreiswehrersatzamt war Verlass.

      „Sie werden von uns hören“ waren die letzten Worte des Oberlippenbartträgers gewesen und tatsächlich lag nach zwei Jahren ein Einberufungsbescheid im Briefkasten.

      Die Fleischbeschau und das anschließende Vorstellungsgespräch mussten demnach -obwohl Jakob nur zwei Worte, nämlich zweimal „Nein“ gesagt hatte -erfolgreich gewesen sein. Sehr erfolgreich sogar. Denn der Einberufungsbescheid war weitaus höflicher als die damalige schroffe Aufforderung zu Musterung.

      „Sehr geehrter Herr!“, stand darauf. „Nach dem Musterbescheid vom 18.07.1983 stehen Sie für den Grundwehrdienst zur Verfügung. Sie werden gebeten, sich am

      01.10.1985 bis 18: 00 Uhr bei 5./Fallschirmjägerbataillon 251 in Calw, Graf-Zeppelin-Kaserne zum Dienstantritt zu stellen. Mit dem Betreten der Kaserne bzw. mit Eintreffen beim Sammeltransport, spätestens aber zum obengenannten Zeitpunkt beginnt gemäß §2 des Soldatengesetzes Ihr Wehrdienstverhältnis als Soldat.“

      Es folgten noch ein paar Drohungen, falls man die Einladung ausschlagen sollte, eine Rechtsbelehrung und zuletzt ein „Hochachtungsvoll Der Leiter“.

      Mit diesem Einberufungsbescheid und seinem Personalausweis in der Tasche, stand er am frühen Nachmittag des ersten Oktobers vor den Toren der Graf-Zeppelin-Kaserne und rauchte seine letzte zivile Zigarette. Es war ein schöner Herbsttag. Jakob schloss seine Augen, streckte sein Gesicht der Sonne entgegen und atmete tief durch. Wie eine Sonnenblume. Gedankenleer, seine ganze Existenz nur aus Körper und Sonne bestehend. Seine Atmung wurde schwächer und schließlich hörte er ganz auf zu atmen. Er wurde zur Pflanze.

      Dieser harmonische Zustand dauerte solange, bis die Glut der Zigarette den Filter anfraß und seine Finger verbrannte. Jäh wurde er in die Welt der Menschen zurückgerissen. Halb warf, halb ließ er die Kippe auf den Boden fallen und drückte sie mit dem Schuh aus. Hastig sah er sich um, ob ihn jemand beobachtet hatte und ging dann, als dies nicht der Fall war, zielstrebig Richtung Kasernentor.

      Links befand sich ein Wachhäuschen mit dem Eingang für Fußgänger, rechts davon regelte eine Schranke die Ein- und Ausfahrt von Fahrzeugen. Den Eingang fest im Blick lief er auf das Kasernentor zu. Wie ein Marathonläufer, der auf seinen letzten Metern die Ziellinie fixiert. Nur umgekehrt. Denn für einen Marathonläufer ist danach alles vorbei. Für Jakob aber begann es erst damit.

      Die letzten Schritte bis zum Wachhäuschen zählte er mit und als er dem Soldaten Einberufungsbescheid und Personalausweis überreichte, war es ihm, als würde er sich und sein ganzes Leben überreichen.

      „Jetzt bin ich Soldat! Es beginnt ein völlig neues Leben!“, schoss es ihm durch den Kopf.

      Seine Papiere wurden kontrolliert. Worte drangen an sein Ohr, aber er verstand sie nicht. Er sah nur, wie die Lippen des Soldaten sich bewegten, nickte und ging dann einfach weiter.

      Zum „Jetzt bin ich Soldat! Jetzt beginnt ein völlig neues Leben!“ gesellte sich irgendwann ein „Aber halt! Wo muss ich eigentlich hin?“ Er blieb stehen und sah sich um.

      In dreißig Meter Entfernung kam ihm ein Soldat mit einer Art roten Baskenmütze auf dem Kopf entgegen. Jakob ging ein paar Schritte auf ihn zu.

      „Entschuldigung, wo geht es hier zur 5. Kompanie?“

      „Sie gehen hier vorne den Weg rechts hoch. Der führt Sie direkt zum Gebäude der 5. Kompanie“, antwortete der Soldat mit ausgestrecktem linkem Arm in die Richtung weisend und sah Jakob dabei direkt in die Augen.

      „Danke“, sagte Jakob.

      „Keine Ursache“, sagte der Soldat, zuckte kurz mit seinem rechten Arm, als ob er salutieren wollte, salutierte dann aber doch nicht und ging seines Weges.

      Keine drei Minuten später stand Jakob vor dem Dienstgebäude der 5. Kompanie. Um es den neuen Rekruten einfach zu machen, hatte man rechts neben dem Eingang ein etwa ein Quadratmeter großes Schild mit dem Kompaniewappen aufgestellt.

      Ein weißer Fallschirm auf olivgrünem Hintergrund, unter dem eine silberfarbene Faust zu sehen war. Die eiserne Faust einer Ritterrüstung. Darüber stand 5./Fsch Jg Btl 251.

      Jakob betrat das Gebäude, ließ sich von zwei Soldaten, die hinter einem Tisch im Eingangsbereich saßen, registrieren und ging dann die Treppe hinauf in den zweiten Stock. In das Zimmer am Ende des Ganges, wo man ihn einquartiert hatte.

      Im Zimmer standen drei schmale Stockbetten mit dünnen Matratzen, an deren Fußenden weiße Leintücher und graue Decken lagen. Sechs etwa zwei Meter hohe Spinde, die noch schmaler als die Betten waren, standen an der Wand. In der Mitte des Zimmers waren zwei zusammengeschobene Tische und sechs Stühle. Nackte Wände. Keine Blumen, keine Bilder, keine Poster. Nichts. Neben dem Fenster hingen leblos zwei ausgewaschene hellblaue Vorhänge herunter.

      Jakob stellte sein Gepäck auf den Boden und während er das Zimmer vor seinem inneren Auge etwas gemütlicher einrichtete und sich umsah, bemerkte er, dass das Stockbett, das am weitesten von der Zimmertür entfernt war, schon belegt war. Sowohl oben als auch unten.

      Im unteren Stockbett lag ein Vollbartträger mit kariertem Hemd und auf dem oberen saß ein blondes Kindergesicht mit vielen Pickeln. Beide hatten sich völlig ruhig verhalten.

      „Die Betten da drüben sind alle noch frei“, sagte jetzt der Vollbartträger und richtete sich auf. Jakob drehte sich um und entschied sich für die untere Pritsche des Stockbetts, welches dem Fenster am nächsten war. Er legte seine Lederjacke auf die graue Decke, schob das Gepäck unter das Bett und prüfte sein neues Schlafgemach.

      Jakobs Urteil war schnell gefällt und fiel vernichtend aus. Die Matratze war zu hart und zu schmal, die Decke zu dünn, die