Als Jakob vom Himmel fiel. Peter Fuhl

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Название Als Jakob vom Himmel fiel
Автор произведения Peter Fuhl
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347114470



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blonde Pickelgesicht warf seine Stirn in Falten und fischte sich mit seinen Wurstfingern, deren Nägel alle extrem abgekaut waren, eine Zigarette aus einer Schachtel, die in der Brusttasche seines Hemdes steckte.

      „Ach ne, nicht im Zimmer rauchen!“, maulte der Vollbart und das Pickelgesicht klemmte sich mit leidender Miene die Zigarette hinter sein rechtes Ohr, verschränkte die Arme und schmollte.

      „Das sind richtige Stimmungskanonen“, dachte sich Jakob und verließ mit einem „Ich sehe mich mal ein bisschen um, bis später“ schnell das Zimmer.

      Er ging langsam durch das Gebäude, pinkelte zum ersten Mal in seinem Leben in das Urinal eines Kasernenklos und warf neugierige Blicke in Zimmer, deren Türen offen standen. Die Zimmer sahen alle ähnlich aus. Alles machte einen überraschend gepflegten Eindruck.

      Die Toiletten waren sehr sauber und die Gemeinschaftsduschen gefliest. Am Boden hellbraun und die Wände bis zur Decke hinauf weiß. Entweder war das Gebäude nicht sehr alt oder es war erst kürzlich renoviert worden.

      Auf der Treppe kamen ihm zwei Rekruten entgegen, die ihre Stuben suchten. Vor dem Tisch im Eingangsbereich standen sechs junge Männer und warteten darauf registriert und eingewiesen zu werden. Jakob lief an ihnen vorbei ins Freie, zündete sich eine Zigarette an und ging spazieren.

      Aus dem Walkman schrie ihm Annette Humpe hektisch und laut in seine Ohren, dass sie auf Berlin steht. Er sah sich um, schaltete den Walkman aus und nahm den Kopfhörer ab. Irgendwie passte diese Musik nicht hierher.

      Als er wieder zurück im Zimmer war, saßen zwei Personen mehr am Tisch. Ein Typ mit Stiernacken und einem Kinn wie ein Nussknacker sowie ein schwarzhaariger Rheinländer mit Oberlippenbart und sympathischen dunklen Augen. Nur das Bett über Jakob war noch frei. Er überlegte, ob er sich zu den anderen an den Tisch setzen oder sich auf seinem Bett lang machen sollte, als Harry ihm die Entscheidung abnahm.

      „Servus, ich bin der Harry. Ich komme aus München und werde mit meiner Anwesenheit euer Zimmer verschönern“, sagte Harry, stellte sein Gepäck neben der Tür ab und setzte sich an den Tisch. Dann griff er in seine Jacke und steckte sich eine Zigarette in den Mund.

      „Ach ne, nicht im Zimmer rauchen!“, maulte der Vollbart wieder. Diesmal ohne Erfolg.

      Harry zündete die Zigarette an, öffnete das Fenster und setzte sich breitbeinig auf das Fensterbrett. Sofort nahm das Pickelgesicht seine Zigarette vom Ohr, lief zum Fenster und bat Harry um Feuer. Jetzt war es der Vollbart, der schmollte.

      „Und? Habe ich bis jetzt was verpasst?“, fragte Harry und sah mit einem selbstgefälligen Lächeln in die Runde.

      „Raus! Alle raustreten! Aber dalli!“ schrie eine Stimme im Gang, bevor ihm jemand antworten konnte. Sie kam immer näher, schrie in jedes Zimmer und plötzlich stand ein Soldat in der Tür.

      „Raus jetzt mit euch! Und die Kippen aus! Aber dalli!“

      „Scheiße, nicht mal ausrauchen kann man“, fluchte Harry, schnippte seine Zigarette aus dem Fenster und rannte den anderen hinterher. Das Pickelgesicht ebenso und knallte fast gegen den Türstock.

      In jedem Stockwerk standen an der Treppe Soldaten und brüllten. Im Eingangsbereich auch.

      „Los, raus zum Antreten! Schneller!“

      Und vor dem Gebäude auch.

      „Da lang! Schneller! Dalli!“

      Alles rannte. Aus dem Gebäude, einen Weg entlang, eine Betontreppe hinunter. Dann standen etwa sechzig Gestalten außer Atem auf einem Exerzierplatz, der aussah wie ein Parkplatz ohne Autos. Kein Fahnenmast. Nichts. Nur ein großes geteertes Viereck.

      Ein halbes Dutzend Soldaten kam langsam die Treppe herunter.

      „In Dreierreihe aufstellen! Aber ein bisschen plötzlich!“, schrie einer mit einer silberfarbenen Kordel an der rechten Schulter seiner Uniform.

      Es dauerte eine ganze Weile, bis so etwas ähnliches wie eine Dreierreihe zustande gekommen war. Ein Sportlehrer an einer Realschule wäre mit dem Resultat zufrieden gewesen. Silberkordel war es aber nicht. Er verzog sein Gesicht und gab den anderen Soldaten ein Handzeichen, die daraufhin sofort vor, hinter und zwischen den Reihen umherschwirrten, um Ordnung in das Chaos zu bringen. Die Körpergröße spielte anscheinend eine entscheidende Rolle.

      „Sie stellen sich hier hin!“ „Und Sie gleich dahinter!“ „Sie gehen ans Ende der Reihe!“

      Bald hatte auch Jakob seinen Platz gefunden. Erste Reihe, fünfter Mann.

      „Abstände! Rechten Arm ausstrecken und die Hand an die Schulter des Nebenmannes!“

      Die Sonne stand schon sehr tief und zog lange groteske Schatten über den Asphalt. Die ausgestreckten Arme waren viel zu dick und die Schatten der Körper so sehr in die Länge gezogen, als ob sie vom Exerzierplatz fliehen wollten, aber nicht konnten. Eine schwarze Menschenkette, die von einer Betonwalze überrollt und in den Asphalt gedrückt worden war. Alles andere wurde von den letzten Sonnenstrahlen in ein dunkelgelbes Licht getaucht.

      Als die Abstände endlich stimmten, musste sich ein jeder seinen Platz und seine Neben-, Vorder- und Hintermänner merken. Die Soldaten stellten sich hinter Silberkordel in einer Reihe auf.

      „Ihr werdet eure Mutter vergessen“, fing der jetzt an. „Und ihr werdet euren Vater vergessen.“

      Dann folgte eine wohl einstudierte rhetorische Pause.

      „ABER MICH WERDET IHR NIE VERGESSEN!“

      Ein netter Versuch, der aber nicht im geringsten die gewünschte Wirkung zeigte. Einige der Rekruten lachten sogar und selbst die Soldaten hinter Silberkordel konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Silberkordel beschloss noch einen draufzusetzen. Langsam ging er die erste Reihe entlang.

      „Wenn ich die Haare sehe, die an euren Schädeln herumhängen, kommt mir das kalte Kotzen! Bei Fallschirmjägern gibt es nur zwei Frisuren! Eine Langhaar- und eine Kurzhaarfrisur. UND ICH HABE DIE LANGHAARFRISUR! KAPIERT!!?“

      Jetzt lachte niemand mehr. Wenn Silberkordel die Langhaarfrisur hatte, musste die Kurzhaarfrisur aussehen wie eine gut polierte Billardkugel. Auch ein Blick auf die Frisuren der anderen Soldaten gab keine Entwarnung. Im Gegenteil. Es drohte Ungemach.

      Jakob sah sich um. Nur ein paar Rekruten waren schon beim Friseur gewesen. Ihre Ohren lagen frei, die Matte darüber war überschaubar. Vier oder fünf Mann. Aber das war es auch schon. Ansonsten viele Vokuhila-Frisuren. Dem Rest sah man an, welche Musik sie hörten. NDW, New Wave, Punk oder Reggae.

      „Mit so einem Haarschnitt komme ich doch in keinen Klub mehr rein!“, jammerte ein gestylter New Wave Anhänger mit weißen und blauen Strähnchen in der ananasförmigen Haarpracht.

      Silberkordel sprang jetzt der Draht aus der Mütze. Er ging auf die Ananas zu, baute sich keinen halben Meter vor ihr auf und brüllte los, dass sich die bunten Strähnchen waagerecht nach hinten legten und zitterten.

      „EIN DEUTSCHER FALLSCHIRMJÄGER KOMMT IN JEDEN NACHTKLUB HINEIN! AUCH JENSEITS DES URALS!!“

      Damit waren Jakob zwei Dinge klar geworden. Erstens, dass er sich von seinen schulterlangen dunkelblonden Locken verabschieden musste und zweitens, dass Ananas auf keinen Fall eine Perücke trug. Denn diese würde jetzt vor den Füßen seines Hintermannes liegen.

      „Auf die Stuben wegtreten!“, schrie Silberkordel und die Herde setzte sich in Bewegung. Die anderen Soldaten trieben wieder an.

      „Los! Schneller! Schlaft nicht ein hier!“

      Auf der Stube zündete sich Harry sofort eine Zigarette an und setzte sich wieder auf das Fensterbrett. Er nahm zwei, drei tiefe Züge und auch Pickelgesicht machte Anstalten, ein Lungenbrötchen zu sich zu nehmen, als es wieder losging.

      „Los, alles raus zum Antreten! Aber dalli! Raus hier!“

      „Jetzt nervt es aber“, sagte Harry, nahm noch zwei hastige Züge und schnippte die soeben angezündete Zigarette wieder aus dem Fenster.