Killerwitwen. Charlie Meyer

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Название Killerwitwen
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847684800



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selbst gehäkelten Hausschuhe sind klasse - äh - ehrlich!“

      Emmi zog sich die Lippen in einem dezenten Altrosa nach. Wie spröde sie waren. Der Kühne, dieser Scharlatan, behauptete natürlich, sie würde zu wenig trinken und außerdem neige ihre Haut ohnehin zu pathologischer Trockenheit. So ein Unsinn. Keine geborene Rieffenbach neigte jemals zu pathologischer Trockenheit. Sie runzelte verärgert die Stirn, und das ganze Gesicht runzelte sich mit.

      Ob sie sich damals wirklich zu passiv verhielt, als sie die Kinder am Telefon einfach reden ließ, um ihres eigenen Seelenfriedens willen, und über den hanebüchenen Unsinn nur stumm den Kopf schüttelte. Julia hielt ihr sogar heute noch die fehlende mütterliche Unterstützung vor. Aber was um Himmels willen hätte sie sagen können? Aber ja, liebe Julia, in der heutigen Zeit gibt es nichts Schöneres, als elf arbeitslose Söhne und Töchter durchs Leben zu schleppen. Meinst du nicht, liebe Christina, es sei weit wirkungsvoller sich in einen Castor-Behälter zu setzen als nur oben drauf? Mein lieber Junge, du solltest nicht nur diese aufmüpfigen Gastarbeiter niederknüppeln, sondern alle Ausländer. - O nein, die Kinder mussten lernen, eigene Entscheidungen zu treffen, und wenn sie deshalb aus Enttäuschung über ihre Zurückhaltung seltener anriefen, bitte schön, sie konnte damit leben. Die Ausreden, zu denen ihr schlechtes Gewissen sie trotz allem zwang, waren natürlich albern.

      „Entschuldige, ich wollte ja schon vor vier Wochen anrufen, aber erst war unser Telefon kaputt - es kam einfach kein Freizeichen, weißt du - und als das Telefon endlich wieder funktionierte, also das glaubst du nie, da biss doch das Meerschweinchen die Schnur durch ... Ist das nicht ulkig?“

      Sehr ulkig! Pubertäre Rückfälle mit einem Hang zu ausschweifender Fantasie und die aggressive Reaktion auf ihre vorsichtigen Fragen ein klarer Ausdruck ihres schlechten Gewissens.

      „Mein Gott, Mutter, ich habe nicht gesagt, Alice habe abgetrieben, sondern nur, dass wir beide vorerst keine Kinder wollen.“ „Nein, Raoul hat Durchfall und keine Würmer und wir haben auch keine Kräuterfrau geholt, sondern einen approbierten Arzt!“ „Ach du große Neune, das hast du ganz falsch verstanden, eine Wünschelrute ist nicht dasselbe wie ein Dildo.“

      Kinder!

      Und Ende der Achtziger schummelte sich zu allem Überfluss neben aggressiver Ungeduld und weinerlichem Vorwurf ein neuer Ton ein. Eindringliche Beschwörung, die schon fast an Panik grenzte.

      „Hör zu, du bist schon über sechzig, da kannst du doch nicht einfach so in den Tag hineinleben!“ „Warum gehst du nicht öfter mal weg, ins Theater oder so?“ „Es werden doch so viele Butterfahrten angeboten, warum meldest du dich da nicht an?“ „Mein Gott, Mutter, entschuldige, wenn ich dir das sagen muss, aber solltest du deinem Leben nicht einen neuen Sinn geben?“ „Es ist doch nur, weil wir uns um dich sorgen!“

      Emmi wischte sich den Lippenstift vom Kinn und verzog das Gesicht. Für wen schminkte sie sich eigentlich? Es kam ja doch keiner.

      Nicht so wie am ersten Weihnachtsabend zur Dekadenwende, als sie niemanden erwartete, weil alle bereits im November ihre Ausreden parat hielten, und schon bettbereit, im Morgenmantel und mit offenen Haaren die Haustür öffnete, während auf dem Tischchen neben Hermanns Lieblingssessel ein letzter Becher Tee dampfte und das Weihnachtsrätsel des Anzeigers wartete. Da standen sie, Julia, Christina und David, und ihre Züge entgleisten förmlich bei ihrem Anblick. Sie schafften es gerade noch im Chor, ein einstudiertes Überraschung zu krächzen, dann drängten sie sich schon peinlich berührt an ihr vorbei in den Flur, und als sich bei Meiers gegenüber die Terrassentür öffnete, wurde sie hastig von der Türschwelle gezerrt. Als sie ihnen zehn Minuten später mit Kleid und Dutt erneut gegenübertrat, fläzte sich David in ihrem Sessel, Christina nippte an ihrem Tee, und Julia zupfte an einem mitgebrachten Weihnachtsstern herum, dessen feuchter, erdiger Topf die Rätselseite des Anzeigers braun färbte.

      Es war dann doch noch ganz nett geworden. Christina schmückte die Hauspalme mit Lametta, Julia spielte auf einer Blockflöte O du fröhliche, David brummte Unverständliches dazu, Emmi nestelte hastig Hunderter in Briefumschläge - und bekam - welch Wunder - in einem Moment schweigender Ergriffenheit ihrer Kinder ebenfalls einen Briefumschlag in die Hand gedrückt. Ohne Geldschein zwar, aber mit der Anmeldebestätigung für einen Volkshochschulkurs: Wie ich meinen Lebensabend sinnvoll gestalte. 30% Seniorenermäßigung.

      „Aufsprengen der Isolation“, hatte Christina, die gerade mit dem Gedanken spielte, ihr Amerikanistik-Studium gegen Psychologie einzutauschen, David ins Ohr geflüstert und ihren Hunderter im Strumpf verschwinden lassen. „Ab einem gewissen Alter schaffen’s die Leute nicht mehr selbst, und wenn man sie drin lässt – pathologische Fälle!“

      „Ich hätte ihr gleich eine scheuern sollen“, murmelte Emmi wütend und setzte sich auf den Toilettendeckel, um die Nylonsocken überzustreifen.

      Aber eine gewisse Rührung und die, wenn auch erst verspätete Freude über diesen unerwarteten Weihnachtsabend im Kreis ihrer Kinder überwogen an jenem Tag ihren Ärger, und sie hatte sich taub gestellt und Anfang Januar mit dreißig unglücklich dreinblickenden Senioren in einem stickigen Klassenraum des Koppstedter Mädchenlyzeums wiedergefunden, wo ein spitzbärtiger Medizinstudent breitbeinig auf dem Lehrerpult hockte, den langen knochigen Oberkörper wohlwollend der Klasse zugeneigt, und mit gewichtig tremolierender Stimme fragte: Warum altern wir? Nach zweimal fünfundvierzig Minuten einseitigen Philosophierens, lediglich von einer fünfminütigen Verschnaufpause unterbrochen, entschied er sich vor einer mühsam die Augen offen haltenden Klasse für die Schicksalstheorie, handelte in der zweiten Woche die psychosozialen Gefahren des Alterns ab, als da seien Verwahrlosung, zunehmende Suizidgefahr und Depressivität infolge selbst gewählter Isolation und pries mit warmen Worten Volkshochschulkurse an.

      Mein Gott, sie ging ja damals auch nur zu den Abenden, um die Kinder nicht zu enttäuschen, denn der Sinn ihres Lebens war ihr mitnichten abhanden gekommen nach Hermanns Tod. Im Gegenteil, zum ersten Mal seit Langem genoss sie doch die Tage vom morgendlichen Erwachen bis hin zur abendlichen Lesestunde im Bett und fühlte sich rundherum wohl. Jedenfalls bis zu jenem denkwürdigen Abend, an dem der Spitzbart, in leichter Abwandlung seines Kursthemas, damit begann, nach den psychosozialen nun auch die medizinischen Gefahren des Alterns aufzuzählen. Im Verlauf der folgenden sechzehn Doppelstunden schlich sich nicht nur bei Emmi der Virus der Erkenntnis ein, an weit mehr als den üblichen Zipperlein zu leiden. Während sie alles über Altersdiabetes, Lungenemphysem, degenerativen Veränderungen am Stütz- und Bewegungsapparat, Arteriosklerose, Zerebralsklerose, Koronarsklerose, Nephrosklerose, Raucherbeine, Herzinsuffizienz, Bluthochdruck, Gicht und Emphysembronchitis lernten, neigte der Ausdruck auf den Gesichtern der Kursteilnehmer mehr und mehr zu spontaner Verschrecktheit. In den Pausen begann sich die Gruppe, krankheitlich vorsichtig abzutasten und mit zunehmendem Mut gar zu überbieten. Am Ende des Kurses gab es einschließlich Emmi keinen Kursteilnehmer mehr, der sich guten Gewissens gesund nennen durfte, und die letzte Kursstunde diente denn auch der kritischen Aburteilung Koppstedter Arztpraxen aufgrund einer Werteskala von eins bis zehn. Dann verabschiedete sich der weise Medizinstudent mit den unheilschwangeren Worten Nascentes morimur – Kaum geboren sterben wir - und sie schüttelten ihren Banknachbarn die schweißigen Hände, blickten sich gegenseitig in ihre schicksalsergebenen Gesichter und schlurften von der Last ihrer Jahre gebeugt nach Hause.

      Emmi schüttelte den Kopf. Ob alle Teilnehmer des Kurses noch lebten? Der spitzbärtige Medizinstudent war jedenfalls zwei Wochen später im Fernsehen gewesen. Na ja, eigentlich nur sein Auto auf der Allee zwischen Koppstedt und Göttingen. Ein zerknäuelter rauchender Blechhaufen an einer unbeteiligt wirkenden Platane. Nascentes morimur.

      Sie konnte sich noch daran erinnern, dass schon während des Kursus die ersten Schlafstörungen und Verdauungsprobleme auftraten, im rechten Ohr plötzlich ein Tinnitus pfiff, und Christina sagte, ihre Seele fände keine rechte Balance mehr zwischen Yin und Yang. Es half auch nichts, Kalorientabellen und Klosterfrau Melissengeist zu kaufen, vom Schwein die Schwarte zu schneiden und rohe Mohrrüben zu mümmeln, bis sie glaubte, ein Kaninchen zu sein. Und die Kinder begannen am Telefon zunehmend verhaltener zu reagieren, wenn sie versuchte, ihnen diesen seltsamen Dauerton zu erklären, der ihr rechtes Trommelfell in Schwingungen versetzte,