Die vergessenen Kinder. Herbert Weyand

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Название Die vergessenen Kinder
Автор произведения Herbert Weyand
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847624301



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das hellrote Schild, die gleiche Farbe, wie der Plastikausweis, den sie in der Hand hielt.

       Hauptkommissarin Claudia Plum

       Leiterin Team 4

      sprang ihr in großen Lettern entgegen.

      „Ich erwarte dich in zehn Minuten vor dem Eingang des Schulgebäudes.“ Fabian ließ sie, mit verwirrenden Gedanken, stehen und ging auf eine Gruppe zu, die abseits diskutierte.

      Claudia zog die Karte durch den Leser und betrat befangen und neugierig den Raum. Zwei Schreibtische mit je einem Monitor und einer Tastatur. Daneben jeweils ein Schrank. An der Decke hing ein Beamer, der auf die freie rechte Kopfwand ausgerichtet war. Gegenüber der Tür führte eine steile Treppe nach oben. Neugierig stieg sie hinauf. Die gleiche Raumgröße. Klar war auch nur ein Container. Im linken Bereich die gleiche Arbeitsplatzausstattung wie unten, jedoch in einer Ausführung. Rechts ein runder Tisch und acht Stühle. Ihre Klamotten lagen säuberlich gefaltet auf dem Bürostuhl.

      Sie zog den Overall aus und hätte gern geduscht. Das musste warten, bis sie nach Hause kam. Sie zog Kurts Hemd über. Die Hose hatte sie unter dem Anzug anbehalten. Auf dem Schreibtisch lag ein DIN-A4 Blatt Papier. Eine Entschuldigung für den fehlenden Telefonanschluss, weil die Telekom nicht aus den Füßen kam und der Hinweis darauf, dass Telefonieren über das Internet möglich sei.

      Claudias Gedankenkarussell drehte. Was geschah hier? Sie war Hauptkommissarin der Aachener Mordkommission … nicht mehr oder weniger. Heute Morgen war die Welt noch in Ordnung. Dann der blöde Anruf von Klein und jetzt hatte sie die Bredouille. Einundzwanzig mumifizierte Leichen und ein Bunker, von dem noch niemand wusste, wie groß er war. Dazu die modernen technischen Einrichtungen, die noch nicht vorhanden waren, als das unterirdische System in Vergessenheit geriet. Der Staats- oder auch Verfassungsschutz, das BKA, das LKA und wer weiß welche weiteren Behörden. Die Infrastruktur, wie Container, Absperrung, überhaupt die ganze Organisation lief ab, als wenn jeder damit gerechnet hatte, dass die Situation eintrat, wie sie jetzt war. Sie wurde misstrauisch. Brauchten die einen Doof und hatten dabei an sie gedacht, weil sie schön bequem in diesem Dorf wohnte? Der Druck in ihrer Magengegend verstärkte sich und drohte wieder, den Atem zu nehmen. Langsam sagten ihre Gedanken. Nachdenken. Da war auch noch Fabian, dem sie eine solche Schweinerei nicht zutraute. Aber weshalb hatte er sie angeblich in diese Funktion gehievt? Dabei gab er vor, nicht zu wissen, was dort geschah. Sie würde vorsichtig sein müssen, damit die unsichtbaren Mühlsteine sie nicht zermahlten. Mal sehen, was der Abend brachte.

      „Was geschieht jetzt“, fragte Claudia Fabian wenige Minuten später.

      „Jour fixe oder Briefing. Egal, wie du es nennen willst. Du wirst dich daran gewöhnen. Die Termine kommen immer zur unrechten Zeit. Am besten zunächst die Klappe halten und zuhören. Du wirst schon wissen, wann du was sagen musst.“ Fabian ging vor und öffnete die zweiflügelige Tür.

      Sie betraten einen großen Raum, sechzig oder siebzig Quadratmeter groß. Der Schützenverein und Mitglieder des Kirchenchors hatten ihn geschmackvoll hergerichtet und dem Stil des alten Gebäudes angepasst. In der Mitte standen mehrere Tische zu einer langen Tafel angeordnet. Namensschilder bestimmten die Sitzordnung.

      Ein glatzköpfiger Mann nickte ihnen zu. „Frau Plum, denke ich“, empfing er sie. „Sie sitzen am Ende des Tisches, weil ihr Team im Moment noch nicht gebraucht wird. Kein Affront gegen ihre Person. Der Raum hier ist eine Behelfslösung, und solange wir ihn nutzen, verteile ich die Platzkarten entsprechend der Dringlichkeit der Aufgabenstellung. Nehmen Sie Platz. Haben Sie mir diesen Professor auf den Hals gehetzt“, fragte er mehr rhetorisch und fuhr fort. „Ich habe die Heereslogistiktruppe in Unna angewiesen, ihrem Wunsch zu entsprechen. Noch heute Nacht wird ein Einsatzfahrzeug vor Ort sein, mit ausgebildetem Personal.“

      Claudia sank in ihren Stuhl. Aller Augen waren auf sie gerichtet, ob der persönlichen Ansprache. „Wer ist das?“ Sie fragte flüsternd. Fabian zuckte gleichgültig die Schultern.

      „Ich bin Generalleutnant Löhr vom MAD“, sagte der Glatzkopf zu ihr.

      Mensch dachte sie. Der hat Ohren wie ein Luchs.

      „Wir haben gleich zweiundzwanzig Uhr. Ich habe alle Leitungsfunktionen der Sonderkommission zu dieser Operation eingeladen. Vorstellen können Sie sich in den nächsten Tagen selbst. Sie werden genügend Gelegenheit bekommen, gemeinsam an der Aufklärung mitzuwirken. Die Operationsgruppe wurde auf Weisung des Bundesverteidigungsministers zusammengestellt. Wissenschaft, Militär und Polizei. Ich koordiniere die Anfangsphase, bis das Verteidigungsministerium mich abzieht; d. h., wir sichern den Luftschutzkeller und verschwinden dann. Je nach Größe wird dies einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich habe das SEK abgezogen und unsere Leute an die Front geschickt. Ich werde die Bereiche Zug um Zug freigeben, kann jedoch nicht versprechen, dass diese Zonen auf Dauer ungefährlich bleiben werden. Sie müssen also mit Behinderungen oder Einschränkungen rechnen.“ Er sprach knapp mit rauer Stimme. Sein Gesicht zeigte einen unbeteiligten Ausdruck. Während er redete, wanderten seine Augen ständig umher und musterten die Personen, die um den Tisch saßen.

      „Ich fasse zusammen.“ Sie konzentrierte sich wieder auf die Stimme des Generals. „Der Bunkerkomplex, über dem wir uns befinden, ist nicht einmalig in der Bundesrepublik, jedoch wahrscheinlich der größte, den wir bisher gefunden haben. Schon im Ersten Weltkrieg wurden solche Anlagen zum Schutz vor Gasangriffen der Alliierten gebaut. Auch die Bestückung der Anlage mit Nahrung und Gebrauchsmaterial liegt im Rahmen dessen, was wir an anderen Standorten gefunden haben. Neu in diesem Keller sind die Einrichtungen für Befehlsstrukturen, die wir eher in Berlin, als hier erwartet haben. Der Schutzbunker fasst ungefähr tausend bis zwölfhundert Personen. Zwei Dinge bereiten uns Kopfschmerzen. Da sind einundzwanzig Tote, deren Todesursache zurzeit ungeklärt ist. Eine vollkommen neue Dimension. Vor allem die Art, wie die Toten dargestellt werden. Auf der anderen Seite wurden die Räumlichkeiten bewohnt. Wir fanden Spuren, die Jahrzehnte alt sind, aber auch andere, aus der jüngeren Vergangenheit.“

      Claudias Gedanken glitten weg. Die umgebenden Geräusche klangen dumpf, wie durch Watte gefiltert. Das Gesicht des Mannes, der sich Schneider nannte, tauchte in ihrem Innern auf. Nicht im Zusammenhang mit dem Bunker, sondern vielmehr mit dem Gebäudekomplex, den er bewachte. Bestand ein Zusammenhang? Startende und landende Hubschrauber in unmittelbarer Nähe der NATO Air Base Geilenkirchen und dieser unterirdischen Anlage? Hier stimmte etwas nicht. Die Außenwände der ‚Trutzburg‘ trugen keine Fenster. Die Öffentlichkeit sollte dort ausgeschlossen werden. Tatsächlich ein Hochsicherheitstrakt. Die Nähe zum unterirdischen System war beängstigend. Die Indizien deuteten auf zumindest einen offenen Zugang in das unterirdische Reich. Weshalb sollte es von dort keinen Durchgang zu der Villa geben? Aber, was machte sie sich Gedanken, ein weiterer Zugang konnte in jedem Haus des Dorfes liegen. Sie musste ihr Team zur Unterstützung an die Seite bekommen. Was immer man von ihr erwartete, konnte nur mit Maria und Heinz gelingen.

       *

      Bericht der vergessenen Kinder IV (1945 - 1949) Klaus

      Stefan und Christel wurden meine ständigen Begleiter. Mein ständiges Zusammensein mit den beiden Kindern blieb nicht ohne Probleme. Tilde raste häufiger vor Eifersucht und Wut. Ein Wesenszug trat zutage, der mich abstieß. Sie wurde zur Furie und gebrauchte Worte, die ich noch nie aus dem Mund einer Frau gehört hatte. Sie betrachtete mich, als ihr persönliches Eigentum, was mir Unbehagen verursachte. Kurz vor einer Schlafperiode stellte ich sie zur Rede.

      „Tilde, ich muss mit dir sprechen.“ Sie saß mir gegenüber am Tisch.

      „Ja, Klaus“, sagte sie gefügig, jedoch wachsam. Der Ausdruck in ihren Augen gefiel mir nicht.

      „Du musst den Kindern gegenüber duldsamer sein.“ Ich begann vorsichtig.

      „Hat das kleine Frettchen sich wieder beschwert?“ Frettchen war ihre Bezeichnung für Christel.

      „Du weißt genau, dass sie nie ein schlechtes Wort über dich verwendet. Ich habe Augen im Kopf, auch wenn ich nicht immer etwas sage.“

      „Die