Die vergessenen Kinder. Herbert Weyand

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Название Die vergessenen Kinder
Автор произведения Herbert Weyand
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847624301



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„Absolut nicht. Lass‘ uns nach draußen gehen.“

       *

      Fabian Schröder war ein Pedant. Eine Beamtenseele, aber eine von der liebenswerten Sorte. Nicht steif, förmlich oder knöchrig, sondern strukturiert. Ein Überbleibsel des BKA in Bonn Meckenheim. Als die große Behörde nach Berlin umzog, mussten gemäß Vertrag des Umzugsgesetzes einige Abteilungen am Rhein bleiben. Jeglicher Ballast wurde zurückgelassen. Also auch Fabian mit seinem Bereich phänomenaler Fälle. Die Mulder/Scully Abteilung oder der Spinnerbereich waren noch die liebenswerten Bezeichnungen. In den letzten Jahren stolperte Fabian Schröder ungewollt in spektakuläre Fälle und zog die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich. Vom Befehlsempfänger mutierte er zum Leiter seines Bereiches und fühlte sich absolut nicht wohl. Die Bewegungsfreiheit, die er bisher hatte, wurde durch seine neue Aufgabenstellung sehr eingeschränkt. Er musste sich auf einmal mit dem Bundesnachrichtendienst, dem Verfassungsschutz und auch den Innenministerien der Länder, und dem des Bundes herumschlagen. Doch zum großen Teil nahm er sich die Freiheiten, die er zur Ausübung seines Berufes in seiner Abteilung benötigte. Ihn faszinierten die Fälle, bei denen die Kollegen das Handtuch warfen. Angebliche Phänomene, vorgebliche Geister, Hexen, geheimnisvolle Landschaften und Gebäude. Manchmal waren auch Spinner dabei, die eine Begegnung mit der dritten Art hatten.

      In den tiefen Kellern des BKA Gebäudes in Meckenheim saßen auch heute noch Horchposten vor ihren modernen Geräten. Sie filterten aus dem Äther, was nach vorgegebenen Richtlinien, auf dem Schreibtisch Fabians landete, der dann entschied, ob seine Abteilung etwas übernahm. Die anderen Abteilungen gab es teilweise noch als Rumpfbestände. Die Köpfe saßen in Berlin.

      In modernen Demokratien werden, im Gegensatz zu Diktaturen, Überwachungsstrukturen mehrfach, in verschiedenen Behörden, vorgehalten. Das hatte den Sinn, dass jeder Dienst sich mit den Aufgaben des anderen Dienstes beschäftigte, damit der keinen Informationsvorsprung erreichte. Das diente der Vertrauensförderung und verhinderte, dass sogenannte schwarze Schafe zu frühzeitig entdeckt wurden. Wer nämlich clever die Informationsstrukturen beherrschte, war ziemlich sicher, bei eventuellen ungesetzlichen Aktivitäten unentdeckt zu bleiben. Das Bunkern von Informationen gehörte zum normalen Dienstablauf, wie das Atmen. Wissen ist Macht.

      Bestimmte Schlüsselworte in Nachrichten setzten Getriebe in Gang, wo jedes Zahnrädchen packte und beim Antrieb landete. Das war dann, in diesem Bereich, Fabians Abteilung und sofortige Kontakt mit ihm. Allein seinem Wissensdrang und die Kenntnis der Informationsstrukturen war seine jetzige Anwesenheit in der Bunkeranlage geschuldet.

      Der Verfassungsschutz startete eine allgemeine Anfrage zur Hauptkommissarin Claudia Plum aus Aachen, was genügte, dass Fabian einen Anruf bekam. Die Kombination ‚Claudia Plum Aachen Hauptkommissarin‘ waren Schlüsselworte, die den sofortigen persönlichen Kontakt zu ihm auslösten. Das Ergebnis der Erkundigungen in diesem Zusammenhang war so belanglos, dass seine Alarmglocken schrillten. Eine alte Fliegerbombe und angeblich ungebührliches Auftreten gegenüber einem Verfassungsschutzbeamten, während einer veranlassten Evakuierungsmaßnahme zur Bombenentschärfung. Eine Möglichkeit schoss ihm durch den Kopf: Vielleicht gefiel dem anfragenden Beamten die Frau, Claudia Plum, und deshalb der Informationsdrang. Den Gedanken verwarf Fabian schnell. Sein Instinkt sagte ihm etwas anderes und er stolperte faktisch in die Bunkeranlage.

      Bevor die konkurrierenden Bundesbehörden reagierten, hatte er den Fall an sich gerissen und nach einigen Telefonaten, Claudia Plum verantwortlich im Team. Der kontaktierte Bundesinnenminister erinnerte sich an die Live Übertragung der Geiselnahme auf dem Aachener Katschhof und der wichtigen Rolle der Hauptkommissarin, die den Fall in aller Öffentlichkeit unblutig zu Ende brachte. Sie wurde in aller Welt dafür geliebt. In der brisanten Angelegenheit, die scheinbar vor ihnen lag, konnte eine Sympathieträgerin wichtig werden. Außerdem besaß sie durchaus die Kompetenz für diese Aufgabe. Der Politiker zog an den richtigen Strippen und schon war Claudias Urlaub beendet.

      Doch auf anderen Ebenen begannen betriebsame Aktivitäten, die keine neugierige, in den großen Ränkespielen, unbedarfte Kriminalistin, akzeptierten.

      Fabian Schröder bewunderte Hauptkommissarin Claudia Plum. Weniger wegen ihres analytischen Verstandes, als vielmehr aufgrund ihrer emphatischen Fähigkeiten und der unkonventionellen Art, wie sie mit ihrem Team die Fälle anging. Außenstehende sahen keine Struktur. Jeder der drei Teammitglieder schien einer eigenen Spur zu folgen, ohne dass sich jemand daran störte. Die Kommunikation war einzigartig, weil jeder das wusste, was der andere gerade ermittelte. Sie waren zu jeder Zeit auf dem gleichen Stand.

      Er lernte sie und ihren Lebensgefährten Kurt, durch die Nachbarn Paul und Griet kennen, mit denen er anlässlich eines mysteriösen Falles zu tun hatte. Sie befreundeten sich.

      Hinzu kam dieses einzigartige Heidedorf, abgeschieden gelegen, im fast westlichsten Zipfel der Bundesrepublik. Die Menschen waren freundlich gegenüber Fremden, doch sehr zurückhaltend. Zugehörig zum Dorf wurde erst die dritte Generation der Zugezogenen betrachtet. Das Zusammenleben wurde durch die Familienclans geregelt. Fünf an der Zahl, die untereinander in den verschiedenen Generationen durch Heirat alle verwandtschaftlich verbunden waren. Wurden Zugezogene durch einen Clan akzeptiert, waren sie auch für die anderen akzeptabel.

      Laut Claudias und Kurts Angaben gab es dazu noch die Rentnerband, die in unterschiedlicher Zusammensetzung auf einer Bank am Heiderand, täglich ab zehn Uhr bis zum Mittagessen, residierte. Keiner dieser Herren zählte weniger als achtundsechzig Jahre und der älteste war zurzeit sechsundachtzig. Sie waren das gute und schlechte Gewissen des Dorfes und wussten alles, was jemals geschehen war. Nur, sie waren wortkarg und sprachen nicht mit jedem. Claudia gehörte zu den wenigen Personen, zu der sie Kontakt suchten. Ihre Wurzeln lagen im Dorf, auch, wenn sie das erst kurze Zeit wusste. Er machte einen gedanklichen Vermerk, Claudia auf die alten Männer anzusetzen. Sein Versuch einer Unterhaltung mit den Weisen des Dorfes war vor längerer Zeit gescheitert. Für Fabian saßen dort senile alte Herren, die dazu noch schwerhörig waren. Für Claudia waren sie der Inbegriff des Wissens um das Dorf und seine Menschen.

       *

      „Mein Gott. Wie lange waren wir dort unten?“, fragte Claudia, als sie aus dem Loch auf den Vorplatz der Schule stiegen. Sie war zwar eine Woche nicht mehr hier, doch der drei Meter hohe Bretterzaun, der das Gelände umfriedete, war vorhin noch nicht vorhanden. Zur Straße Hinter den Höfen war ein breites Tor eingearbeitet, groß genug, um auch schweres Gerät passieren zu lassen. Zum Bolzplatz, dem früheren Sportplatz, hin und den Nachbargrundstücken war die Bevölkerung ausgeschlossen.

      „Fünf Stunden“, antwortete eine junge Frau, die ihr die Hand zur Hilfe reichte. Sie trug die aktuelle Uhrzeit in eine, auf einem Klemmbrett befestigte, Kladde ein. „Wir erfassen alle Personen, die in den Katakomben tätig sind. Morgen steht hier ein Durchzugsleser, der die Daten dann an den Computer weiterleitet.“

      Starke Scheinwerfer vertrieben die hereinbrechende Dunkelheit und gaben der Szenerie eine kalte, fröstelnde Stimmung. Geschäftig montierten Kollegen der Einsatztruppe entlang des Zauns, auf einer vorbereiteten Fläche, Einsatzcontainer. Zweistöckig, wie sie feststellte. Vom Verteilerkasten des Elektrizitätswerkes wurden armdicke Kabel verlegt. Während der Kranwagen die Container vom LKW herunterhob, stellten Techniker, über vorinstallierte Steckverbindungen, die Stromversorgung her. Damit war der betreffende Einsatzbereich sofort nutzbar und konnte bezogen werden. Jeder Handgriff saß.

      „Sie werden im alten Schulgebäude erwartet“, bedeutet ihr die Datenerfasserin „Einen Moment bitte.“ Sie kramte in einem Kasten und reichte ihr einen hellroten Plastikausweis, der mit einer Klemmvorrichtung für die Kleidung versehen war. „Damit kommen sie auch durch die Sicherheitsvorrichtungen. Einfach durch die Leser ziehen und bitte immer offen an der Kleidung tragen.“

      Sie trug noch den Einmalanzug. Wo war der Unimog? „Soll ich künftig in den Klamotten herumlaufen?“, fragte sie Fabian.

      „Komm“, sagte er und grinste dabei, wie ein Honigkuchenpferd. Irgendein Gedanke belustigte ihn offensichtlich. Er ging auf die Containerreihe zu und steuerte den Vierten Doppelstöckigen an. „Du musst deine neue Identkarte benutzen“, meinte er kurz davor. „Ich komme dort nicht hinein.