Vergessene Zeit. Elisa Scheer

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Название Vergessene Zeit
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737558815



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passte es aber meistens zum Gang der Handlung. Personal mit Eigenleben – war ich ein Genie oder zu schwach, meine Story im Griff zu behalten?

       Silvia war heilfroh, als sie wieder zu Hause war. Zwei Themen hatten die große Familienrunde beherrscht – die grundsätzliche Amoral von Anwälten, untermauert mit Beispielen aus amerikanischen Gerichtssoaps, und die Frage, warum die Frauen von heute nicht mehr ihren regenerativen Pflichten nachkommen wollten. Dabei richteten sich die anzüglichen Blicke diverser ältlicher Tanten streng auf Silvia, die, vom Rheinwein befeuert, sofort fragte, wann diese Tanten denn etwas zum Fortbestand der Menschheit beigetragen hätten. Da sie alle „keinen abgekriegt“ hatten, wie ihr Vater abfällig zu bemerken pflegte, verstummten sie sofort beleidigt, aber ihr Vater fühlte sich bemüßigt, das Thema zu vertiefen: Wenn sie weiterhin so albern auf Karrierefrau mache, werde sie auch keinen abkriegen – Männer schätzten so etwas nicht.

       Das provozierte Silvia zu einer flammenden Tirade über das schwache Geschlecht, das, komplexbehaftet und nicht mit dem Hirn denkend, nichts auf die Reihe kriegte und trotzdem immer als Held dastehen wollte, und endete damit, dass sie türenknallend aus dem Haus rauschte und ihre ganzen dämlichen Geschenke einfach stehen ließ.

      Jammerschade, dass für dieses Gespräch kein Platz war – es hätte mir großes Vergnügen gemacht, das ausführlicher zu gestalten!

       Ihr Jähzorn würde ihr irgendwann einmal Ärger machen, das wusste sie. Gut, heute war es gleichgültig, denn in der Geschenketüte befand sich nichts, was sie wirklich haben wollte. Außer vielleicht „Die erfolgreiche Frau“, unveränderte Neuauflage eines Klassikers von 1962 – das wäre wenigstens ein richtiger Lacherfolg gewesen... man hätte sich gegenseitig daraus vorlesen und dann prustend zurück ins Sofa fallen können. Notfalls kaufte sie sich den Schmöker eben selbst, aber zu ihren Eltern (Mama hatte den ganzen Tag in der Küche verbracht und war kaum zum Vorschein gekommen) würde sie so bald nicht mehr fahren.

       Hoffentlich rastete sie nicht eines Tages im falschen Moment aus, etwa während eines wichtigen Plädoyers!

      Oder weil der böse Thomas so viel dummes Zeug redete, plante ich weiter. Mist! Aus Symmetriegründen musste jetzt auch noch Leonard, der sicher gerade dabei war, zu seiner Meditationsmusik wegzuknacken, mit seinen üblen Gefühlen hadern. Ich blätterte mit der Pfeiltaste zurück und setzte den Cursor neu.

       Solche Weibchen hasste er besonders, aber noch mehr regten ihn diese markigen Kerle auf, die den tollen Macho gaben und so taten, als hätten sie die Welt im Griff und alle Mädels lägen ihnen zu Füßen. Blöde Angeber, da hätte er manchmal am liebsten zugeschlagen!

      Ja, das war ziemlich stimmig. Gut, an den Details sollte ich noch feilen, aber es schien doch voranzugehen, oder?

       Über die Wohnung senkte sich Stille; Silvia erfrischte sich mit den neuesten Entscheidungen des Oberlandesgerichts Hamm, Leonard war beim Meditieren eingenickt, und Johanna entwarf ein flammendes Plädoyer gegen Tiertransporte. Der Störenfried war noch nicht da. Alle drei fragten sich, warum sie das vierte Zimmer an diesen Kerl vermietet hatten. Gut, damals hatte er sehr nett gewirkt, charmant und jungenhaft – aber eigentlich passte er nicht zu ihnen, und jetzt fanden sie keinen Grund, ihn rauszuwerfen.

      War das nicht ziemlich platt? Da war doch sofort klar, dass der ermordet werden musste!

      Und wenn jemand anderes das Opfer wäre? Und der böse Thomas Hauptverdächtiger? Und dann war er´s doch nicht? Jetzt hatte ich auf jeden Fall keine Lust mehr. Der doofe Thomas mit seiner Sandra, die mühsam ihren Zorn verbarg, konnte auch später kommen.

      Gab´s nicht was im Fernsehen? Nein, nur Blödsinn. Aber da lag noch ein Krimi herum – sollte ich den lesen oder würde er mich nur von meiner Linie ablenken? Ich beschloss es zu riskieren und legte mich mit dem Schmöker auf den Balkon. Nein, der würde mich nicht beeinflussen, das war wieder mehr die Serienmörder-Schiene, die mir ohnehin nicht besonders lag. Immerhin war der Krimi außerordentlich spannend, und das genügte, ich brauchte jetzt Ablenkung von der Tatsache, dass mein Entwurf irgendwie platt und vorhersehbar war. Es sei denn, ich drehte die ganze Sache wirklich noch –

      Das Telefon läutete. Nicht schon wieder Kathrin! Wenn sie mir so im Nacken saß, kam ich doch nie voran! Ich wartete, bis sich der Anrufbeantworter einschaltete, und hörte Jörgs Stimme. Eilig rannte ich hin und riss den Hörer von der Gabel. „Ich bin schon da!“

      Leises Lachen. „Versteckst du dich wieder vor deiner Domina?“

      „Ja“, grollte ich, „sie nervt, wegen dieser dämlichen Weihnachtsgeschichte. Morgen muss ich ihr was zeigen.“

      „Und du hast nichts“, folgerte Jörg, der mich etwas zu gut kannte.

      „Doch, schon, aber das ist der letzte Scheiß, ehrlich. Ich wüsste als Leser schon nach den ersten zwei Sätzen, wer wen warum umgebracht hat.“

      „Das glaubst du doch immer. Soll ich dich ein bisschen ablenken? Wir könnten kurz an den Mönchensee fahren. Da ist es zwar total voll, aber du musst wenigstens nicht an Weihnachten denken. Ist ja pervers, bei dieser Hitze.“

      Dankbar stimmte ich zu, ich musste jetzt wirklich hier raus. Und zu meiner bescheuerten WG fiel mir im Moment ohnehin nichts mehr ein.

      Jörg holte mich zehn Minuten später ab; ich hatte gerade noch Zeit gehabt, den Laptop zuzuklappen und mir ein Kleid überzuziehen.

      Am Mönchensee war es so voll, als gebe es dort etwas Besonderes, nicht nur einen künstlichen und dafür ziemlich schlammigen und mittlerweile auch lauwarmen See. Etwas dünner war die Menschentraube nur am jenseitigen Ufer um dieses Bootshaus, in dem im Frühsommer eine junge Frau ermordet worden war; anscheinend war das den meisten Leuten noch unheimlich.

      Wir fanden mit Mühe und Not noch einen Platz für unsere Handtücher und streckten uns aus. „Man sieht, wie fleißig du warst“, spottete Jörg.

      „Woran?“, fragte ich träge. War das heiß! „Du bist verdächtig braun. Bist du sicher, dass du schon was geschrieben hast?“

      „Ja, verdammt. Ungefähr zehn Entwürfe, einer dümmer als der andere. Höhne nicht, schmier mich lieber ein!“

      Ich hielt die Flasche hoch; Jörg rieb mir rasch und geschickt den Rücken und die Beine ein und gab mir einen liebevollen Klaps auf den Hintern.

      „Tausend Dank. Wie geht´s denn bei dir voran?“

      „Ganz ordentlich. Ich bin schon beim letzten Kapitel.“

      „Kunststück“, murrte ich und ließ den Kopf auf die verschränkten Arme fallen, „so was könnte ich auch schreiben. Tastenkombinationen, Pull-down-Menus... du musst dir wenigstens nichts ausdenken. Textverarbeitung ist einfach so, wie sie eben ist.“

      „Stimmt. Weißt du noch, als die Dammerer in der K 13 plötzlich mit dem Kreativen Schreiben angefangen hat? Ich war so was von fertig und musste dir eine Story abkaufen. Da hattest du doch jede Menge Geschichten?“

      „Es ist ein Unterschied, ob bloß die Dammerer den Quatsch gelesen hat oder Kathrin. Die ist so was von streng! Und wenn sie mir was durchgehen lässt, muss es der Falkenstein noch lange nicht tun. Der schreibt selbst, der weiß wirklich, was er sagt.“

      „Und wenn die Kritik berechtigt ist, tut sie am meisten weh“, bestätigte Jörg und drehte sich auf den Rücken. Ich legte mich auf die Seite, um ihn ansehen zu können.

      „Da hast du verdammt Recht. Und gerade so Worte wie unoriginell oder vorhersehbar sind besonders niederschmetternd. Man möchte doch gerne das ganz Neue und Unerwartete produziert haben.“

      „Ja... Oder dass jemand sagt Endlich mal ein Handbuch, mit dem man etwas anfangen kann! Was ich schreibe, ist immer nur eins von vielen – aber man kann davon leben.“

      „Leben kann ich davon auch. Und wenn ich noch drei, vier richtig gute Romane nachschiebe, dann kann ich sogar gut davon leben. Ein Roman ist einfacher, finde ich.“

      „Ehrlich?“