Vergessene Zeit. Elisa Scheer

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Название Vergessene Zeit
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737558815



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Bildschirm hatte etwas sehr Deprimierendes an sich. Ich sollte etwas hinschreiben, irgendwas.

      Eine Frau erschießt den Nikolaus.

      Na gut, aber warum? Wenn er einer von unseren Nikoläusen war, dann kam er vom Jobdienst der Uni, ein harmloses Drittsemester oder so. Wie wär´s mit einem Hauch Verhängnisvolle Affäre? Nicht schlecht. Sie hatte was mit ihm, als er im Sommer als Surflehrer gejobbt hat – und nun will er nicht loslassen und kommt extra zu ihnen als Nikolaus und macht Andeutungen, die nur sie versteht. Und ihr Mann ist steinreich (deshalb ist auch eine Waffe im Haus) und sie will weder das Geld noch die beiden wohl erzogenen Kinder verlieren, nur weil sie sich mal mit einem Surflehrer amüsiert hat.

      Ja, stimmig war das schon – aber wie sollte ich daraus ein Rätsel basteln? Sicher, das Motiv lag nicht auf der Hand, aber meine altbewährte Kommissarin Gabriele Gärtner kriegte das doch im Handumdrehen heraus!

      Ich brauchte falsche Fährten. Und eine weniger offensichtliche Mordmethode. Aber vergiftete Lebkuchen? Mit naschhaften Kindern im Haus? Natürlich könnte der reiche Ehemann aus Versehen so einen Lebkuchen... sie bricht zusammen, ihr geliebter Mann! Nein, Blödsinn, da war ihr Motiv doch noch viel offensichtlicher!

      Man könnte eine richtige Nikolausparty veranstalten... Mehr Gäste, mehr Motive? Aber dass alle Gäste diesen zufällig aufgetauchten Nikolaus kennen sollten – waren sie alle bei diesem Surfurlaub?

      Ich hatte schon wieder keine Lust mehr. Halt – die Gastgeberin erzählt ihrer Freundin, wer der Nikolaus ist, und die kann mit dem Namen etwas anfangen, weil er ihre kleine Schwester geschwängert hat und dann verschwunden ist...

      Ich begann hektisch zu tippen. Und der Ehemann ist eifersüchtig, weil der Nikolaus einen Kopf größer ist und muskulös wirkt (unter der roten Kutte??) und seiner Frau so zweideutige Blicke zuwirft... Drei Verdächtige – reichte das nicht für eine Geschichte von fünfundzwanzig Druckseiten? Ich amüsierte mich köstliche fünf Minuten lang damit, die Seite so einzurichten, dass eine getippte exakt einer gedruckten Seite entsprach.

      Los, einen Verdächtigen noch! Eine weitere Mutter hat einen erwachsenen Sohn, dem dieser Nikolaus einen wissenschaftlichen Hilfsjob weggeschnappt hat. Erstklassiges Mordmotiv, diese Jobs wurden doch so grausig schlecht bezahlt! Ich speicherte den bisher verfassten Schwachsinn, klickte so lange auf ENTER, bis ich den Kram nicht mehr sehen musste, und begann von neuem. Nix mit ermordetem Nikolaus!

      Zickenalarm? Böse junge Frau, die die einen verführt, die anderen erpresst und überhaupt nur aufs Geld schaut... Sie könnte in ihre eigene Falle laufen... Und wie sollte die Falle aussehen?

      Fünf.

      Nichts Brauchbares geschrieben, nichts eingekauft, nicht in der Sonne gelegen, den herrlichen Sommertag nicht genossen. Ich war doch wirklich die Allerärmste weit und breit, alle anderen lagen jetzt an irgendeinem Sandstrand.

      Könnte ich auch, wenn ich die doofe Geschichte gleich im Juni geschrieben hätte! Und irgendwann musste ich Mord pauschal für die zweite Auflage noch einmal durchsehen... Meine Steuererklärung war auch noch nicht gemacht... Nichts mehr zu trinken im Haus...

      Erstmal einkaufen! Im Hochsommer war die Innenstadt zwar ekelhaft, heiß, staubig, alle netten Läden hatten Betriebsurlaub, die Ozonwerte waren schauerlich, in den Straßen stand die Hitze – aber wenigstens waren die Wege kurz. Ich holte mir einige Flaschen Diätcola, Zigaretten, ein paar Tüten Chips und einige Mikrowellenmenüs – kochen konnte ich bis heute noch nicht, mit vierunddreißig war das auch keine besondere Leistung.

      Das San Carlo sah viel versprechend aus. Hatte ich mir nicht ein leckeres Eis mit Früchten verdient? Eigentlich nicht, musste ich zugeben. Ach, egal, vielleicht regte das Eis mich ja an! Ich stapelte meine Einkäufe im Schatten des Tisches auf, setzte mich und zückte mein Notizbuch, in dem ich Ideen, wenn sie denn mal kamen, sofort zu notieren pflegte. Im Allgemeinen so kryptisch formuliert, dass ich später nicht mehr viel damit anfangen konnte.

      Die Kellnerin nahm meine Bestellung entgegen; ich zündete mir eine Zigarette an und starrte auf die jungfräulich weiße Seite.

      Eis – Schnee und Eis – eingeschneit – Hüttenkoller – Aggressionen kochen hoch – Freundeskreis mit alten offenen Rechnungen – in die Wunde am Hinterkopf passt genau die Skibindung des Oberverdächtigen, aber der war´s natürlich nicht, sondern jemand, der ihn reinreißen wollte... und am Ende war´s dann noch jemand anders, und die Wahl der Waffe war der nackte Zufall, weil das die einzigen Ski waren, die nicht weggeschlossen waren... wer hatte zum Skischuppen keinen Schlüssel?

      Gar nicht so blöde!

      Aber jetzt musste ich diesen Freundeskreis skizzieren – knapp (fünfundzwanzig Seiten!), aber signifikant (sonst waren für den geübten Leser die Motive zu unklar). Konnte das Opfer wunde Punkte getroffen haben? Lebenslügen aufgedeckt?

      Mein Eis kam. Schokolade, Nuss, Kokos – und dazu dieses hinreißende Waldbeerenkompott, das es nur hier gab.

      Ich löffelte und spürte, wie sich meine Laune hob. Extrem lecker, wirklich. Man könnte einem Diabetiker Zucker ins Essen – fiel der dann ins Koma, oder brauchte er bloß eine Insulinspritze? Das ließ ich lieber, davon verstand ich rein gar nichts. Müsste man alles mal recherchieren – aber dafür hatte ich jetzt wirklich keine Zeit.

      Alle meine Entwürfe waren blöde, dämlich wie der Schicksalsfilm der Woche! Wenn ich so weiter machte, endete ich noch als Drehbuchschreiberin bei einem der minderen Privatsender. Fette Kohle gab das ja vielleicht, aber der schlechte Ruf... Nein, ich wollte meinen Namen richtig gedruckt sehen, auf den schönen schwarzen Krimis von Winkler & Lange.

      Los, an die Arbeit. Weihnachtsfeier in einer Firma? Gift im Punsch aus dem Plastikbecher? In einer Firma gäbe es wenigstens Motive satt, vielleicht will einer rationalisieren und Leute rausmobben, überlegte ich. Verstand ich was von Firmenabläufen? Nein, aber ich wusste, wen ich da fragen konnte.

      Hm. Das gefiel mir auch nicht so recht. Gab es denn nicht irgendeine wirklich zündende Geschichte? Einen Plot, der sich praktisch von selbst schrieb?

      Mein Eis war gegessen und mein schlechtes Gewissen regte sich wieder. Jetzt hatte ich den Nachmittag wirklich komplett vertrödelt – mehrere unbrauchbare Plots mit gigantischen Löchern in der Logik waren wirklich keine Ausbeute, ein gut gekühlter Magen und eine aufgeräumte Küche auch nicht.

      Mist, wirklich! Wütend auf mich selbst, zahlte ich, sammelte meine Tüten ein schlurfte nach Hause.

      Fast sieben. Und noch hatte es kein bisschen abgekühlt. In den engen Altstadtgassen staute sich die Hitze, und es stank nach Autoabgasen, Döner, Pizza und angegammeltem Gemüse, ganz abgesehen von den Leuten, deren Deodorant vor der Sommerhitze kapituliert hatte.

      An Tagen wie diesen hätte ich mir ein biederes Reihenhäuschen irgendwo draußen – Waldstetten, Kirchfelden, Mönchberg richtig gut vorstellen können. Andererseits...Summer in the City: draußen sitzen, nächtliche Spaziergänge, Biergärten, das Helenenbad, in zehn Minuten in allen Kinos, Theatern und Museen (abgesehen von Ludwigskron). Mit vierzig konnte ich immer noch über ein Reihenhäuschen nachdenken – wenn ich bis dahin genügend Krimis geschrieben hatte und genügend Leute sie auch gekauft hatten. Wenn ich natürlich so weitermachte wie heute, konnte ich froh sein, wenn ich mein kochendheißes Möchtegern-Loft nicht verkaufen musste, dachte ich finster und wartete auf den knarrenden Lastenaufzug. Wie in einem Avantgarde-New York-Film...

      Die Hitze traf mich wie ein Schlag, als ich meine Tür aufgeschlossen hatte. Grauenvoll! Und alle Fenster gingen auf die gleiche Seite raus (Südwesten, was sonst), also konnte man keinen Durchzug machen. Ich verräumte meine Einkäufe, knackte gleich das erste Cola und ließ fast einen halben Liter durch meine Kehle laufen. Lauwarm, äh. Ich setzte die Flasche ab, rülpste kunstvoll und lautstark und stellte die Flasche in den Kühlschrank.

      Das Laminat unter meinen nackten Füßen klebte. Schweißfüße oder dreckiger Boden? Schweißfüße, ermahnte ich mich streng, jetzt wurde geschrieben und nicht etwa gründlich feucht aufgewischt!

      Ich scrollte wieder weiter, bis ich die bisherigen Peinlichkeiten