Vergessene Zeit. Elisa Scheer

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Название Vergessene Zeit
Автор произведения Elisa Scheer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783737558815



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ausgehen – von der Person des Opfers natürlich.

      Hm – also das Opfer. Ja.

      Das Opfer. Eine Frau, das zieht besser. Eine Exfrau... ohne Kinder, sonst taten die mir nachher wieder Leid, die mutterlosen Lämmchen. Ich war für Krimis zu weichherzig, jedenfalls hätte ich nie diese gruseligen Serienkillerdinger schreiben können, bei denen man schon glauben konnte, die Autorin (es gab wirklich grausame Frauen) sei ein bisschen krank im Kopf. Ja, aber so etwas sollte ich jetzt ohnehin nicht verbrechen, also konnte ich nicht endlich mal bei der Sache bleiben?

      Der Fußboden war wirklich ganz schön schmierig, und man sah, wo ich vorhin mit schweißfeuchten Füßen gestanden hatte.

      Das Opfer. Eine Exfrau. Jetzt musste sie erst einmal einen Namen kriegen, dann konnte ich sie mir doch gleich besser vorstellen. Ein bisschen Jetset, ein bisschen gewöhnlich. Blondgesträhnt, vielleicht sogar geliftet... Priscilla. Nein, so hieß hier wirklich keiner. Am besten etwas Bodenständiges, das sich hip aufmotzen ließ. Franziska -> Frances, tippte ich. Nein, Franziska war ein netter Name, ich brauchte was, das mir selbst unsympathisch war. Wie hatte diese dusselige Kuh im Deutsch-LK geheißen, die, die immer so esoterische Interpretationsversuche gestartet hatte? Wo sogar die arme Kursleiterin unwillkürlich die Augen zum Himmel verdreht hatte, sobald die - die Gerlinde, genau! sich wieder fingerschnipsend gemeldet hatte und anfing: „Ich würde ja meinen, dass...“

      Die Charakteristik in der Abizeitung war nur knapp am Tatbestand von Verleumdung und Beleidigung vorbeigeschrammt – nein, nach der Abizeitung suchte ich jetzt nicht! Auch nicht zur Entspannung! Na gut, wenn ich das Personengerüst hatte, dann vielleicht. Also, Gerlinde. Gerlinde war ziemlich prima. Natürlich würde sie sich Linda nennen, das hatte etwas angenehm Internationales.

      Gut, Linda, Nachname später, Ende dreißig, blondgesträhnt, geldgeil (natürlich), kleineren Drohungen und Erpressungen nicht abgeneigt. Einen Job musste sie natürlich auch haben, etwas Schickes und zugleich Bescheuertes – Klamotten? Nagelstudio? Permanent Make-up? Oder etwas Besseres? Anwältin? Unternehmensberatung? So eine hatte doch dann wohl genug Geld... Brokerin? Und ein paar Kunden falsch beraten?

      Boutique gefiel mir noch am besten. Wie konnte man da vergrätzte Kundinnen einbauen? Die gute Linda konnte sich verplappert haben, wenn eine Kundin sich von verschiedenen Herren hatte beraten und vielleicht sogar beschenken lassen. Das war gar nicht so schlecht!

      Und dann war da natürlich noch der Exmann, dessen neues Glück sie gefährdete. Wer hatte wen verlassen? Am besten sie, wegen eines Jüngeren, Fitteren, der aber dann die Fliege gemacht hatte – ein Klischee am anderen. Und nun wollte sie den Ex zurück, und weil sie viel glamouröser war als Nummer zwei, hatte die einen Heidenschiss vor ihr. Auch ein Motiv... Mehr! Diese Linda musste stellenweise ein bisschen dumm sein, so dass sie nicht merkte, wenn sie dem Falschen etwas Verräterisches erzählte, zugleich aber gewitzt genug, manche Leute gezielt zu erpressen. Ihr Bruder vielleicht noch – Erbprobleme?

      Und wieso sollten die alle sich auf einer Weihnachtsfeier versammeln? Die müsste ja dann schon sie selbst veranstalten – Nummer zwei würde weder sie noch die Kundin noch den Bruder einladen.

      Gut, die Kundin könnte zugleich geschäftlich mit dem Ehemann zu tun haben, und der Bruder ist vielleicht ein netter Kerl und immer noch mit seinem Schwager befreundet. Aber wer würde Linda einladen?

      Jemand müsste sie mitbringen, und dann sind alle zu höflich, sie rauszuschmeißen... Dann könnte der Mord aber doch eigentlich nicht mehr geplant sein? Hm.

      Dann brauchte ich eine Waffe, die immer schon da war. Und natürlich noch eine/n Verdächtige/n, der es dann auch war. Viel Zeit hatte ich schließlich nicht, das alles auszuarbeiten.

      Apropos Zeit – jetzt war es Viertel nach acht, und ich musste meinen Freitagskrimi gucken. Das war schließlich streng dienstlich, vielleicht kam ich ja auf gute Ideen. Und um zwanzig nach zehn kam noch ein Krimi... Mal schauen, was ich abkupfern konnte!

      Ich speicherte meine schrägen Notizen, lümmelte mich auf mein fast authentisches Fifties-Sofa mit der nierenförmigen Rückenlehne und den dünnen gespreizten Beinchen und griff zur Fernbedienung.

      Nichts gegen die Fünfziger, Nierentische, Petticoats, Heinz-Erhard-Filme... aber einen Fernseher von damals hatte ich dann doch nicht gewollt. Ein Riesengehäuse und ein winziger Bildschirm? Nur ein Programm? Nein, für mich musste es schon ein 16:9 Flachbildschirm sein. Leider hatte das Finanzamt mir nicht abgekauft, dass ich ihn nur zu beruflichen Zwecken brauchte. Rechner ja, Fernseher nein, da war die Tante hinter dem Schreibtisch unerbittlich geblieben: Sie behaupte ja auch nicht, sie sehe sich nur WiSo an!

      Der Krimi war das Übliche, und der fiese Geschäftsmann (den spielte ja auch immer derselbe, oder? Ein Blick auf ihn und man wusste: Du bist gleich tot, Süßer) war bloß erschossen worden. Das konnte ich nicht gebrauchen. Aber die Schwester der Ehefrau, die mit diesem fanatischen Blick – aus der könnte man vielleicht etwas machen. Einen fanatischen Blick sollte ich auch verwenden. Andererseits verlangten die klassischen Regeln, keine Wahnsinnigen einzubauen. Gut, nicht wirklich durchgeknallt, nur so ein bisschen, und der (oder die) Betreffende durfte das gelegentlich schon mal anklingen lassen. Dann war ich doch fair, oder?

      Ich kritzelte einige Stichpunkte in mein Notizbuch und war eigentlich schon recht zufrieden mit mir. So viel fehlte doch gar nicht mehr? Mordmethode? Mordmotiv? Handlung? Aufbau? Die übrigen Charaktere? Naja, schon noch so einiges...

      Bis zum Einunddreißigsten wäre ich noch gut beschäftigt, eindeutig.

      Der nächste Krimi spielte in einem düsteren Milieu – Downtown L.A.? – und gab für meine Zwecke schon gar nichts her. Außerdem verstand ich ihn nicht, und dass der ermittelnde Beamte mit der Hauptverdächtigen etwas anfing, erschien mir dann doch leicht unrealistisch. Aber spannend war das Ganze, auch wenn es als Flop des Tages abqualifiziert wurde. Und danach gab es noch einen Spionagethriller aus dem Fünfzigern, schwarzweiß – in jeder Hinsicht: edle Amis und böse Russen, die alle aussahen wie Stalin persönlich.

      Oh – zehn nach zwei! Ich fuhr mir gerade noch matt mit einem Abschminkpad übers Gesicht, putzte mir flüchtig die Zähne und fiel ins Bett.

      Dass der Wecker um acht Uhr loströtete, freute mich wenig. Acht Stunden Schlaf war doch wohl das Mindeste, was ich vom Leben erwarten konnte! Und das waren nur - äh – weniger als sechs, jedenfalls. Und auf dem Tisch stand mein Laptop. Zugeklappt, aber trotzdem der personifizierte Vorwurf.

      Nach dem Zähneputzen setzte ich mich schicksalsergeben an den Schreibtisch. Also, weiter im Text!

      Das Nachthemd war auch nicht mehr das Frischeste. War wohl die Hitze – um halb neun Uhr morgens hatte es schon mindestens fünfundzwanzig Grad, und diese Luftfeuchtigkeit... Nein, ich durfte an Waschen, Bettbeziehen und ähnlich schöne Dinge gar nicht denken.

      Linda, die Böse.

      Ich las mir durch, was ich zu ihr notiert hatte, und schnaufte angewidert. So ein Schwachsinn! Aber löschen wollte ich das auch nicht, vielleicht konnte ich noch irgendetwas davon verwenden? Also scrollte ich wieder weiter und starrte auf den frustrierend leeren Bildschirm.

      Mörderische Weihnachten... Verdammt, dazu musste sich doch etwas finden lassen – und zwar etwas, das ich nicht irgendwo geklaut hatte.

      Und wenn der Christbaum abbrannte? Und genau der Richtige in den Flammen umkam? Wer sollte vermuten, dass das kein Unfall war?

      Nein, das war auch Blödsinn. Ich brauchte ein kleines, feines Familienverbrechen. Und wie wäre es denn mit dem alten Alibi-Trick? Die Ich-Erzählerin war es am Ende selbst?

      Uralt. Und wenig originell, wirklich.

      Musste es eigentlich überhaupt ein Mord sein? Konnte gerade an Weihnachten nicht etwas Harmloseres Genügen – verschwundene Geschenke oder so? Mörderische Weihnachten – da konnte ich es nicht billiger geben. Mord musste sein, ganz klar.

      Der Nikolaus kommt doch. Und er hat ein Engelchen dabei, das auch richtig engelhaft aussieht – und das ist dann die Mörderin (lange offene Rechnung). Gar nicht so übel...

      Und