Ehre, wem Ehre gebührt. Charlie Meyer

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Название Ehre, wem Ehre gebührt
Автор произведения Charlie Meyer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847623359



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beträufelt und Schnecken in Worcestersoße dippt. Pfui Deibel.«

      »Nagel dich selbst ans Kreuz, du Blödmann.«

      Das Geplänkel ging weiter. Einer suchte den anderen an Esprit zu übertreffen, und die kleinen Gemeinheiten flogen in der Geschwindigkeit geschmetterter Tennisbälle hin und her. Ein Wortgefecht, wie es sich nur gute Freunde leisten können. Bonnie vermutete jedoch bald, dass die Kabbelei gewissermaßen ihr zu Ehren abgehalten wurde. Beide hatten offenbar ein Publikum gesucht und gefunden.

      Schließlich packte der schlaksige Hüne den Kleineren am Nacken und führte den sich heftig Sträubenden einfach ab. Bonnie blickte ihnen hinterher und schüttelte den Kopf. Pubertäres Geschwafel, dachte sie spöttisch. Die beiden sollten sich als Komikerduo beim Film bewerben. Stan und Ollie. Sie lächelte ein zweites Mal. Pat und Patachon? Nein, besser: Don Quijote und Sancho Panza. Was für eine Art von Freundschaft mochte sie miteinander verbinden? Hatten sie schon zusammen im Sandkasten gespielt oder dieselbe Berufsausbildung durchlaufen? Eine Eigenschaft verband sie mit Sicherheit. Sie strahlten mehr Selbstbewusstsein aus als Tschernobyl tödliche Strahlung nach seinem Super-GAU. Ebenso gut hätten sie sich Schilder auf die Rücken pappen können: Hohenfurter und Zugereiste - ihr könnt uns alle mal.

      Irgendwie beneidenswert. Sie schlenderte durch die engen verwinkelten Gassen der Altstadt mit ihren krummen Fachwerkhäusern, weg vom Trubel der Fußgängerzone, und fühlte sich klein, hässlich und bemitleidenswert. Sie dachte an ihre mehr oder minder unbeschwerte Lässigkeit, mit der sie ihr Leben früher gemeistert hatte, und kam sich wie ein Wurm im Schnabel eines Raben vor. Würde er ihn schlucken oder in der Mitte durchbeißen? Ein Entkommen schien kaum möglich, auch wenn sie Hunderte von Kilometern zwischen sich und Gut Lieberthal brachte. Es kam ihr plötzlich vor, als schmiede ihr die Zeit hier in Hohenfurt eine eiserne Sträflingskugel an den Fuß. Wenn sie nicht Obacht gab, würde sie sich später in Berlin darüber wundern, dass sie nicht vorwärtskam.

      Noch zwei Tage bis zur Beerdigung, achtundvierzig Stunden, in denen voraussichtlich unzählige Von‘s und Zu‘s über das Rittergut herfielen wie hungrige Heuschrecken über eine Wüstenoase. Geladene Verwandte und Freunde der Gutsbewohner, alles, was Rang und Namen hatte, um - wenn denn schon nicht ihr - so doch der Gräfin zu kondolieren. Vielleicht waren sie mittlerweile auch neugierig genug, das Kalb mit den zwei Köpfen besichtigen zu wollen. Jetzt, wo es quasi schon geschlachtet war. Es konnte immerhin sein, das es noch ein letztes Schauspiel bot und sich kreischend die Haare raufte.

      Am späten Nachmittag bestellte sie sich in einem kleinen Lokal mit rustikalen Holzmöbeln eine Zwiebelsuppe und ein Glas Wein und kämpfte um jeden Bissen. Ihr Bus, der die Dörfer nördlich von Hohenfurt abklapperte, fuhr erst in einer Stunde vom ZOB ab, dem Zentralen Omnibus-Bahnhof, wie die fünf Parkbuchten für Busse hinter dem Wall großspurig genannt wurden. Sie hatte sich im Reisebüro erkundigt. Er fuhr nur zweimal pro Tag, frühmorgens und gegen Abend, und man musste dem Busfahrer Bescheid sagen, dass er am Gut halten sollte, sonst brauste er, wie gewöhnlich, einfach vorbei. Es gab keine reguläre Haltestelle. Bonnie war froh, wenigstens die Kosten fürs Taxi einzusparen. Die neuen Kleidungsstücke und ihre Zugfahrkarte nach Berlin hatten ihr Monatslimit an Ausgaben schon weit überschritten.

      Sie löffelte die Suppe und grübelte ins Leere. Nur einmal schreckte sie hoch, als sie aus dem Augenwinkel einen langen schwarzen Schatten am Fenster vorübergleiten sah. Die Weißenstein’sche Limousine? Kurvte Fernandel auf der Suche nach ihr kreuz und quer durch die Stadt? Im Auftrag der Gräfin, bevor sie die angeheiratete Verwandtschaft vollends blamierte? Vielleicht durchkämmte ohnehin schon die Nationalgarde die Straßen, und eine Hundemeute schnüffelte sich auf ihrer Spur heran, mit dem Baron vorweg, im roten Rock auf hohem Ross. Als die Zeit gekommen war, zahlte sie und ging ungehindert ihrer Wege. Weder Hunde noch Gardisten stürzten sich auf sie.

      Der Überlandbus, gelb und schlammbespritzt, stand schon in seiner Bucht des ZOB in den Startlöchern. Sein Fahrer, ein kleiner spilleriger Kerl auf einem dicken Kissen, starrte sie überrascht an, als sie einstieg und noch überraschter, als sie kundtat, am Gut wieder auszusteigen. Sein Mund, der sich öffnete und dann wieder wortlos schloss, veranlasste Bonnie nach hinten durchzugehen. Ihr war nicht nach Reden, schon gar nicht darüber, was es mit ihr und dem Gut auf sich hatte. Zehn Minuten nach der regulären Zeit, als sich partout kein zweiter Fahrgast einfinden wollte, heulte der Motor auf, das Getriebe kreischte in höchster Qual. Der Bus schoss aus seiner Parkbucht, verfehlte knapp einen Mann im Rollstuhl auf einem Zebrastreifen, und in weniger als zwei Minuten war Hohenfurt nur noch eine kleine Ansammlung verträumter Fachwerkhäuser im Rückspiegel.

      Bonnie fühlte sich im Bus seltsam heimisch. Zwischen zwei Sitzen steckte eine zusammengeknautschte Bierdose, der Kunststoff der Sitzes vor ihr war aufgeschlitzt und das Fenster so zerkratzt wie das Eis einer Schlittschuhbahn am Ende des Winters. Mit anderen Worten, dieser Überlandbus sah genauso aus wie jeder beliebige Stadtbus in Berlin. Zu wissen, dass wenigstens die Hohenfurter Jugendlichen insofern normal waren, als sie wie alle übrigen Jugendlichen der Nation ihren Frust im Vandalismus auslebten, tröstete sie. Irgendwie jedenfalls.

      Seiner äußeren Erscheinung nach stammte der Bus entweder noch aus der Nachkriegsära oder von einem VEB-Restpostenverkauf nach dem Untergang der DDR. Er hörte sich auch so an. Außerdem fehlte die Federung, und den schwarzen Rauchwolken nach, die sich hinter ihm zu einer dichten Wolke verdunkelten, hatte das Fahrzeug mit Sicherheit nie an einer Abgasprüfung des TÜV teilgenommen. Der Motor krächzte, hustete und spuckte. Er hörte sich an wie ein Kettenraucher kurz nach dem Erwachen. Ab und an röhrte er wie ein liebeskranker Elch. Bonnies strategischer Rückzug in den hinteren Teil des Busses war wegen des Geräuschpegels überflüssig. Es erwies sich auch als unklug. Ihr Magen bestärkte sie eindringlich in dem Gefühl, um die Kurven zu schleudern, statt zu fahren, und die Suppe in ihrem Magen schwappte die Speiseröhre wieder nach oben. Eine Weile schluckte sie gegen das Würgen an, aber eine scharfe S-Kurve mitten im Wald fand sie dann doch schwankend und grüngesichtig auf dem Weg in den vorderen Teil des Busses. Der spillerige Fahrer auf seinem dicken Kissen ließ im Rückspiegel seine Goldkronen aufblitzen und trat das Gaspedal durch. Wenigstens einer, der sich amüsierte.

      Nach einer ganzen Weile erst fiel es Bonnie auf, dass der Busfahrer keineswegs vorhatte, die dreißig Kilometer bis zum Gut auf kürzestem Weg zurückzulegen. Zwischen Hohenfurt und Lieberthal fuhr er eine Zickzackroute, die jeder Beschreibung spottete. Inwieweit Route und Zeit dem Fahrplan entsprachen, entzog sich ihrer Kenntnis. In einem kleinen Dorf jedenfalls, das inmitten von Weizen- und Haferfeldern lag und in dem es tatsächlich noch Misthaufen, Jauchegruben und Kuhställe gab, setzte der Motor mit einem erleichterten Sprotzen erst einmal aus. Pause. Der kleine Spillerige auf seinem Kissen zündete sich ein Zigarillo an und pustete mit aufforderndem Blick Rauchkringel in die Luft. Als ihm sein einziger Fahrgast nicht applaudierte, schlug er achselzuckend eine Zeitung über dem Lenkrad auf. Bonnie beschloss gerade, ihrer Lunge eine Mütze frischer Landluft zu gönnen, als Petrus die Himmelssprenkler aufdrehte. Alle gleichzeitig. Sie ließ sich auf den Sitz zurückplumpsen und starrte resigniert den dicken Tropfen hinterher, die auf dem Straßenasphalt zu Myriaden kleiner Springbrunnen mutierten. Dann fuhr ein gewaltiger Blitz vom Himmel, der Boden erbebte unter dem Donnerschlag und zwei Minuten später schien der Bus durch eine Waschanlage zu fahren. Es fehlten nur die Bürsten. Ein Platzregen donnerte aufs Dach. Wasserfälle rauschten an den Fenstern vorbei. Es war eine Art umgekehrter Aquariumseffekt. Das Wasser war außerhalb des Glases, und drinnen zappelten die Fische auf dem Trockenen.

      Bonnie, einem klaustrophobischen Anfall nahe, suchte sich abzulenken. Sie angelte nach einem Reklameprospekt unter dem Vordersitz. Es erwies sich als kleinformatige Zeitung. Die Lupe. Eine Schülerzeitung - von Schülern herausgegeben, von Schülern gelesen, von Schülern unter den Vordersitz gestopft. Sie strich das zerknautschte Deckblatt glatt, und der Schock ließ die Schrift vor ihren Augen flackern. Sie hielt sich an der Lehne des Vordersitzes fest. Der Atem ging stoßweise, und um ein Haar hätte sie sich die Suppe doch noch über die Knie gespuckt.

      Längere Zeit wagte sie nicht, die Augen zu öffnen. Als sie es wieder wagte, war der Schock nicht geringer geworden. Quentin blickte sie an. Egal, aus welchem Winkel sie das Foto auf der Titelseite der Zeitung auch betrachtete, Quentin blickte sie mit seinen kornblumenblauen Augen unverwandt an. Sie selbst war nur von hinten zu sehen,