Till Türmer und die Angst vor dem Tod. Andreas Klaene

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Название Till Türmer und die Angst vor dem Tod
Автор произведения Andreas Klaene
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738062090



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vor den Toren Den Haags lag. Wieder einmal hatte sie das ganze Reich für sich allein, weil ihr Mann als Flugkapitän für die nächsten drei Tage unterwegs war. In hellblauen Jeans und einem rot-schwarz karierten Hemd stand sie in ihrem riesigen Wohnzimmer an einem schlichten Holztisch. Etwa zwei Dutzend Fotos ihrer Arbeiten lagen wie aus einem Karton geschüttet darauf verteilt. Sie beugte sich darüber, fischte eins nach dem anderen heraus und erklärte Till, was die Bilder in ihrer Eindimensionalität nicht herüberbringen konnten.

      Auch dabei ging es sogleich wieder um jene Meereswesen, für die sie schon als Siebenjährige fasziniertes Staunen empfand. Sie hatte sie durch ihren Vater kennengelernt, der damals als Wissenschaftler im Delfinarium in Harderwijk arbeitete.

      Sie zeigte Till Fotos von einer Bronzeskulptur, die zwei Delfine in ihren rasant gleitenden Bewegungen darstellten. Außerdem das von einem Relief, auf dem sie wie aus einer Wand hervorbrachen, so, als würden sie im nächsten Moment den Raum mit ihren Körpern überfluten.

      »Wie groß muss man sich diese Arbeiten denn vorstellen?«, fragte er.

      »Fast lebensgroß«, sagte sie und schien sich dabei schon auf jedes weitere Staunen zu freuen.

      »Und wer hat Platz und Geld für derart raumgreifende Kunst?«

      »Ein reicher britischer Fernsehproduzent. – Ein sehr reicher«, fügte sie mit einem stillen Schmunzeln hinzu. Dabei sah sie so aus, als überlegte sie, ob die Sonne ihren Auftraggeber über den Geldberg hinweg tatsächlich noch erreichen konnte.

      »Willst du sie sehen?«

      »Die Delfine? Aber sicher, sehr gern. Wo denn, hier im Atelier?«

      »Nein, bei ihm«, sagte sie, entschuldigte sich für einen kurzen Moment und ging aus dem Raum.

      Till konnte hören, wie sie in einem der hinteren Räume telefonierte. Was sie in schneller holländischer Sprache sagte und was nur leise zu ihm herüber drang, verstand er nicht, aber ihre Betonung klang so, als würde sie sich mit jemandem verabreden.

      Mit einer Jacke unterm Arm und ihrem Autoschlüssel in der Hand kam sie ins Wohnzimmer zurück. Einen Schritt vor ihm blieb sie stehen und sah ihn an, als wunderte sie sich darüber, dass er sich für den Besuch bei den Delfinen noch immer nicht die Badehose angezogen hatte.

      »Mach’s nicht so spannend, Marjet! Sag, was hast du vor?«

      »Das wirst du gleich sehen«, sagte sie wie eine, die noch mehr als das Angedeutete im Schilde führte.

      »Komm, lass uns fahren!«

      Sie führte ihn nach draußen, vorbei an Tills Auto zu ihrem langen Volvo und bat ihn, einzusteigen.

      »In ein paar Minuten sind wir da«, sagte sie und fuhr forsch wie ein Taxifahrer, der die Zeit im Nacken hatte, Richtung Zentrum. Sie fing gerade an, Till etwas über die Parks der Stadt zu erzählen, als ein Stau vor einer Baustelle auf der Koningskade sie zwang, auf die Bremse zu treten. Sogleich war ihr anzusehen, dass sie nicht bereit war, den erzwungenen Stillstand mit Geduld hinzunehmen. Sie trommelte mit ihren Fingern aufs Lenkrad und suchte links und rechts nach einer Fluchtmöglichkeit. Schließlich griff sie mit einer entschlossenen Handbewegung ihr glattes braunes Haar, warf es über die Schulter, als müsste sie für die nun folgende Aktion alles Störende hinter sich lassen, schoss links aus der Schlange heraus und bretterte über eine Einbahnstraße einem Ziel entgegen, von dem er noch immer keine Ahnung hatte. Während sie unbeirrt Gas gab, stemmte er seine Finger in die schwarze Lederpolsterung, als könnte er sich so den zu befürchtenden Gegenverkehr vom Leib halten.

      Als Marjet endlich ungeschoren aus der Verbotszone herausge­kommen war, sah sie zu Till hinüber und sagte mit einem Gewinner­lächeln: »Das hätte mein Mann nie gemacht.«

      »Weiß ich«, sagte er und ließ seine Hände nach der Verteidi­gungsschlacht im Sitzpolster auf seinen Knien zur Ruhe kommen.

      »Du kennst ihn doch gar nicht?!«

      »Aber ich weiß, was er macht.«

      »Du meinst, als Flugkapitän kennt man keine Einbahnstraßen?«

      »Ich denke, da oben, wo die Freiheit angeblich so grenzenlos ist, muss man seine eigenen Grenzen umso besser kennen.«

      »Ist schon klar«, sagte sie mit einer kapitulierenden Handbewegung, »aber wir machen auf der Erde unseren Job, und da läuft man dauernd vor irgendwelche Grenzen.«

      »Und wie gehst du damit um?«

      »Mit den Grenzen? Ich fliege auch. Manchmal. Mit meinem Flugzeug in Kopf.«

      »Und dann fliegst du über Einbahnstraßen?!«

      Marjet schmunzelte vor sich hin und sagte: »Nein, das wäre zu langweilig. Im Straßenverkehr muss ich nicht abheben und über Grenzen fliegen.«

      »Wo denn?«

      »Im Verkehr mit Menschen und auch mit meinen Gedanken. Gedanken sind doch oft wie fremde Verkehrsteilnehmer, die einem die Vorfahrt nehmen und sich einfach in den gewohnten Weg stellen.«

      »Oder man hat das Gefühl, dass sie einen überholen.«

      Diese Vorstellung schien ihr zu gefallen. Sie schaute lächelnd vor sich auf die Straße und kam zu dem Schluss: »In solchen Fällen, ich meine, wenn meine Gedanken und Träume mal ganz rasant sind, gebe ich Gas, damit sie mir nicht davonjagen. Dann werde ich immer schneller. Das ist auch fast wie Abheben.«

      »Und was fühlst du, wenn du dann deine Grenzen überfliegst?«

      Über ihre Antwort musste sie nicht einen Augenblick nachdenken. Sie lag ihr so präsent auf der Zunge, als würde sie sich schon lange und häufig mit seiner Frage beschäftigt haben: »Mich! Ich spüre mich, meine Lebendigkeit. Das fühlt sich an, als wenn Leben niemals aufhören könnte.« Till hätte dazu gerne sofort etwas gesagt, aber er kam nicht dazu, weil sie anhielt und ihn mit ihrem Ziel überraschte. Er blickte erstaunt und zugleich fasziniert aus dem Seitenfenster, durch das er direkt auf die weiße Pracht eines Yachthafens blickte: »Wo sind wir denn hier gelandet?«

      »Scheveningen«, sagte sie und war sogleich aus dem Auto verschwunden.

      »Der Yachthafen scheint mir als Revier für deine Delfine aber kaum geeignet zu sein!«, rief er ihr hinterher, während sie bereits so ziel­strebig über die Planken eines Bootsstegs tippelte, als wäre sie hier zu Hause.

      »Stimmt, darum hauen sie auch morgen schon wieder ab. Komm, beeil dich!«

      Till war nicht danach, sich zu beeilen. Er genoss das Knacken der grauen Holzlatten unter seinen Füßen und das Wasser, das ihm zwischen ihren Ritzen suggerierte, ihn zu tragen – wohin er wollte.

      Kurz vor Ende des Stegs blieb Marjet stehen. Sie sah ihm entgegen und schien gespannt darauf zu sein, wie er nun reagieren würde, denn was da neben ihr im Hafenbecken lag, war nicht irgendein Boot. Das war die Pelorus Jack. Ein nautischer Palast. Etwas, was Till allenfalls aus Jetset-Reportagen im Fernsehen kannte. Dementsprechend sprachlos blieb er stehen und bestaunte einfach die Dimensionen weißer Eleganz, die sich vor ihm aus dem Wasser erhoben.

      Marjet wies mit ausgestrecktem Arm auf das Schiff und sagte sichtlich stolz: »Da wohnen sie, meine Delfine. Hier haben sie jeden Tag auf 46 Metern den Himmel der Meere.«

      Bevor Till etwas sagen konnte, stand sie schon auf der Gangway, brachte sich mit einem ausgelassenen Sprung an Bord und lockte ihn mit einem Zwinkern zu sich herüber. Zielstrebig lief sie mit ihm im Schlepptau entlang der linken Bordwand vorbei an Bullaugen und großen Fenstern immer weiter Richtung Heck.

      Obwohl er auf scheinbar völlig legitime Weise hier an Bord geraten war, kam er sich vor wie ein Eindringling. »Hey, warte mal«, sagte er fast flüsternd, so, als sollte es niemand von der unsichtbaren Besatzung hören, mit deren Aufkreuzen er in jedem Moment rechnete. »Sag mal, ist das wirklich okay, dass wir hier sind?«

      »Mach dir keine Sorgen, der Kapitän weiß bescheid. Ich habe mit ihm telefoniert. Vielleicht lernst du ihn noch kennen.«

      Am Bug angekommen,