Название | Nächstes Treffen Adria |
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Автор произведения | Johanna Kemme |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783753189789 |
4 Südwärts
„Re-bel – Re-bel“ scheppert es aus den Autoboxen der roten Ente, die unweit vor München rechts die Ausfahrt auf die Autobahnraststätte nimmt. Endlich, denkt Lena. Endlich! Sie hat nichts gegen die Musik von Bowie. Im Gegenteil! Spätestens mit seinem Heldenlied hatte sich der britische Musiker auch in ihr Herz gesungen. Man konnte sich so wunderbar identifizieren mit diesen Helden und mit den sich Küssenden in diesem Song, fand sie. Man begann zu träumen von sich selbst und dem, der nun mal eben gerade das eigene Herz bewegte und konnte so selbst zur Heldin werden. Bis das mit den Schüssen kam. Das brachte sie dann immer wieder zurück in das Jetzt und Hier. Zurück an den Ort, an dem dieser Rocksong spielt. Denn diese Helden, sie küssen sich unweit der Mauer. Dieser Mauer, die einen Teil Berlins zu einer Insel macht. Einer Insel umgeben von einer Wand aus Beton und Wachtürmen, ganz gleich, in welche Richtung man sich auch dreht. Dahinter der Osten, das andere Deutschland, das unzugänglich ist für sie und die meisten anderen, sieht man von dem Stück Autobahn, auf welchem man durch dieses Deutschland hindurch direkt nach Westberlin fahren kann, mal ab. Und dort auf dieser Transit-Strecke, kam Lena mit Bowie im Ohr in der Ente in den Sinn, während sie auf die Landschaft schaute, die an ihnen vorüberzog, hatte man stets dieses seltsame, ja bedrückende Gefühl. Einfach, weil man nur zu genau wusste, dass man beobachtet wurde, die gesamte öde Strecke lang. Überall konnte man sie in ihren Trabis und Wartburgs in der Landschaft stehen sehen, diese Volkspolizisten, kurz Vopos genannt, die tagein und tagaus nur darauf lauerten, die Wessis auf ihrem Weg von oder nach West-Berlin wegen eines Regelverstoßes zu belangen, Devisen einzusammeln, Macht zu demonstrieren. Da brauchte man gar nicht verbotenerweise anzuhalten, um vielleicht einem dringenden Bedürfnis nachzugeben oder nur ein wenig schneller als die erlaubten einhundert Stundenkilometer zu fahren. Sie kamen schon, hatte man die Musik zu laut aufgedreht, so laut, wie gerade die von David Bowie hier in der Ente spielt. „Wir sind dann wir“, singt er in seinem Heldenlied, „für diesen Tag.“ Ach was! Er singt es nicht! Er schreit es! Laut und kraftvoll ruft seine Stimme es in die Welt hinaus und sie ruft es in eben der Sprache, die gesprochen wird, dort wo diese Mauer steht, zu beiden Seiten von ihr. Ja, und eben so hatte der Mann mit den verschiedenfarbigen Augen sich auch in Lenas Herz gesungen. Fünfundvierzig Minuten seiner Musik auf der einen und beinahe weitere fünfundvierzig auf der anderen Seite aber waren echt mehr als genug. Wer war denn nur auf diese bekloppte Idee gekommen, fragte Lena sich, sämtliche Scheiben des Musikers und seiner Band hintereinander weg auf eine Kassette aufzunehmen?
„Und ihr wollt durch Italien?“, hatte Frank, Fahrer und Besitzer der Ente mit den scheppernden Boxen, seine Mitfahrer auf Zeit kritisch angesehen. „Ja, warum denn nicht?“, hatte Rainer, der vorne neben Frank saß, ganz unbesorgt zurückgegeben. „Ihr habt aber schon gehört, dass die Maffia dort gestern grad wieder drei Polizisten erschossen hat. Einfach so! Auf offener Straße!“, erklärte Frank dann zu Lenas und Rainers Erstaunen. „Nein, nichts gehört!“, war Rainer einfach nicht klar, was ihr Fahrer ihnen sagen wollte. „Aber das wird ja wohl auch auf Sizilien gewesen sein oder irgendwo bei Neapel, denk ich mal. Und wir wollen ja zur anderen Seite hin“, warf er daher einen fragenden Blick aus seinen graublauen Augen nach hinten zu Lena. „Ja, schon! Aber das kam doch überall in den Nachrichten, im Fernsehen“, ließ ihr Fahrer nicht locker. - „Im Fernsehen?“, gab Rainer zurück, „So `n Ding ham` wir bei uns im Haus ja gar nicht.“ - „Radio? Zeitungen vielleicht?“, blickte Frank ihn herausfordernd an und Rainer schwante plötzlich, worum es ihrem Fahrer wirklich ging. Er hatte sich ihnen als Politikstudent vorgestellt. Politikwissenschaften im sechsten Semester. Wer so lange durchhielt, davon war Rainer überzeugt, hatte wirklich Gefallen an seinem Studium gefunden. Der Kram mit der Maffia, er sollte keine Warnung sein, begriff Rainer nun. Dieser Frank wollte einfach nur herauskriegen, wie informiert sie waren. Lena, auf der Rückbank eingeklemmt zwischen Taschen und Rucksäcken, sah, wie Rainer sich mit den Fingern seiner linken Hand langsam durch seine schulterlangen, straßenköterblonden Haare strich. Das tat er immer, wenn er unsicher war, ihm nichts mehr einfiel, was er hätte sagen können. „Meinst du, wir hätten lieber durch die Sozialistische Republik Jugoslawien fahren sollen?“ versuchte sie ihm daher zwischen dem Wenigen hindurch, was die französischen Autobauer in der Mitte an Platz zwischen den Vordersitzen des Kleinwagens gelassen hatten, zur Hilfe zu kommen. „Warum nicht?“, tat Fahrer nun glatt so, als hätte er wiederrum nichts von den Aufständen dort gehört, davon, dass gewisse Volksgruppen, die im Vielvölkerstaat Jugoslawien unterdrückt und wohl auch verfolgt wurden, gerade immer wieder versuchten, sich mit Gewalt dagegen zu wehren. „In den kommunistischen Ländern ist man doch viel sicherer unterwegs. Es gibt überall Polizei. Es wird doch alles viel mehr beobachtet und kontrolliert.“ Und so war es dann schlagartig wiedergekommen, dieses bedrückende Gefühl, dass Lena gehabt hatte, war sie nach West-Berlin gefahren. Dieses mulmige Gefühl auf der Transit-Autobahn. „Und auf genau so etwas hab` ich überhaupt keinen Lust!“, wehrte sie die Vorstellung daher vehement ab, so in Richtung Süden zu reisen, während Rainers Finger aus den Haaren auf sein Knie fielen, wo sie automatisch begannen, sich im Takt von Bowies Musik auf und ab zu bewegen. „Ich möchte mich in einem Land frei bewegen können, anhalten können, wann ich will, hingehen können, wohin ich will.“