Die Brücke zur Sonne. Regan Holdridge

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Название Die Brücke zur Sonne
Автор произведения Regan Holdridge
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170441



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würde. Der dunkelgraue Anzug und der Binder wollten nicht recht zu seiner Erscheinung passen, was der lange, schwarze, an den Enden gezwirbelte Schnurrbart und die kurzgeschorenen Stoppelhaare nicht verbesserten. Er betrat polternd, in Cowboystiefeln, den Wohnraum und deutete eine galante Verbeugung an.

      „Jean!“ Matthew winkte. „Komm einmal her!“

      Nach kurzem Zögern folgte das Mädchen der Aufforderung ihres Vaters, den fremden Mann jedoch keine Sekunde aus den Augen lassend. Von Natur aus zurückhaltend, benötigte sie stets allen Mut, um auf fremde Menschen zuzugehen.

      Das runde, breite Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, wobei der Bart schwungvoll nach oben kippte. „Ah, der Nachwuchs!“ Erfreut ergriff er ihre dünne Hand, die vollkommen zwischen seinen fleischigen, feuchten Fingern verschwand. „Stevie Bentley, Bürgermeister von Silvertown“, stellte er sich vor. „Im Namen aller Bürger unseres Bezirks heiße ich Sie auf das Herzlichste bei uns willkommen!“

      „Vielen Dank!“, strahlte Matthew. „Mit so viel Aufmerksamkeit haben wir gar nicht gerechnet!“

      „Sie werden noch mit mehr nicht rechnen“, lachte der Bürgermeister schallend. „Hoffentlich gefällt es Ihnen, sofern Sie überhaupt schon Zeit hatten, sich ein bisschen einzugewöhnen?“

      „Oh, es ist großartig!“, versicherte Matt eifrig. „Die Landschaft ist nicht zu vergleichen mit dem, was wir aus London gewohnt sind!“

      „Wir sind ja auch eines der meistbesuchten Gebiete Idahos“, erklärte Stevie Bentley mit stolzgeschwellter Brust.

      „Dann habe ich mich ja richtig entschieden, für meine Frau und unsere beiden Töchter.“ Matt legte seinen Arm demonstrativ um Rachels Taille, die sich ein gezwungenes Lächeln abrang. „Apropos – wo steckt denn der Rest unserer Familie?“

      Rachel nutzte die Gelegenheit, sich aus seiner Umarmung zu lösen und eilte zur Treppe. „Patty! Patty! Komm doch mal herunter!“

      „Ich kann nicht!“ Die Antwort ertönte aus dem Badezimmer. „Ich mache mir gerade eine Maske!“

      Rachel zuckte entschuldigend die Achseln. „Junge Mädchen! Sie hören es!“

      Stevie Bentley winkte ab. „Nicht weiter schlimm! Ich lerne sie ja dann bald kennen!“

      „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Einladend deutete Matt auf die Couchgarnitur.

      „Vielen Dank!“ Stevie Bentley lehnte ab. „Ich muss leider gleich weiter. Ich bin eigentlich nur gekommen, um Sie einzuladen!“

      „Einladen?“, echote Rachel und es klang beinahe ein wenig entsetzt.

      „Ein neuer Bewohner, besser gesagt, eine neue Familie, die sich bei uns niederlässt, braucht selbstverständlich einen entsprechenden Empfang“, klärte Stevie Bentley sie nun mit wichtigem Nicken auf, wobei sein Bart zu Jeans Belustigung im Takt mitwippte.

      „Wirklich?“, entfuhr es Rachel gelangweilt.

      „Natürlich, natürlich!“, versicherte der Bürgermeister prompt. Er schien den Tonfall ihrer Stimme völlig falsch zu deuten. „Sie müssen schließlich alle wichtigen Leute der Gegend und Ihre neuen Nachbarn kennenlernen! Das Begrüßungsfest für Sie findet morgen Abend ab sieben auf der Arkin Ranch statt!“ Er grinste breit. „Diese Überraschung wollte ich Ihnen unbedingt noch heute überbringen, damit Sie nicht anderweitig etwas planen. Aber kommen Sie schon etwas zeitiger hinüber, dann können wir uns in Ruhe noch ein wenig unterhalten, bevor sie von allen in Beschlag genommen werden!“

      Das war eine unerwartete Ankündigung – selbst für Matthew. Er bedankte sich überschwenglich für die Einladung, die er selbstredend mehr als gerne annahm und brachte den Bürgermeister noch hinaus zu seinem Wagen, als dieser sich zum Gehen wandte.

      Jean schaute ihnen durch die offene Haustüre nach, als sie ihre Mutter neben sich leise wispern hörte: „Manche Rufe haben ein ungeheuer gewaltiges Echo…“

      Rachel warf den Kopf zurück, ihre grauen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Sie murmelte einen unverständlichen Fluch und Jean war ganz froh, es nicht verstanden zu haben. Das war auch nicht nötig. Sie begriff sehr wohl, dass ihre Eltern sich über ihren Aufenthaltsort für das kommende Jahr noch längst nicht einig geworden waren. Es war eine vorübergehende, scheinheilige Kompromissbereitschaft von Seiten ihrer Mutter, um den perfekten Schein zu wahren, mehr nicht.

      Die erste Nacht in der Blockhütte wollte nicht vorübergehen – und ohne Schlaf schienen die Minuten noch viel langsamer voranzuschreiten. Patty seufzte und warf zum mindestens fünfzigsten male einen Blick auf den Wecker: Gleich halb zwei Uhr. Die Federn der ungewohnt harten Matratze stachen ihr in den Rücken und durch das einen spaltbreit geöffnete Fenster trug der kalte Nachtwind das monotone Quietschen des sich drehenden Windrades herein.

      Womit habe ich das verdient? Warum darf ich nicht zu Hause sein? Eine Träne der Wut und Verzweiflung rann über ihre Wange, in ihr dunkles, zerzaustes Haar. Immerhin lebten sie in einer modernen Zeit, wo auch vierzehnjährige Töchter schon mitreden und selbst Entscheidungen treffen durften! Sie gehörte hier nicht her, wollte auch gar nicht hier sein und sie tat sich selbst entsetzlich leid. Sie bekam immer ihren Willen, immer! Und jetzt musste sie zum ersten Mal in ihrem Leben eine Niederlage einstecken, die sie absolut nicht akzeptieren konnte.

      Am nächsten Morgen marschierte Patty übel gelaunt und mit grimmigem Gesicht zum spartanischen Frühstückstisch hinab. Noch immer glaubte sie, das Quietschen des Windrades zu hören und sie konnte nicht genau sagen, welcher Teil ihres Körpers am meisten schmerzte. Zu allem Überdruss schien ihre große Schwester durchaus gute Laune zu haben, denn sie plapperte während des Frühstücks in einem fort und nur sinnloses Zeug. Danach verschwand sie auf eine Erkundungstour in der Wildnis. Patty lehnte es ab, sie zu begleiten. Niemand würde sie zwingen, plötzlich zu Fuß zu gehen und schon gar nicht in diese öde Landschaft hinaus! Was sollte sie dort schon Großartiges finden?

      Den Vormittag nutzte sie stattdessen, um ihre restlichen Kleidungsstücke und persönlichen Gegenstände aus den Koffern zu räumen und im Schrank nach besten Möglichkeiten zu verstauen. Danach war ihr langweilig. Was sollte sie unternehmen hier draußen, weit entfernt von jeder menschlich-vernünftigen Zivilisation? Keine Freundinnen, mit denen sie stundenlang telefonieren konnte, keine Einkaufszentren, wo sie mit ihnen herumbummeln konnte und auch kein Café, in dem sie für den Rest des Tages mit ihnen verschwinden und die Leute beobachten konnte. Wenn ihr Zuhause dann doch einmal gar nichts eingefallen war, was sie mit ihrer freien Zeit anstellen konnte, so hatte sie zumindest in eine Ballettstunde gehen können. Zwar fand sie diese Art von Sport nicht gerade vergnüglich, denn es war eine ungeheure Anstrengung, aber ihre Mutter bestand darauf, um „Haltung und Geist zu straffen“. Patty seufzte. Nichts war hier wie Zuhause, gar nichts! Wenigstens besaß diese Bruchbude – unerwarteterweise – elektrischen Strom und damit einen funktionstüchtigen Fernseher, ihr einziger, winziger Trost. Dieser sollte voerst Pattys wichtigste Beschäftigung werden.

      Kurz nach halb ein Uhr, nachdem sie nicht zum Mittagessen erschienen war, steckte ihre Mutter den Kopf zur Türe ihres Zimmers herein und verkündete gutgelaunt: „Dein Vater und ich fahren nach Summersdale, zum einkaufen! Jean kommt auch mit. Dann können wir beide uns ein paar neue Kleider für heute Abend besorgen, was meinst du?“

      „Was soll es da schon groß an besonderen Geschäften geben? Männerhosen und Leinenkleider im Schnitt eines Mehlsacks oder wie?“ Mürrisch wandte Patty sich ab und beugte sich zum Fenster hinaus, wo die Sonne angenehm warm hereinschien.

      „Vielleicht lernst du gleich ein paar Mädchen kennen, die in deine Klassen gehen werden“, versuchte Rachel, sie ohne viel Geduld anzutreiben.

      „Ach! Das ist doch nicht die richtige Gesellschaft für mich! Aber nimm ruhig Jean mit! Die passt hervorragend in diesen Haufen!“ Trotzig vergrub Patty das Kinn in ihren Händen. „Lass mich in Ruhe!“

      „Na, schön. Wie du willst.“ Achselzuckend schlug Rachel die Türe ins Schloss. Die Schritte ihrer Stöckelschuhe verhallten und gleich darauf hörte Patty den Motor