Die Brücke zur Sonne. Regan Holdridge

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Название Die Brücke zur Sonne
Автор произведения Regan Holdridge
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754170441



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das quadratische Treppenhaus. Verbrauchte, stickige Luft, Zigarettenrauch und Stimmengewirr schlugen ihr entgegen. Unwillkürlich hielt sie den Atem an.

      „Es sind zwar noch längst nicht alle da“, drang der sonore Bass Stevie Bentleys an ihr Ohr, „aber bei uns ist immer was los, aber das werden Sie schon noch feststellen!“

      „Ah! Guten Abend! Da sind Sie ja!“, sagte plötzlich eine hellere, auffallend gefühlsbetonte Männerstimme neben ihnen, die Jean den Blick heben ließ. Zu ihren Eltern war ein Mann mit Bauchansatz und Doppelkinn, kaum größer als sie selbst, getreten. Sein langes, eckiges Gesicht mit den beiden tiefen Furchen neben den Mundwinkeln wirkte auf den ersten Blick ernst, fast griesgrämig, doch sobald er lächelte, verwandelte es sich auf unbeschreibliche Weise, da erschien dieser ihr fremde Mann schlagartig vertrauenserweckend und freundlich. Sein Haar war von dunklem, erdigem Braun, kraus und dick und mit einzelnen grauen Strähnen durchzogen. Er mochte höchstens Mitte fünfzig sein, obwohl er wesentlich älter wirkte.

      „Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte er und reichte zuerst Rachel, dann Matthew die Hand. „Ich bin Ben Arkin. Schade, dass ich nicht hier war, als Sie mit Mister Bentley bei Ihrem ersten Besuch die Ranch besichtigt haben. Mein Vormann und meine Tochter haben mich aber hoffentlich würdig vertreten?“

      „Du hast mir gar nichts von diesem entzückenden Häuschen berichtet“, warf Rachel ihrem Mann vor, ehe dieser dazu kam, etwas zu erwidern. „Aber Sie müssen wissen, Mister Arkin, Matt hat mit seiner Arbeit immer unbeschreiblich viel Stress und er trägt selbstredend große Verantwortung. Da vergisst er wichtige Punkte manchmal einfach zu erwähnen!“ Sie strahlte den Ranchbesitzer gütig an.

      Entgeistert ruhte Matthews Blick einige Sekunden auf ihr, als wüsste er nicht, was er von diesen scheinheiligen Schwindeleien halten sollte. Was er soeben hatte erwidern wollen, war ihm mittlerweile entfallen.

      „Nicht wahr, Liebling?“, flötete Rachel da und er rang sich zu einem Lächeln durch.

      „Äh…ja…natürlich! Vielen Dank übrigens noch für die Einladung.“

      „Ach was, keine Ursache! Das ist bei uns so üblich“, wehrte Ben Arkin ab. Erst jetzt wandte er sich den beiden jungen Mädchen zu. „Der Nachwuchs, wie ich annehme?“

      „Ja, ja“, antwortete Matthew hastig, um seiner Frau zuvorzukommen. „Das sind unsere beiden Töchter – Jean und Patricia.“

      „Jean Frances und Patrica Lorena“, fügte Rachel mit Nachdruck hinzu, um ihrer Korrektheit den genügenden Ausdruck zu verleihen.

      Ben Arkin begrüßte die Mädchen und während er sie lächelnd aus seinen braunen Augen betrachtete, fühlte Jean, dass eine merkwürdige Verwandlung mit ihr geschah. Es war, als bohrte sein Blick ein winziges, millimetergroßes Loch in die stählerne Wand, die sie um sich errichtet hatte. Etwas von seiner entgegenkommenden, warmen Ausstrahlung, die mit einer geradezu drängenden Höflichkeit einherging, ergriff von ihr Besitz und ganz von selbst erwiderte sie sein Lächeln.

      „Es freut mich, Sie kennenzulernen“, hörte Jean sich leise sagen und spürte im selben Moment, wie Rachels eisiger Blick sie traf.

      „Wie alt bist du?“, wollte der Ranchbesitzer ungeniert wissen.

      „Sechzehn“, gab Jean bereitwillig Auskunft.

      „Und ich bin vierzehn“, fügte Patty ungefragt hinzu und nahm ihre Schultern noch mehr zurück, damit ihre ohnehin bereits üppige Oberweite noch deutlicher zum Vorschein kam. „Aber die meisten Leute sagen, dass ich viel erwachsener aussehe als meine Schwester.“

      „Interessant.“ Ben Arkins linke Augenbraue zuckte und er wandte sich von den Mädchen ab. Er streckte sich, um besser nach links hinein, in den großen Wohnraum sehen zu können, in dem das Fest stattfand und die Gäste sich bereits über das üppige Buffet hermachten.

      Geradeaus, gegenüber der Haustüre, wand sich die Treppe ins Obergeschoß hinauf und links dahinter gelangte man in die Küche. Rechts, vor den ersten Stufen, war die doppelflüglige Türe verschlossen; dahinter lag das Arbeitszimmer des Ranchbesitzers und an den Garderobenhaken an der Wand daneben stapelten sich die Jacken und Hüte. Jean blickte sich um. Alles war in dem hier üblichen, schlichten Stil eingerichtet und hatte doch eine ansprechende, heimelige Wirkung auf den Betrachter. Sie konnte nicht leugnen, dass es ihr hier gefiel.

      „Amy!“, rief Ben Arkin jetzt laut. „Komm doch mal her!“

      Er winkte heftig mit dem Arm und wenige Sekunden später hüpfte ein junges Mädchen schallend lachend aus dem Wohnraum heraus. Sie trug ein bodenlanges, gelbgeblümtes Kleid und flache, weiße Schnürschuhe. Ihre dunkelbraunen, langen Haare wurden von einem unsichtbaren Haarnetz zu einem hoch oben angesetzten Nest zusammengehalten. Ihre ein wenig rundlich gebaute, kräftige Figur fiel in dem Kleid nicht weiter auf, im Gegenteil. Sie wirkte ausgesprochen elegant, dabei jedoch sehr kindlich-unschuldig und Jean erschien ihre eigene Aufmachung auf einmal unpassend, ja, geradezu lächerlich. Eine Dame sollte sie heute Abend spielen! Sie, die sich völlig hilflos und überfordert vorkam zwischen all den fremden Menschen, die überhaupt nicht mehr wusste, wie es nun richtig war, sich zu verhalten! Sollte doch Patty sich als die Dame von Welt ausgeben, die Rolle lag ihr doch perfekt. Sie selbst gehörte nicht wirklich dazu – weder zu der einen Seite, noch zu der anderen. Sie stand irgendwo dazwischen und wusste nicht genau, wer sie sein wollte. Natürlich, sie war das Kind ihrer Eltern, mit denselben Vorzügen und Privilegien gesegnet und aufgewachsen wie Patty. Trotzdem hatten sie sich beide in völlig unterschiedliche Richtungen entwickelt. Patty ging in dieser Welt auf, während Jean immer noch nach etwas suchte, was sie dort nicht fand und das sie gar nicht benennen konnte. Es war diese Unruhe in ihr, die sie manchmal fast zur Verzweiflung trieb.

      Amys rundes, hübsches Gesicht mit den roten Pausbacken und großen, dunklen Augen lächelte zurückhaltend. Sie war fast einen Kopf kleiner als Jean und verkörperte eine entwaffnende Natürlichkeit, die sie an die Straßenkinder erinnerte, mit denen sie früher so gerne gespielt hatte.

      „Ja, Daddy?“ Sie stellte sich neben den Ranchbesitzer und musterte neugierig und unverfroren die Neuankömmlinge.

      „Das sind die van Harens, die draußen das alte Blockhaus der Porters gekauft haben“, stellte Ben Arkin sie gegenseitig vor. „Und das ist Amy, meine Tochter.“

      Höflich begrüßte das Mädchen die Gäste. Bei Jean verharrte sie einen Moment und die beiden musterten einander abschätzend. Jeans Herz schlug schneller und fühlte sich unwohl und verunsichert.

      „Hallo!“ Die Rancherstochter streckte ihr die Hand entgegen. Ihre Augen funkelten interessiert. „Dein Vater hat mir schon viel von euch erzählt! Ich habe mich schon sehr darauf gefreut, dass ihr endlich da seid!“

      Eine Sekunde überrumpelte das gleichaltrige, amerikanische Mädchen sie mit dieser Aussage. Verwirrt erwiderte sie den Gruß: „Äh…ja…hallo. Jean…ich meine, ich heiße Jean.“ Noch nie in ihrem ganzen Leben war sie sich so hilflos vorgekommen.

      „Schön! Wie ich sehe, verstehen sich die beiden schon prächtig“, mischte sich zu ihrer Erleichterung Ben Arkin in diesem Moment ein. „Ich würde vorschlagen, Sie vertrauen Ihre Töchter für den Rest des Abends Amy an und kommen dafür mit mir! Ich werde Ihnen gleich einmal Ihre neuen Nachbarn und einige Bürger Silvertowns vorstellen!“

      „Eine ausgezeichnete Idee!“, versicherte Rachel zur immer größer werdenden Verwunderung ihres Mannes und versetzte ihm einen auffordernden, unauffälligen Stoß mit dem Ellenbogen.

      „Natürlich! Eine ausgezeichnete Idee!“, echote er zerstreut.

      „Das sagte ich bereits!“

      Die schrille, durchdringende Stimme ihrer Mutter zerriss den schützenden Dunst um Jeans Wahrnehmungen und brachte sie in die Welt der Realität zurück. Der mahnende, kalte Blick, den Rachel ihr zuwarf, erinnerte sie daran, was ihr bevorstand. Sie hasste diese Veranstaltungen und Partys, wusste sie doch nie richtig Small-Talk zu halten und war sie doch immer diejenige, die in irgendeiner Ecke stand, während ihre Mutter und ihre Schwester sich vor Gesprächs- und Tanzpartnern kaum