Das Ziada Projekt. Enza Renkal

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Название Das Ziada Projekt
Автор произведения Enza Renkal
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754953945



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auszuschließen, dass sich mittlerweile neue Erinnerungen ergeben haben, müssen wir diese Fragen stellen. Können Sie mir denn sagen, wie Sie aufgewachsen sind?«

      »Mir wurde gesagt, dass ich in einem Kinderheim aufgewachsen bin. Auch das steht in meiner Akte.«

      Ich musste mich wirklich beherrschen. Die Fragen waren lächerlich. Was für Erinnerungen sollten nun plötzlich da sein? Mir wurde damals zwar auch gesagt, dass durchaus die Möglichkeit bestand, dass sich die retrograde Amnesie in Teilen zurückbilden könne, aber je länger der Zustand andauere, desto unwahrscheinlicher wäre es. Als mich Marie vor einigen Jahren in einen Kinofilm über ihre Lieblingsautorin Astrid Lindgren zerrte und der Film in der Originalsprache lief, hatte ich erstaunt erkannt, dass ich die eingeblendeten Untertitel nicht benötigte, sondern Schwedisch konnte. Diese neue Information behielt ich jedoch für mich. Nach dem Unfall war ich mit dem Gefühl aufgewacht, dass jeder andere mehr über mich wusste als ich selbst. Der Moment der Erkenntnis, dass ich eine andere Sprache konnte, war das erste Mal, dass ich mich nicht mehr gläsern fühlte, sondern wie eine echte Person mit eigenen echten Erinnerungen. Und wenn es nur die Tatsache war, dass ich schwedisch verstand und konnte.

      »Waren Sie nach Ihrer Abholung noch einmal in diesem Kinderheim?«, fragte Dr. Martin weiter.

      Ich runzelte die Stirn. Wo sollten diese Fragen hinführen? »Nein. Ich weiß nicht, wo dieses Kinderheim ist.«

      Dr. Martin schien mit meiner Antwort zufrieden zu sein und das beunruhigte mich.

      »Es ist gut, wenn Sie keine neuen Erinnerungen haben. Die würden Sie nur aufhalten, im Hier und Jetzt zu leben«, erklärte Dr. Martin.

      Wohl eher im Hier und Jetzt zu funktionieren und für die Institution zu arbeiten. Dass traf es wahrscheinlich viel mehr, aber diesen Gedanken behielt ich für mich.

      »Würden Sie mir bitte Ihren alten Namen mitteilen?«, versuchte Dr. Martin betont gleichgültig zu fragen, aber ich wusste sofort, dass wir jetzt bei der Frage waren, wieso ich überhaupt hier war. Darum ging es also. Es ging um mein Ziel heute früh. Darum, dass er mich erkannt hatte und nun die Überprüfung stattfand, welche Verbindung es gab. Entweder hatte das Edward Parker in die Wege geleitet oder aber das Ziel hatte eine lockere Zunge und weiterhin behauptet, mich zu kennen.

      »Nein, das werde ich nicht. Das widerspricht den Richtlinien des Nabels.«

      Ich hatte nie gedacht, dass mir die Richtlinien des Nabels einmal helfen würden. Meine Güte war ich damals als sechzehnjähriges Mädchen unmotiviert das Kleingedruckte zu lesen, aber ich hatte mir doch die Mühe gemacht. In den Richtlinien war klar formuliert, dass die frühere Vergangenheit keine Rolle mehr spielt und der ursprüngliche Name abgelegt und durch einen neuen, selbst gewählten, ersetzt wird. Kurz vor dem Unfall hatte ich mich wohl, so wurde es mir zumindest erzählt, für den Namen Lilly Anders entschieden. Der alte Name wiederum sollte nirgends auftauchen, um mögliche Rückschlüsse nicht zuzulassen. Ohne die echten Namen konnten andere Behörden mit unseren Akten nichts anfangen. Sollten sie überhaupt jemals in die Hände von Fremden fallen.

      Die Augen meines Gegenübers verengten sich minimal. »Es wäre für Sie besser, wenn Sie kooperieren würden. Es ist sehr vorbildlich von Ihnen, dass Sie unsere Richtlinien so gut kennen und auch umsetzen, aber … ein gegenwärtiger … Vorfall, zwingt uns zu diesen Schritten. Ich wiederhole mich also: Würden Sie mir bitte Ihren alten Namen mitteilen?«

      Ich lehnte mich leicht nach vorne und kopierte die Position von Dr. Martins verschränkten Händen. »Auch ich wiederhole mich sehr gerne für Sie. Ich werde Ihnen meinen Namen nicht verraten. Ihnen nicht und auch nicht denjenigen, die uns gerade durch diesen hübschen Spiegel beobachten. Ich vermute mal, dass dort Edward Parker steht? Hat er Sie beauftragt, diese Fragen zu stellen?«

      Wieder erschien dieses unechte Lächeln auf den Lippen von Dr. Martin. Er schwieg.

      »Dr. Martin, wenn Sie keine weiteren Fragen mehr haben, würde ich mich nun gerne verabschieden.«

      Er widersprach nicht, also stand ich auf. Ich hatte bereits die Türklinke in der Hand, drehte mich aber noch einmal um. Ich warf einen Blick in den Spiegel und suchte dann die Augen von Dr. Martin.

      »Das Gespräch mit Leander Lehmann wird Ihnen nicht weiterhelfen. Auch er kennt meinen alten Namen nicht. Da haben Sie wohl ein paar Minuten Ihres Lebens verschwendet. Einen schönen Tag noch.«

      Ich schloss die Türe hinter mir, griff nach meiner einsamen Sporttasche und machte mich auf den Weg nach draußen. Die Lust auf Sport war mir gehörig vergangen.

      Die Beine über der Mauer baumeln lassend, die Hände hinter mir abgestützt, schielte ich über meine Schulter auf Hausnummer 14 des Johann-Dryander Platzes. Das Gebäude des Nabels war kubisch im Bauhausstil errichtet worden und die Glasvorhangfassade gab das Gefühl von Transparenz und Freiheit. Doch das war, im wahrsten Sinne des Wortes, nur eine Fassade. Der Nabel war eine geschlossene Institution, bei der so gut wie nichts nach außen getragen wurde. Die oberirischen vier Stockwerke, die von der Disposition besetzt wurden, waren vielleicht noch vorzeigbar und nicht sonderlich anders als die Nachbargebäude, doch die richtigen Geschäfte liefen in den Räumen unterhalb des Erdgeschosses ab. Und genau dort saß immer noch Leander.

      Während ich nach wenigen Minuten draußen war, wartete ich jetzt schon eine dreiviertel Stunde auf meinen Freund. Was fragten sie ihn? War Dr. Martin nach unserem Gespräch zu Leander gegangen und hatte ihn ausgefragt? Über mich? Was machten sie mit ihm?

      Ich richtete den Blick wieder nach vorne auf den Fluss. Auch ein Fluss verursachte einen gleichmäßigen Klang, aber das Geräusch eines Sees war sehr viel entspannender.

      Würden sie es wagen auch zu körperlichen Bestrafungen zu greifen, um ihn zum Reden zu bringen? Ich hatte noch von keinem Sammler gehört, dass der Nabel solche Maßnahmen tolerierte, aber andererseits, wer würde denn offen darüber sprechen? Was wusste ich eigentlich über die Menschen, die im Inneren Kreis saßen? Was sie sich dachten, wie sie uns Sammler, und vor allem die Ziele, aussuchten? Ich legte einen imaginären Notizzettel an. Wer führte den Nabel? Nach welchem Muster wurden die Ziele ausgesucht? Was passierte danach mit den Zielen und wer war das Ziel heute Vormittag? Wieso gab es nun dieses Interesse an meiner Vergangenheit, insbesondere meinem Namen?

      Mir kam eine Aussage von Dr. Martin in den Kopf. Um auszuschließen, dass sich mittlerweile neue Erinnerungen ergeben haben, müssen wir diese Fragen stellen. Nun, jetzt würde ich beginnen, meinerseits Fragen zu stellen. Und ich würde Antworten bekommen. Ich wollte anfangen, aktiv nach Erinnerungen zu suchen. Und da er mich geradewegs auf das Kinderheim angesprochen hatte, würde ich genau dort ansetzen. Mein nächstes Ziel hieß nun Emille Lillan Falk. Ich war mein eigenes Ziel und würde nun alles über mein altes Leben herausfinden.

      Hochmotiviert griff ich nach meiner Sporttasche und wollte bereits aufstehen, als ich Schritte auf dem Kies hinter mir vernahm. Doch entgegen meiner Erwartung, dass es Leander sein müsse, war es Ric.

      »Ciao, Vite. Gut, dass ich dich noch hier sehe. Dachte, du wärst schon weg«, entgegnete Ric mit seiner rauchigen Stimme.

      Ich stand auf. »Ich bin so gut wie weg.«

      »Nein, du bleibst noch ein bisschen. Setz dich wieder«, forderte er mich auf, doch ich blieb stehen.

      »Was willst du von mir? Ich möchte nach Hause.«

      Er ignorierte meine Ablehnung und setzte sich seinerseits auf die Mauer.

      »Dann stehst du eben, während ich mit dir spreche.«

      Oder ich gehe einfach, dachte ich mir, aber ich blieb stehen. Er war schließlich mein direkter Vorgesetzter. Konnte er mich eigentlich kündigen, wenn ich nicht gehorchte? Was passierte mit uns Sammlern, wenn wir nicht mehr funktionierten? Noch mehr Fragen für meinen Notizzettel.

      »Du hattest gerade ein Gespräch mit Dr. Martin. Was wollte er von dir?«

      »Dass ich vollständig und ehrlich seine Fragen beantworte.«

      Ric reagierte gereizter als gedacht. »Anders, was zur Hölle hat er von dir gewollt? Mit Dr. Martin ist nicht