Der Gott des Zwielichts. Joachim Kurtz

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Название Der Gott des Zwielichts
Автор произведения Joachim Kurtz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754187104



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an seiner Seite, den Wanderer, den Feuerdieb, der den Drachen beschlich, unsterblicher Unheilstifter und Beschützer der Menschen. Jetzt wußte er, daß all sein Tun und Handeln an die Beschlüsse dieses Gottes geknüpft waren, daß sogar die Entscheidungen, die er selbst getroffen zu haben meinte, von ihm provoziert worden waren. Und das war im Grunde auch schon alles, was er wußte.

      Warum gerade er? Auch darüber hatte der Gott nichts verlauten lassen. Ihm blieb nichts, als sich zu fügen. Und sich zu fragen, ob er von sich aus je seinen Herrn in Kadhlynaegh verlassen hätte, wäre es nicht zuvor – ohne sein Wissen! – zu einer Begegnung mit Faghnar gekommen. Andererseits: war es von Belang? Daß der Gott ihn ausersehen hatte, ihn unter allen Freien und Unfreien, war es nicht Auszeichnung genug? Hätte Faghnar den Wunsch nach Freiheit in die Brust eines Schwächlings gesetzt? Mit Sicherheit nicht. Hadhuin war überzeugt: wenn er jetzt alleine und ganz auf sich gestellt die winterliche Wildnis durchstreifte, dann nur weil es seinem innersten Wesen entsprach. Er mußte irrtümlich in den Sklavenstand geboren worden sein, denn Bridhna hatte ihm das Herz eines Kriegers mitgegeben.

      Das Schlagen ungeduldiger Flügel riß ihn aus seiner Grübelei. Mit schnarrender Stimme erhob sich ein Rabe aus dem Geäst über ihm, zog eine Schleife über den Baumkronen und nahm dann eine Richtung auf, die Hadhuins bisherigen Weg mit einer leichten Wendung nach Nordosten fortzusetzen schien. Das war das vereinbarte Zeichen. Faghnar hatte ihn angewiesen, dem ersten Raben zu folgen den er zu sehen bekäme. Ohne weitere Verzögerung nahm Hadhuin seinen Marsch wieder auf.

      Zunächst folgte er dem Bachlauf. Der Flug des Raben hatte in schnurgerader Linie die Bergflanke gekreuzt, die Hadhuins Einschätzung nach von dem Bach in einer ausladenden Biegung umrundet wurde. Dies entsprach nicht ganz den Gegebenheiten, wie sich herausstellte, denn an einem Punkt, der vom Rastplatz aus nicht einsehbar gewesen war, folgte das Wasser der Geländeneigung mit einer scharfen Wendung nach rechts. Sein Lauf war schmal genug, daß Hadhuin mit einem beherzten Sprung übersetzen konnte. Dabei glitt ihm das Seil aus der Hand, an dem er das Maultier führte, aber die Stute folgte ihm bereitwillig. Nun ließ er das Bachbett hinter sich und hielt auf der rückwärtigen Flanke auf den tiefsten Punkt zwischen dieser und der benachbarten Bergkuppe zu.

      Der Schnee fiel unterdessen immer dichter. Als das Gelände sanft auslief und sich abwärts zu neigen begann, zeichnete sich hinter den Baumstämmen ein langgezogener Bergkamm ab, wobei die unregelmäßige, von blattlosen, beschneiten Baumkronen gebildete Linie in dem alles gleichmachenden Weiß nur schwer zu erkennen war. Der davor hingebreitete, lichte Talgrund schien ungewöhnlich glatt und eben. Schneegestöber wirbelten darüber hin wie plündernde Horden, getrieben von einem eisigen Wind, der erbarmungslos in die ungeschützt daliegende Talschneise einfiel. Hadhuin mußte unwillkürlich an das Gleichnis denken, mit dessen Hilfe ihm Faghnar die wandelbare Körperlichkeit der Untoten erklärt hatte, und griff verstohlen in Hüftnähe nach seiner Waffe, seinem Talisman.

      Er wußte, daß sein Weg ihn rechts herum führen würde, und genau so bestätigte es ihm der Flug des Raben. Als hätte er nur darauf gewartet, ihm das Zeichen geben zu können, kam der Vogel die Talschneise entlanggeflogen, sich mit kräftigen Flügelschlägen gegen den Wind stemmend. Mit seinem kohlschwarzen Gefieder war er selbst im dichtesten Schnee nicht zu übersehen. Er zog seine Bahn fast auf Bodenhöhe, was Hadhuin als Hinweis deutete, seinen Marsch am Talgrund fortzusetzen statt auf halber Berghöhe.

      Unten angekommen, griff Hadhuin nach einem langen, abgebrochenen Aststück, das er aus dem frischen Schnee ragen sah, und näherte sich dem Rand der weißen, ausgedehnten Fläche, die den größeren Teil des Tals einnahm. Sie grenzte sich entlang einer großzügig geschwungenen Linie gegen die sanfte Böschung ab, in deren Nähe sie büschelweise von steifgefrorenem Rohr durchstoßen wurde. Prüfend ließ Hadhuin das dünnere Ende des Asts darübergleiten, und schon unter dem geringsten Druck begann die Eisdecke nachzugeben. Knackend verzweigten sich Risse, aus denen das Wasser des darunterliegenden Sees an die Oberfläche trat.

      Hadhuin hielt sich nach rechts, am Ufer entlang, und benutzte den Ast fortan als Wanderstab. Eiskalter Wind schnitt ihm ins Gesicht, und mehrmals mußte er sich mit dem weiten Ärmel seines Überwurfs Tränen aus den Augenwinkeln wischen. Fluchend stapfte er voran und tat sein möglichstes, dem dichten Geäst des Unterholzes auszuweichen. Die Stute trottete ihm geduldig hinterher und schüttelte sich hin und wieder den Schnee aus der Mähne. Er war froh, ihr Schnauben zu hören; es bedeutete ihm Leben, Wärme und Zugehörigkeit und war das einzige, was ihm inmitten der winterlichen Ödnis Trost und Hoffnung spendete.

      Bis er wieder das Krächzen des Raben hörte. Hadhuin hob gerade noch rechtzeitig den Blick, um ihn aus dem Geäst über ihm davonfliegen zu sehen, geradewegs aus der Talschneise heraus auf einen Bergrücken zu, der sich in der Ferne wie ein dunkles Bollwerk erhob. Ohne recht zu wissen, warum, hatte Hadhuin es plötzlich eilig; bald würde es dämmern, ja, aber welche Zuflucht durfte er hoffen zu erreichen, ehe die Nacht hereinbrach? Er wandte sich vom Ufer des Sees ab, den er etwa zu einem Viertel umrundet hatte, und machte eine Anstrengung, seinen Schritt zu beschleunigen.

      Der Berg vor ihm stemmte sich in den Horizont, als hätte er die Last der Himmelskuppel zu tragen. Er schien nicht viel höher zu sein als die Berge der Umgegend, dafür jedoch umso breiter und massiger. Als der Waldboden allmählich anzusteigen begann, nahm Hadhuin den Hang weitaus gedehnter wahr als die Bergflanken, die er auf seiner Wanderung bisher beschritten hatte.

      Er ging jetzt im Windschatten, aber die bittere Kälte wurde dadurch kaum gemildert. Der Schneefall hatte indessen nachgelassen, nur wenige Flocken wirbelten noch um die nackten Stämme herum. Die Bäume standen umso dichter, je weiter er das langgezogene Tal hinter sich ließ, und zu Beginn machte er sich noch vor, daß daher auch das vage Zwielicht käme. Immer wieder schickte er bange, prüfende Blicke durch das Astgewirr über ihm, bis es irgendwann nicht mehr zu leugnen war: das Grau, das vom dünnen Gestänge der Baumkronen wie ein Baldachin getragen wurde, hatte sich um eine Spur verdunkelt.

      Und mit einem Mal wurde er von einer Hoffnungslosigkeit befallen, wie er sie seit Beginn seiner Flucht nicht gekannt hatte. Was war er nur für ein Narr: sein sicheres Waldversteck zu verlassen und im Schnee einem Raben hinterherzulaufen, weil irgendein Unbekannter sich als Feuergott auszugeben verstand! Wie hatte er so dumm sein können, auf solch eine Hochstapelei hereinzufallen? Wie konnte er nur den unsinnigen Anweisungen eines Fremden Folge leisten? Er, Hadhuin, geboren in den Stand der Sklaven und ausgezogen, ein Krieger zu werden? Fast hätte er seine Bitternis laut hinausgelacht. Und was hieß das überhaupt, einen Raben zu verfolgen? Wie konnte er sicher sein, daß es nicht jedesmal ein anderer war? Als gäbe es nicht genug Aasvögel in der Welt.

      Dämmerung senkte sich herab, langsam, aber unerbittlich, die schattenhafte Vorbotin der Nacht. Sie durchwirkte den trüben Winterhimmel und sickerte durch das kahle Geäst, verwob das Licht mit dem Dunkel, gab dem Wolf die Gestalt eines Hundes. Und umgekehrt. Hadhuin lief keuchend weiter bergan, aus Verzweiflung. Er lief bergan, wie er in die Gegenrichtung hätte laufen können, das eine machte so wenig Sinn wie das andere. Oben erwartete ihn der gleiche eisige Wind, der ihm im Tal schon das Gesicht zerschnitten hatte. Hadhuin lief, weil es auch keinen Sinn machte, stehenzubleiben. Er lief und lief, wie er glaubte, immer geradeaus und in Flugrichtung des Raben, den er schon seit geraumer Zeit weder gesehen noch gehört hatte. Trotz aller Kälte rann Schweiß aus seinen Achselhöhlen. Er hörte sich japsen und fürchtete, er würde den Verstand verlieren, oder den Mächten der höllischen Finsternis anheimfallen, oder beides. Er lief, ohne zu wissen warum, geschweige denn, wohin. Dabei verfluchte er den angeblichen Gott und seine Zauberkunststücke, mit denen er ihn geblendet hatte, und ebenso die wahren Götter, die ihm sein erbärmliches Schicksal aufgebürdet hatten. Aber vor allem verfluchte er sich selbst für seine Dummheit. Als er von links einen Schatten schräg an sich vorbeiziehen sah, ließ er ohne zu überlegen den Wanderstab fallen, ebenso den Strick, an dem er das Lasttier führte, und griff nach seinem Dolch. Angespannt lauschte er in die Dämmerung. Als weiter nichts geschah, fragte er sich, ob ihm wohl seine Augen einen Streich gespielt hatten. Oder ob er wirklich langsam verrückt zu werden begann. Vorsichtig ging er weiter; den Dolch in der erhobenen, zum Zustoßen bereiten Rechten, tastete er sich Schritt für Schritt auf einen breiten Schatten zu, der aus dem Halbdunkel wuchs und sich wie ein Gürtel über die Bergflanke zog.

      Erst als er