Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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sollte ihr alter Kollege erst sagen? Der bereitete uns mit großem Ernst auf den Besuch des Planetariums vor und erntete einen Lacherfolg nach dem unfreiwilligen anderen; er schickte wohl die halbe Klasse vor die Tür, doch ich hielt mich da lieber zurück, die Pilze vielleicht, ich weiß es nicht; im Grunde war jeder Konflikt mit den Lehrern nur Zufall, ein bloßes Mißgeschick, zumindest aber kein einziges Mal gezielte Provokation.

      Rektor Lüders, längst schon eine Respektsperson, mußte sich hier notgedrungen auf die Seite seines Kollegen stellen und mahnte uns kurz und ging gleich wieder fort, und die Schüler wieder ins Klassenzimmer. Im Deutschunterricht nun Brecht, Biermann und Degenhardts "Schmuddelkinder"; das war links, und ich fand es gut, nur blieb es für mein Verhalten gegenüber den "Schmuddelkindern" vor der eigenen Haustür ohne jegliche Konsequenz. Frau Bergmann sagte in Gemeinschaftskunde, China habe den Sozialismus weit besser verwirklicht als die Ostblockstaaten, wogegen ich heftig Protest erhob und trotzdem meine Eins bekam, ansonsten weit davon entfernt, so was zu sein wie ein Klassenprimus. Allein die Drei in Deutsch mußte weg; die war auch mir ein Makel.

      - Und hat ja auch geklappt, und ebenso, daß ich trocken blieb im Hamburger Planetarium. – Vor dem Theaterbesuch am Abend ein Bummel durch eine Einkaufsstadt; ein Betonklotz im Hamburger Norden. Hier nun endlich "Starman" gefunden. Der mit der progressiven Singlemappe wagte sich in ein Sexkino rein; dort scheuchten sie ihn gleich wieder raus. – Warum nicht St. Pauli wie mit den Franzosen? Wie drückten wir uns die Nasen platt an den Schaufenstern der Erotikläden, und freilich: eine Hamburg-Fahrt, mit Hafenrundfahrt und all diesen Sachen; so kühn warn die Dörfler nun auch wieder nicht, nur wegen St. Pauli nach Hamburg zu fahrn. Schon '66, von Heidetal aus, war es eine Hamburg-Fahrt; wie drückte ich mir die Nase platt an den Schaufenstern dieser Musikalienhandlung mitten auf der Reeperbahn mit den großen roten E-Gitarren. Und: wer schon mit neun auf St. Pauli war, der mußte ein richtiger Junge sein; das andere, das "Eigentliche"... – Sicherlich später als '66, doch ganz gewiß in Ruhrstadt noch: Ich werde als Erwachsener in Hamburg wohnen und samstags zu den Nutten gehn und sonntags dann zu den Menschenfreunden, Buße zu tun wie ein Katholik, und eher ein Schicksal denn ein wirklicher Wunsch.

      Verwaltungspost aus Lüneburg: zu viele Interessenten, und folglich eine Aufnahmeprüfung. Die Stellenannoncen im "Nordstädter Boten": "Industriekaufmann", allein schon das Wort, Kaufmann, und dann auch noch Industrie... – In diesem Aufzug kannst du's vergessen, sagte Jan zu mir an der Bushaltestelle, als ich in roter Cordjeanshose mich zum Bewerbungsgespräch begab. – Hätte er doch nur recht behalten. Denn wenn schon Büro, dann wenigstens so modern wie der Realschulneubau, aber keines aus der Zeit der Indianerkriege mit verrußtem "Kontor"-Schild über dem Eingang und einem Chef mit Adlerblick und nicht minder gestrenger James-Bond-Frisur, und freilich die von Sean Connery.

      Im Januar eine Panikattacke. In den Osterferien Kreislaufbeschwerden. Nach Oscar Wilde Hermann Hesse gelesen. Angst vor einer Gehirnhautentzündung; wenn da nun doch was dran sein sollte an diesen Rückenmarks-Schauergeschichten?... – Erstmals trat diese Störung bei der Besichtigung des Wendener Rohbaus im Frühjahr 1970 auf; ich bin nicht, ich bilde mir nur ein, daß ich bin, und wenn Gott es so will, bin ich weg. Gott als "Genius malignus", im Folgejahr einmal kurz aufgeblitzt, Sein oder Nichtsein, Danyel Gérard, "Wer ich bin", B-Seite der deutschsprachigen "Butterfly"-Single, erstaunt, aber nicht erleichtert, daß auch andere sich so etwas vorstellen konnten. – "'Glauben' heißt 'nicht wissen'", sagte Mathelehrer Roos im Samstagsunterricht, und wies anschließend dennoch mathematisch nach, daß die Menschheit, wie auch die Bibel sagt, auf ein einziges Paar zurückgehen muß. "'Glauben' heißt 'vertrauen'", sagt die Kirche; das aber setzt ein "Urvertrauen" voraus, daß mir schlichtweg nun mal fehlt. Eine meine frühesten Erinnerungen ist, daß mich mein Vater in Heidetal auf seine Schultern hob und ich schreckliche Angst hatte, herunterzufallen, ich also laut zu heulen anfing und er mich wieder runterließ (vermutlich eine angeborene Gleichgewichtsstörung). Mittwochs – oder doch nur alle 14 Tage? – eine Schulandacht mit dem progressiven Norddorfer Pfarrer im dortigen Gemeindesaal. Religionsunterricht? Nicht im Angebot.

      Ende Mai, Anfang Juni die Abschlußfahrt nach London. Ich wollte mal rauchen, und freilich: nur paffen, und freilich etwas Edles dann. Der Mann vom Norddorfer Schülerkiosk gleich neben der neuen katholischen Kirche empfahl mir die teure "Botschafter"-Marke, die Filter wie bei den "Astor"-Zigaretten aus geschnittenem, nicht aus gepreßtem Kork. Mit "Botschafter" und der "Prinz Oberon" von Bremerhaven nach Harwich, nicht wenige sturzbetrunken; Schlaf fand sich erst in den Morgenstunden. Gekuschelt mit der Freundin eines Klassenkameraden; so harmlos, daß weder die Klassenkameradin noch ihr Freund irgend etwas dagegen hatte.

      Die Gasteltern fuhren einen Vauxhall Kombi, den britischen Opel Rekord. Streatham, kurz hinter Brixton, wo Bowie, was mir damals noch unbekannt, seine Kindheit und seine Jugend verbrachte. No chance beim Norddorfer Mitbewohner. Zum Frühstück Toast mit Speck und Ei. Wie hatte ich mir doch erhofft, im Gegensatz zur Frankreichpleite dort einen netten Boy anzutreffen, man wußte das ja, fünf Prozent aller Briten, mehr als irgendwo sonst auf der Welt, mit Kuscheln und Knutschen, doch den gab's leider nicht, und überhaupt, was heißt hier "Gasteltern"? Abgesehen von der freundlichen, stets gut gelaunten Hausfrau und ihrem Mann bei der Hin- und Rückfahrt zur Station blieb der Rest der Familie so unauffindbar wie das richtige Badezimmer; wir hatten nur das Klo mit einem winzigen Waschbecken, gerade mal groß genug fürs Zähneputzen und für eine Handvoll Wasser ins Gesicht. Gewiß, wir alle hatten im Fernsehen den uns sehr beeindruckenden Film "Deep End" gesehen, so daß es naheliegend gewesen wäre, ein Public – Bath? Bathhouse? – aufzusuchen, nur... wie es schon vier Jahre zuvor bei Bowie heißt: "Unwashed and somewhat slightly dazed"...

      - Ein Bildwitz in einer britischen Illustrierten: "My cobra escaped, so I had to improvise", der Schlangenbeschwörer mit der Flöte und dem Korb auf dem Schoß, der Deckel schon leicht angehoben, so frei sind die Briten auch in diesen Dingen, welch Unterschied doch zum spießigen Frankreich, mal ungeachtet jetzt des Nordirland-Konflikts. Damals im Mulhouser Supermarché "Give Ireland back to the Irish" von Paul McCartney's Wings gekauft; ein Titel, der meines Wissens in der BRD verboten war.

      Selbst im Middle-Class-Viertel Streatham an jeder Ecke ein Silver Shadow; wohl jede zweite Figur gestreichelt, die mir dort vor die Finger kam. – Die großen schwarzen Daimler-Limousinen. Die großen leckeren Softeisbecher in dieser – schon Brixtoner? – "Wimpy"-Filiale mit Saft und süßen Früchten. Ein Schallplattenladen des Vertigo-Labels, die waren noch progressiver als Island, hatten aber zu meinem Erstaunen auch Jim Croce unter Vertrag. – "Grand Hotel" von Procol Harum, "Musik für junge Leute vor der Schule", das war orchestral, das war seriös und zudem noch auf Chrysalis.

      Letzter Tag, allein unterwegs, mitten in der City. Ein dringendes Bedürfnis, nur: wo? Public toilets an jeder Corner zwar, doch all of them im Underground (und wo wir gerade beim Thema sind, "groß" und "klein" nach den Dudenregeln, soweit ich diese jetzt finden konnte). Nein, da sei meine "Fünf-Prozent-Hürde" vor, nicht zwischen Dirty old men mit bad intents; nur leider meiner Bladder kein Common sense. – Einfach nur drauflosgelaufen. Wie ich dann nach Streatham kam... jedenfalls surely kaum zu Fuß und dann auch quer durch Brixton noch, "No-Go-Area", wie man heute so sagt. For similar reasons like in France, nur noch arg getragene Sachen im Schrank.

      Der Abschlußabend unsrer Abschlußfahrt. Zuerst ein Varieté-Besuch, ein Theater mit steilen Sitzreihen. Die Englischlehrerin saß in der Vorderreihe und schaute sich für einen kurzen Moment schweigend und eher fragend um. Einer ihrer Kollegen hatte uns vor der Fahrt erklärt, die Schwarzen hätten größere Poren und folglich im Vergleich zu den Weißen den strengeren Geruch. Je est un personne de couleur. Nur: sollte sich das nicht jeder wünschen?…

      Die Londoner Kneipen und Diskotheken nahmen's schon 1973 mit der Altersgrenze sehr genau, und ich war ja leider noch fünfzehn. Nun, eine Diskothek gewährte uns dennoch, in Begleitung unsres Gastlehrers, Einlaß; es kam dann zu einer Massenschlägerei, der wir nur knapp entkommen konnten. Mister Field als Native Speaker lehrte uns die englische Umgangssprache. Marc Bolan warb auf einem Plakat "Keep Britain tidy. Stop Pollution", und Native Speaker Mister Field mißverstand's nicht anders als ich: "Mein lieber Freund, das solltest du eigentlich wissen", erwiderte er mit einem