Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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der schon längst nicht mehr glaubte, für mehr als zur Sünde, zum Laster der Wollust tauglich zu sein?...

      An Himmelfahrt schwül und gewittrig, genau das richtige Wetter für "This town ain't big enough for both of us" von den "Sparks". Für einen Besuch von Hans war das Wetter egal und Tag und Stunde immer recht. – "His mouth is big enough for both of us", sprach das Glied zum Ejakulat, und Aids noch in weiter Ferne. Hans' Blick erbat dringend ein Taschentuch, ich hatte zwar nur ein arg benutztes zur Hand, doch besser als auf den dunkelgrünen Noppenteppichboden. Ging er "danach" wie im Harz wieder leer aus, oder genauer, im Gegenteil?...

      - Obertitel: "Apocalypse", Ensemble: Mahavishnu Orchestra, die neue orchestrale Besetzung plus London Symphony Orchestra; so zupft's und streicht's und jubiliert's eben nur, wenn Zupfen und Streichen nur morgens um sechs und mit Blumen am Bett vom Guru erlaubt, wo dieser doch eigentlich wissen sollte, daß Blumen und Pflanzen in Schlafgemächern schlichtweg nichts verloren haben; die Menschenfreunde wußten's bestimmt.

      - Und Sex bei denen nicht mal morgens um sechs. – Der Rücktritt; das Ende der Ära hingegen bereits im Herbst zuvor. Herr Conrad sah die Entwicklung mit Sorge; mir aber war, so sagte ich's ihm, Willy Brandt nur ein Teil von jener Kraft, die zwar stets das Gute will, doch leider stets das Böse schafft. – Ich verkaufte Herrn Conrad das Gros meiner Münzen, Pfennige und Groschen des Deutschen Reichs, wenigstens nicht die älteren Stücke, für die mir ja eh die Katalogdaten fehlten. War aber das nun etwa fromm, zur Bestätigung der eigenen Frömmigkeit dem Gottlosen Gottloses zu verkaufen? Hätte ich Hans meine Pornos verkauft, so ich denn welche besessen hätte?...

      Seit ein paar Wochen Mitarbeiter im Kindergottesdienst. Nach dem gemeinsamen Anfang mit Liedern und Gebeten gingen die Gruppen mit ihren Helfern in verschiedene Ecken der Wendener Kirche, neugotisch, relativ groß und licht, auf einer Anhöhe in der Mitte des Dorfes; nun Heimat wie früher die Schule. Ich hatte stets die Ältesten, kurz vor dem Konfirmandenalter, und immer auf der Empore links.

      Fürs leibliche Wohl sorgte weiterhin Hans, wenngleich auch nur noch sporadisch, gleichsam als rechte Hand derselben, Hans, der am liebsten mit richtigen Männern; ob das je in Erfüllung ging, hat er mir nie gesagt. Und noch heute bin ich im Zweifel, ob er tatsächlich was mit diesem wohl ein Jahr Jüngeren hatte; meine Versuche blockte der Jüngling jedenfalls unmißverständlich ab. Andererseits, und es muß ja nun mal vor '76 gewesen sein, lugte er eines Freibadtages zusammen mit ein paar anderen Jungs, vermutlich seine Brüder und deren Freunde, lachend über meine Kabinenwand; kichernd warteten sie darauf, daß die Badehose falle. Ich tat es aber trotzdem nicht; da hätten sie schon klopfen müssen. – Vielleicht ein fataler Fehler. Oder einfach nur das Türschloß auf und schauen, was passiert...

      Die Kindergottesdienstmitarbeiter trafen sich jeden zweiten Samstag im Pfarrhaus und besprachen mit dem Pastor den Bibeltext, der den Kindern zu erzählen war; danach kurze Statements der Mitarbeiter zu ihrem jeweiligen Konzept. – "Konzept"? Ich erzählte den Kindern die biblische Geschichte und stellte ihnen anschließend Fragen dazu; sie waren ja schließlich die "Großen". – Einmal gab's statt eines Bibeltextes den von mir ins Deutsche übertragenen Sri-Chinmoy-Klappentext von "Love, Devotion, Surrender", "Saint Augustine has blessed us with a profound message, 'Love and then do what you like'", aber wenigstens ohne den "Soundtrack"; das hätte wohl nicht nur den Pastor verstört. Und: war's denn bei mir etwa anders? Das fand ich nun doch – und nicht nur aus konkreten musikalischen Gründen – etwas kühn, daß John McLaughlin, so jedenfalls das Rocklexikon ohne Quellenangabe, gesagt haben soll: "Gott ist der höchste Musiker. Ich bin nur das Instrument, auf dem er spielt", zumal Gott wohl kaum einen Manager braucht.

      Nach der samstäglichen Bibelarbeit: "Ich badete am frühen Abend und onanierte noch. Das war mein Verderb. Nachher war ich sehr erhitzt und hatte ein furchtbares Völlegefühl." – Mein Verderb war es eigentlich nicht. – Brötchenhälften, Tatar und Gürkchen. Der Gleichwert schlägt zurück. Rasender Puls und Übelkeit, als stünde es mir auf der Stirn geschrieben, nicht schwarz auf weiß, sondern weiß auf hochrot. Kein Bissen war möglich, und so blickte ich stumm auf dem Tisch mit den Brötchen und Gürkchen herum und murmelte, nach Minuten wohl, daß es doch Sünde sei, Fleisch zu essen, und verzog mich aufs Zimmer und warf mich aufs Bett. Meine Mutter suchte das kaum mögliche Gespräch; wir kamen zur Lehre und schließlich überein, den Lehrvertrag jetzt ändern zu lassen von Industrie- auf Bürokaufmann, was nach damals geltendem Arbeitsrecht der Ausbilder akzeptieren mußte.

      - Bürokaufmann. Nicht Sikkim, nicht New York, und den Bürokaufmann zeige man mir, der's auf diese oder vergleichbare Weise... – was wäre denn da "vergleichbar" schon...

      Getreidefelder... schön und gut, nur war der Geruch mir noch nie so genehm; jetzt aber wurde ein Heuschnupfen draus, richtig fett und satt.

      Die Fußball-WM. Der Seniorchef, seinem Junior gleichsam "diametral entgegengesetzt", erlaubte ab dem Viertelfinale die Nutzung tragbarer Fernsehgeräte. Nur gut, daß die westdeutsche Niederlage gegen die noch immer gute DDR nicht werktags, sondern samstags war, doch der Teufel gewinnt, wie stets in der Welt, auch beim Fußball letztlich die Oberhand, und die kapitalistische BRD, angeführt vom "Maoisten" Paul Breitner, gegen Holland das Finale.

      Tags drauf Beginn der Sommerfreizeit; zwei Gruppen für jeweils eine Woche, ein Jugendcamp aus nachgebauten Köhlerhütten, ein Urzeitmeer mit bizarren Felsformationen nahe der luxemburgischen Grenze. Echternacher Basilika, Bitburger Brauerei. Mittagessen im Hotel, dazu ein Bier oder "Alster", was dort sogar verstanden wurde, obwohl es doch sonst überall "Radler" heißt. Ab und an in der Mittagspause zwecks Meditation zu einen Felsen bei unserem Badeplatz an der Prüm; noch immer große Hemmungen, "Krishna" zu sagen statt "Herr".

      Samstag; "Helferabend". Im Gasthaus drei, vier kleine Bier; leichter Schwindel und mäßige Übelkeit. "Ich predige unermüdlich von Krishna. Leider nicht nur aus edler Gesinnung, sondern vielmehr, um mich in den Brennpunkt des Geschehens zu stellen." Hier im Land von Helmut Kohl fühlt sich Krishna gar nicht wohl. In der Musikbox deutsche Schlager und Kraftwerks "Kometenmelodie".

      Die Abende am Lagerfeuerplatz mit dem großen Holzkreuz. Das neue landeskirchliche Liedgut war mir eigentlich weitaus lieber als der evangelikale Schlagersingsang, selbst bei nun wirklich einem Schlager wie dem bekannten "Danke"-Lied. Doch "Danke für meine Arbeitsstelle"? Das mitzusingen, wäre kein Dank gewesen, sondern nichts als Lästerung.

      - "Evangelikal"... was wußten wir damals von "evangelikal"? Die Helfermädels hatten eine Mappe mit entsprechenden Liedern zusammengestellt, wo immer sie diese auch herhaben mochten. Wir singen von Jesus, er ist der Friedefürst, heilt dich von Sündenlast, wenn du sein Bruder wirst. – Was für eine Vorstellung damals, beim "Danke"-Lied an die Realschuljahre oder gar an Hans zu denken...

      - Sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein: "Meine sexuellen Sprüche waren erloschen"? – Auch damals ein bloßes Wunschdenken nur.

      Die männlichen Teilnehmer hatten die Wahl zwischen einer Tränke mit Frischwasserzulauf und den Duschen im Sanitärkomplex des Hüttendorfs im Anbau eines Kiosks. Wer aber hat die Duschen wirklich täglich genutzt? "Der stinkt", hatte die Auszubildende im letzten Lehrjahr zu ihrem Kollegen gesagt. Ich wußte nicht, wohin ich sehen oder was ich sagen sollte und spielte verlegen mit den Aktenreitern der Lieferantenbuchungsblätter, mattweiß wie ein Ankunftsplan. Nun denn, die Botschaft war angekommen; fortan jeden Abend – einen Waschlappen für "oben" und einen für "unten" kannte ich ja schließlich schon aus Ruhrstädter Tagen – gründlichst gereinigt.

      Auf dem Rückweg vom Mittagessen im örtlichen Hotel ein kurzer Blick zu Hans und dann ein Schwenk zum Sanitärkomplex. Einer für das "Fleisch", nicht fürs Kuscheln und nicht fürs Gespräch. Nur: hätte ich denn letzteres überhaupt gewollt bei ihm und dann auch noch wirklich gesucht?...

      Einer in meinem Alter, Sohn eines Amtsbruders unseres Pastors und kurzzeitig Helfer im Kindergottesdienst, sagte mir lachend: "Das ist doch keine Sünde!", als ich von eben dieser erzählte, wenn freilich auch nichts Konkretes jetzt. Wo nahm ich dieses Vertrauen, wo nahm er seine Gewißheit her?...

      Auch