Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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kaufte, wußte ich nur zu genau, daß Bibellese auf eigene Faust auch der Kirche als eher bedenklich galt.

      - Der arme Hans: hinfort mit ihm, und das mit vollem Bauch. Ich hatte gut reden, nur noch angefüllt mit dem Unlusthormon für "danach". Ein Gelübde: bis Ostern ein Neubeginn. "Sehr töricht", sagt das Urtagebuch; zum Termin, nicht zum Verscheuchen.

      - Ein Neubeginn: Mein Jugendzimmer frisch tapeziert, die gerade Wand mit dunkler Steintapete und der Schrägenbereich mit einem Täfelungsmuster. Ich klebte mir auf die Steintapete ein Poster mit finnischer Seenlandschaft, daneben ein Postkartenfoto Freytags und noch ein – "Bravo"? – Miniposter vom neuen Mahavishnu Orchestra mit menschenfreundlicher Streicherbesetzung. Zwei Langspielplatten im Januar: "Teaser and the firecat" und als Kontrastprogramm "Birds of fire". 44 Mark. Im Februar "Love, Devotion, Surrender" von John McLaughlin und Carlos Santana. Herr Conrad, der mir stets gewogene Buchhalter, hörte sich die Platte in der Mittagspause an; ich fürchte, er meinte das ehrlich, daß sie ihm relativ interessant.

      Jazz im ZDF-Sonntagskonzert, und ganz gewiß kein Dixieland, und dann endlich das Mahavishnu Orchestra, die alte "Birds of fire"-Besetzung, und bestimmt eine halbe Stunde lang. Davor irgendeine Freejazz-Kapelle; mein Vater versuchte redlichst, beidem etwas Positives abzugewinnen. Meine Mutter war für die Handvoll harmonischer Klavierakkorde zu Beginn eines "Visions of the Emerald Beyond"-Tracks, ich spielte die ganze McLaughlin-LP eines Sonntagsnachmittags auf dem Kirschholztisch im Eßzimmer ab, so dankbar wie einst mein Musiklehrer bei den "Thick as a brick"-Streicherakkorden.

      - Und wenn schon nicht McLaughlins Musikalität, dann wenigstens seine Frisur. Mittags nun stets zur Stadtbücherei, dort "Seher, Grübler, Enthusiasten" gefunden und umgehend ausgeliehen. Der Artikel über die Menschenfreunde: interessant, aber keine Erschütterung.

      - Die Jugendabende: montags von 19 bis 21 Uhr, damals noch vom Pastor geleitet. Die neuen geistlichen Lieder im kirchlichen Teil der "Mundorgel". "Die Gute Nachricht. Das Neue Testament im heutigen Deutsch".

      - Das Gemeindehaus neben der Kirche: ein geräumiges Einfamilienhaus aus dem 19. Jahrhundert, Fachwerk, Backstein, Granit. Norddeutsch. Lutherisch. Ein feste Burg. Ein Hauptsaal mit Nebenraum und Teeküche. Im Nebenraum ein Materialschrank, Noten, Gesangbücher, Mundorgeln, Bibeln, ein Tisch und eine Sechziger-Sitzgruppe, Treffpunkt der jugendlichen Mitarbeiter, der "Helfer" nach Abschluß der Jugendstunde.

      Bis auf Richard, den Banker, alles Gymnasiasten. Ich schwatzte vom Hinduismus, von Krishna, von John McLaughlin und George Harrison, und da ich noch immer der Meinung war, letztendlich nur die Wahl zu haben, ja, zwischen Hofnarr und Prügelknabe, dienten meine Erkenntnisse jetzt zuvörderst mal der Erheiterung, abgesehn von den Menschenfreunden, die ich erst gar nicht erwähnte. Und ist ja auch egal; ein Kaufmannslehrling in der kirchlichen Jugend darf sich bestenfalls sozial engagieren. Ich muß mir da wirklich keine Vorwürfe machen; mein bloßes Interesse an solchen Fragen stempelte mich zum Schwätzer ab.

      - Tausende junger Männer hörten John McLaughlin und kannten besagten Klappentext, ohne sich deshalb gleich sonstwas nun hier aufzubürden oder abzuklemmen...

      Der Norden entdeckte den Karneval. Ich aber war jetzt ein Menschenfreund und kaufte mir das Doppelalbum "Tales from Topographic Oceans" der Artrock-Gruppe "Yes". Seite eins und Seite zwei liefen mal komplett im "Fünf-Uhr-Club", ungewöhnlich für eine Sendung, die Rock und Blues den Vorzug gab, über Lehrlingsrechte informierte und über die Arbeit der Gewerkschaftsjugend.

      3. März. Berufsschultag. Bis halb zehn durch Norddorf geirrt und dann mit dem Bahnbus nach Nordstadt. Bis halb zwölf zwei Cola in der Bahnhofsgaststätte, erfüllt von der Angst, gesehen zu werden von solchen, die mich dort besser nicht sehen sollten.

      - Besser zurück nach Norddorf. Von einem Ortsschild zum anderen und mehrmals um die Realschule rum, dann endlich auf zum Rathausparkplatz, wie üblich an Berufsschultagen mit dem Nachbarn zur Linken nach Hause zu fahren, bis zur Verwaltungsreform Direktor der alten Wendener Samtgemeinde. Er lobte meine Berufswahl; Buchhalter, sprach er mir aufmunternd zu, das sei doch das Schönste, was es gibt. Ich kannte zumindest drei andere Sachen, die mir bei weitem schöner warn: Pilze suchen zum einen, gute Musik zum anderen. – Im Büro ein Entschuldigungsschreiben getippt und die Unterschrift meines Vaters, gleichsam ein altdeutsches Kunstwerk, so gut ich es konnte, gefälscht. "Ich erzählte in der Schule, mir sei übel gewesen." Und: war das denn etwa gelogen? War denn nicht jeder einzelne jetzt dieser Kaufmannstage zum... ?

      Das Urtagebuch beklagt, mich törichterweise gegen den Wechsel aufs Landwirtschaftsgymnasium entschieden zu haben. Seitens der Schule kein Problem; mein Vater hatte sich vor Ort informiert.

      Ein Philips-Plattenspieler mit 15 Watt und abnehmbaren Stereo-Kofferboxen für 298 Mark. Daheim verhaltene Kritik, nun, bei diesem Preis nicht ganz unberechtigt. Hin und wieder warf meine Mutter einen kritischen Blick auf meine Langspielplatten; bei "Demons and Wizards" befürchtete sie Okkultes, wer weiß was für Riten beim Yes-Titel "Ritual", und die Coverillustration zu "Woman is the nigger of the world" auf John Lennons "Shaved Fish"-Sampler erschien ihr schlichtweg pornographisch.

      Ein paar Tage krankgeschrieben, eine Sehnenentzündung im Nackenbereich. Der Knabe, der mir schon '70 nicht nur ausgesprochen schön, sondern auch ausgesprochen aggressiv mir gegenüber war (vom Jugendkreis abgesehen, gab es damals bei etlichen Dorfgymnasiasten diese aggressive Arroganz), schlug grundlos im Schulbus auf mich ein. "Georgie, wehr dich doch!", schimpfte der Schulbusfahrer ins Mikrofon, doch ich ließ es geschehen, wollte ich doch als Menschenfreund nun endlich mal die Erfahrung machen, wie das so ist, sich einmal nicht aus den üblichen Gründen nicht zu wehren...

      Ende März ein Klassentreffen in der elterlichen Kneipe eines Mitschülers. An der Bushaltestelle Lisa-Maria; Plauderei zwischen alten Bekannten. Aller frommen Erleuchtung zum Trotz mochte ich der Schulzeit noch zugestehen, "daß diese alten Tage einstmals ein sehr guter Eintopf mit sehr verschiedenen Zutaten waren, die jedoch, einmal wieder aufgekocht, nicht mehr schmeckten." – Und so war's ja leider wirklich; gegen zehn die erste Grüppchenbildung.

      Religiöse und nichtreligiöse Phasen. Die nichtreligiösen Phasen begannen üblicherweise mit dem, was die religiösen Phasen auf wenige Tage begrenzte. Kreislaufstörung auf Kreislaufstörung. Ein Brief an Bruder Mayen, die Adresse versehentlich falsch; Gott sei Dank kam der Brief nicht zurück. Laut Tagebuch auch ein Geburtstagsglückwunsch, absurd, da Menschenfreunde, wie schon erwähnt, Geburtstage nun mal nicht feiern. – Ein Brief an John McLaughlin mit einem Traktat der Menschenfreunde; ich nannte ihm deren US-Adresse, North Bergen, ein Vorort New Yorks im Bundesstaat New Jersey. Der Brief ging an sein Management, das stand ja auf dem "Birds of Fire"-Cover, auch wenn mir "Management" nicht gerade menschenfreundlich und folglich ein wenig suspekt erschien; fürs Rückporto eine Ein-Dollar-Note plus internationale Antwortscheine.

      - New York. Ich besorgte mir im Reisebüro einen Visumantrag samt Flugplan und präsentierte beides einer Mitschülerin, die mir zufällig dort begegnete, aus Realschul- und nun Berufsschultagen; die erklärte mich für verrückt. Wir sahen uns Jahre später dann des öfteren in meiner Stammdiskothek, und ich rühmte mich, dem Dauerwerben ihrer offenherzigen Discofreundin selbst '80 noch widerstanden zu haben; ich zögerte in vergleichbarer Lage heute nicht einen Moment.

      In der Nordstädter Stadtkirche ein Vortragsabend eines bekannten Volksmissionars; der predigte dort eine Sündenvergebung, die Buße und Umkehr sinnlos macht: "Dann meinte er jedoch, Gott habe sich ja in Jesus verwandelt und wüßte nun, wie es ist, ein Mensch zu sein. Man könne ihm nun alle unsere Sünden vorwerfen und weiterhin so leben wie bisher, uns sei ja nun vergeben." – Das war eindeutig gegen die Menschenfreunde, ja, selbst noch gegen George Harrison: "The Lord loves the one that loves the Lord, and the law says, if you don't give, then you don't get loving." Mit Rhythmusgruppe und Slide-Guitar klang das wirklich gut, nur das – Krishna? – Bild auf der Textbeilage ein wenig zu Zeugen-Jehovas-mäßig, oder, im profanen Kontext, wie man's aus "Reader's Digest" kennt.

      "Jetzt war ich vollends von der Christenheit enttäuscht." George Harrison hatte gut reden, der persiflierte auf dem Cover von "Living in the Material