Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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der nie wollte, hatte ich versprochen, im Konfirmandenunterricht... – Ich hielt Wort, und wohl alle in meiner Reihe und auch in der dahinter bekamen es zumindest im Ansatz mit, und mehr als ein "Ansatz" war es ja eh nicht, und es wurde gelacht und gejohlt; der Pastor glücklicherweise nicht, und gelacht hätte der wohl kaum.

      - Der Linoldruck mit der Herrscherfigur und den Menschen an Marionettenschnüren: alle sagten, das ist Gott. Ich sagte, das ist der Teufel. – Mein Konfirmationsspruch, Psalm 34, Vers 1: "Ich will den Herren loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein."

      Professor Grzimek präsentierte in "Ein Platz für Tiere" "homosexuelle Dickhornschafe", so die Ankündigung der "Hör Zu". Der Grund war aber lediglich die Abwesenheit der weiblichen Tiere, keine Ahnung, warum diese abwesend waren, keine Ahnung, was ich konkret mir erhoffte, aber daß ich mir etwas erhoffte, das weiß ich noch ganz genau.

      Auf der Anklagebank beim "Fernsehgericht" ein homosexueller Betrüger. "Ich wußte gar nicht, daß es so etwas gibt", so mein Kommentar, und freilich jetzt nicht diese Kombination (die ja in gewisser Hinsicht – und heute ja gleichsam der Regelfall); meine Mutter war wohl in Ruhrstadt und mein Vater in der Erziehungspflicht, diese Sendung zu kommentieren jetzt, wobei es nun weder Empörung war noch irgendeine Belehrung; ob ich ansonsten beim "Fernsehgericht" in den siebziger Jahren die Fronten gewechselt – ich nehme es einfach mal an; als Kind war ich ohne Wenn und Aber stets auf der Seite des Staatsanwalts, und je härter dann das Urteil war, mir folglich desto lieber.

      Im Sommer '72 auf Radio Bremen, nur bei Sonnenschein relativ störungsfrei, "Starman" von David Bowie. Der Moderator sprach von einem Künstler, bei dem wohl keiner so richtig wisse, ob das ein Herr oder doch eine Dame; was immer da also auch folgen sollte – die Anmoderation war Grund genug, diesen Song jetzt vorsorglich mitzuschneiden, damals noch mit dem Tischmikrofon. Ich stellte mir David Bowie als männliche Nana Mouskouri vor, elegant, seriös, feminin, eine Dame von Welt mit langem, glattem, schwarzem Haar, einem bodenlangen dunklen Paillettenkleid und einer Brille aus dunklem Horn, und "Starman" ihr Grand-Prix-Chanson, und so oder so das beste, was ich bis dato gehört.

      - Paul: von der Hand in den Mund, und das wohl im Sommer des Vorjahres schon. Im Frühjahr drauf erwischten uns Klassenkameraden auf dem Turnhallenklo und grinsten, vielleicht etwas irritiert. Daheim dampften Eisbein und Sauerkraut, Zwiebelringe, Erbs- und Kartoffelpüree. Vom Eisbein nur das Magere. Was sie wohl sagten, wüßten sie jetzt, was ich vor gut einer Stunde noch...

      - Steißbein statt Eisbein. – In seinem goldbraun glänzenden, enggeschnittenen, ich nehme mal an, Kunstseidenhemd, wies Paul durchaus etwas Ähnlichkeit auf zum Bowie der Ziggy-Stardust-Phase. Ziggy Stardust, eine "Hör Zu"-Empfehlung. Und doch, betört vom Frühsiebziger-Island-Logo, ein Mitschüler hatte mir im Herbst '71 seine Singlemappe mit progressiven Island- und Vertigo-Platten, zu hart, zu laut, zu unmelodisch geliehen, sollte nun meine erste LP ganz fraglos eine von Island sein; ich hatte ja noch nicht mal eine Island-Single, noch nicht mal Cat Stevens' "Moon Shadow"; die führte sogar das Wendener Haushaltselektrogeschäft, doch wer weiß, was auf der B-Seite ist...

      - Gruppenzwang? Nicht an der Realschule Norddorf. Jeder konnte getrost und ohne Furcht, dann als Weichling dazustehen, hören, was er wollte, und wäre es Roy Black gewesen. Du kannst nicht alles haben, das Glück, den Sonnenschein; kurzum, es endete dann ein Jahr später bei "Demons and Wizards", Ensemble: Uriah Heep, und "Bronze" ein Island-Sublabel noch, und das Logo folglich die Insel. 22 DM Festpreis, Heavy Rock, nicht Hard Rock; die durfte man, wenn auch ganz, ganz leise, sogar am – noch stillen – Karfreitag hören.

      Am Tag nach dem Olympia-Attentat. Erste Stunde Gemeinschaftskunde. Minutenlanges Schweigen. Einer kichert, Frau Bergmann mahnt ihn streng.

      - Mal wieder die Monatskarte vergessen. Es kam dann ganz auf die Tagesform des Busfahrers an, ob er den Schüler einsteigen oder einen Fahrschein lösen ließ; der Schulbusfahrer war da nicht weniger streng. Es war wohl am Monatsanfang; Lisa-Maria hatte noch ihre Vormonatskarte dabei und drängte mich, ins Namensfeld meinen Namen über den ihren zu schreiben. Der Schulbusfahrer stutzte erst, doch Lisa-Maria lenkte ihn ab, und so kam ich mit dem Schwindel buchstäblich durch – und weiß beim besten Willen nicht, warum ich diese Karte nicht aufgehoben, die Kraftpostschülermonatskarte mit Lisa-Marias Unterschrift, dieses kleine, kostbare Dokument unsrer einzigen gemeinsamen "Sünde"...

      - Vermutlich genau deswegen. – Zur Zehnten endlich im Neubau. Paul verlor das Interesse allmählich, und die, die es finden sollten, fanden es nicht; neun, nein, acht, ich mußte da wirklich erst nachrechnen jetzt, und Zärtlichkeit, Erotik... mit einem mal ein flüchtiger Lippenkuß, doch Zärtlichkeiten unter Jungs in diesem Alter wohl bei allen eher die Seltenheit.

      Der Novemberorkan; während andere sich beim Turnen mühten, saß ich trocken und warm im Dachgeschoß in der alten Bibliothek, pulte Reisig aus den Altbauwänden und summte "Lay down" von den "Strawbs" und machte mir so meine Gedanken zur "mutuellen Onanie" (um Mißverständnissen vorzubeugen: wirklich nur Gedanken). Beträchtliche Sturmschäden, auch in den Wendbergen, doch kein Vergleich zum Weihnachtsorkan vor zwei Jahren im Südwesten. Und während ich das notiere, der 29. Jahrestag.

      Das war mir schon im Anfang nicht möglich, "dabei" an "schöne" Jungs oder Mädchen, an solche zum Kuscheln und Knutschen zu denken; das ging immer erst zum "Schluß". Ein sehr Attraktiver wollte mal fast, allerdings erst mit den Älteren, die riefen mich, Georgie, hier ist was für dich. Irgendein Turnhallen-Sportwettbewerb, keine Ahnung, was ich da zu suchen hatte. Er auf dem Boden, ich neben ihm, ein wenig an seinem Hintern fummelnd; als ich das vertiefen wollte, lachte er und ging fort.

      Der von der Hauptschule ließ sich bezahlen, genauer gesagt, mit Lakritz. Das ging nur im Toilettenhäuschen in der Nähe der Norddorfer Bushaltestellen, ein rot verklinkerter Neubau. Da mußte man reaktionsschnell sein, wenn plötzlich ein Erwachsener kam, und das kam ja schon mal vor; gesagt hat aber keiner was. Er fragte mich, ob ich mal krank gewesen; ich frage mich noch heute, was er und wie er das eigentlich meinte.

      - Hans. Ich ahnte es seit Monaten schon; sehr still und mit vieldeutig-schamhaftem Blick. Ich folgte ihm aufs Neubauklo, stieg auf die Schüssel der Nachbarkabine und lugte über den Kabinenrand. Und: meine Ahnung erhärtete sich. Der kichert nicht rum, der kommt zur Sache. Ein Jammer, daß er keiner zum Verlieben war.

      Langsam mußte ich die Altersgrenze nach oben korrigieren. Eigentlich sollte mit 16 ja Schluß sein, 16 aber, das war ich ja bald. Also mit 18; dann aber Schluß.

      - Und das trotz Oscar Wilde. Kann sein, daß mal was im Fernsehen kam; vielleicht war's auch eine Schullektüre. In der Fahrbücherei dann was ausgeliehen. Und wenn er kein Hundertfünfundsiebziger wär, dann könnte er glatt ein Menschenfreund, erzählte ich meiner Mutter daheim, die gerade Flur und Treppe putzte und diesen Umstand tragisch fand, als wollte sie zum Ausdruck bringen, daß selbst ein Hundertfünfundsiebziger ansonsten durchaus ein guter Mensch, ja, womöglich sogar ein Christ.

      Auf NDR 2 im "Fünf-Uhr-Club" "Space Oddity" und als Kontrast eine weitere "Hör Zu"-Empfehlung, Ensemble: John McLaughlin's Mahavishnu Orchestra, Obertitel: Birds of fire, Einzeltitel: Open country joy. – John McLaughlin. Der war, wie ich (vermutlich) ebenfalls der "Hör Zu" entnehmen konnte, sehr religiös und trug noch nicht mal Koteletten.

       Endlich einen Adapter gekauft; ich kannte ja kaum das Wort. – Ein Bewerbungsschreiben, Zeitungsannonce, Lüneburg, gehobener Verwaltungsdienst. Zuvor mit meinem Vater zur Berufsberatung; der Berufsberater siezte mich und empfahl mir irgendeinen Fachschulbesuch. An der Realschule war die Berufswahl gerade mal ein Aufsatzthema; die Söhne von Bauern und Handwerksmeistern wußten ja eh, was sie werden. – Dirk Busch, Liedermacher? Schlagersänger? Chansonnier? und Professor für Soziologie, bestätigte mir in Bremen die These, daß die eigentliche Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs der Herbst 1973 war. Ab und an ist der bei meinem Sender zu Gast, doch wird er sich kaum wohl erinnern können.

      8. März, Klassenfahrt nach Hamburg mit der jungen Biologielehrerin, die alle verbalen Erektionen, Ejakulationen und Kopulationen,