Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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uns ein wenig bange doch. Heute würde man sagen: "cool"; damals hatte man Hot pants an.

      - Lisa-Marias Schulbusbank... ein einziges Mal erlaubte sie's mir, diese Sitzbank mit ihr zu teilen (und kein einziges Mal einem anderen!); I never knew me a better time, and I guess I never will, um es mit Elton John zu sagen. Und wo wir gerade beim Thema sind, ein Westcoast-Hit von Stephen Stills vom Sommer '71: And if you can't be with the one you love, love the one you're with. – Love?…

      - Nennen wir ihn Paul. Er versuchte es mehrmals im Umkleideraum im Rahmen einer Rangelei; das erinnerte mich an Kamp-Lintfort, so daß es eine Weile brauchte, bis bei mir die Vernunft obsiegte und ich ihn endlich gewinnen ließ. Wir gingen auf die Toiletten; dort waren wir beide zögerlich. – Eine Woche später. Wieder "besiegt", wieder aufs Klo. – "...ob du schon Samen hast." – Das war mir neu, was er da jetzt tat, und erzeugte genau jenes gute Gefühl, das doch vor wenigen Wochen erst unterm Brausekopf sein "Comeback" feiern durfte. Aus einem mir nicht mehr bekannten Grunde hörte er mittendrin auf. Zu Hause setzte ich es fort, lehnte mich an den Klodeckel an und brach dabei eine Halterung ab. Den Deckel versehentlich fallengelassen, eine bessere Ausrede gab's nun mal nicht. Und obgleich es sich wiederholte: Pubertät als meine Pubertät – für meine Eltern gleichsam die BRD auf der DDR-Fernseh-Wetterkarte; bedrohlich, erschreckend, nicht in Worte zu fassen, aber wenigstens nicht vorhanden.

      Es muß noch im Herbst 1970 gewesen sein, als mir auf der überfüllten morgendlichen Busfahrt zur Schule ein Bub aus Wenden auffiel, Gymnasiast; "ein schöner Knabe", dachte ich, und dachte es kurz vor oder kurz hinter der Haltestelle "Am Berge" im ersten etwas größeren Nachbardorf kurz hinter der "Wochenend"-Abzweigung mit dem nicht unerheblichen Gefälle.

      Paul, zwei Mädels und ich. Die Wartezeit bis zum Schulbus durften wir in der Klasse verbringen; was hätten wir auch schon groß angestellt? Zwar ging mal die neue augenfreundliche Glasschiebetafel zu Bruch, das aber war ein bloßes Versehen und ich ohnehin nicht beteiligt dran. Nach einem Schaukampf warf mich Paul auf den Boden, zog mir wie üblich die Hose herunter, aber nicht die lange Unterhose, und griff vor den Augen der Mädels zu, die das alles sehr amüsierte. "Melken", wie er sagte, und es vor den Mädels dann doch nicht tat.

      Ein Mitkonfirmand gefiel mir sehr, doch der ließ mich leider nicht ran. Über seine Unterhose bin ich nie hinausgekommen, und so auch auf dem Wendener Herbstmarkt nicht, wo er mir nach langem Betteln wenigstens einen Blick erlaubte, doch wie gesagt, nur auf den Slip, und außerdem nicht auf dem Marktgelände, sondern auf dem alten Friedhof, seit Sommer '71 der Dorfpark, mit großem, altem Eibenbestand, den üblichen Steinen zum Kriegergedenken, ein, zwei Reihen Soldatengräbern und dem Grab zweier russischer Zwangsarbeiter, die von ihrem Arbeitgeber im Frühjahr '45 ermordet wurden, einem Bauern, von den Besatzungstruppen für diese Tat zum Tode verurteilt, soweit man in Wenden zu dieser Sache denn überhaupt mal ein Wort verlor. Das alles war gestern und vorbei, und selbst die Veteranenverbände fügten sich dem Willen des neuen Pastors und ließen beim Gottesdienst am Volkstrauertag die Fahnen vor der Kirchentür und begnügten sich, wenn auch murrend, mit der Gedenkfeier bei den Soldatenkreuzen, und freilich, eine Gedenkfeier nur – und eben grad keine Heldenverehrung.

      Abgesehen von den Herbstmarkttagen blieb der Dorfpark weitgehend ungenutzt und hieß weiterhin "Alter Friedhof", und Eiben verströmen Gifte, die Physis und Psyche schädigen können; vielleicht war ja nur ihre Eibe dran schuld, daß meine Tante so viele Gebrechen hatte, und das in jungen Jahren schon, und wer weiß, was mir alles die Wendener taten, und fast schon so, als verfolgten sie mich, bis Ende 2000 zum Greifen nah, direkt vor Küchen- und Wohnzimmerfenster.

      - Wendener Herbstmarkt: Dieser klassische Open-Air-Duft von Bier und Bratwurst, Gras und Schweiß. C.C.R., Sweet Hitch-Hiker, Autoscooter-Rockmusik, gerade Linie, klare Form. Wenden: "mein kleines Kalifornien", wie ich später ins Tagebuch schrieb, obgleich C.C.R. eine Südstaatenband... – egal. – Die Mittelwellen-Hitparade aus Saarbrücken. Maggie May von Rod Stewart auf Platz eins, das "Klagelied" eines Schuljungen ob der ruchlosen reifen Frau, die ihn zum Sexobjekt degradierte, von der er aber dennoch nicht lassen kann, und das, wo doch die Saar-Hitparade vorzugsweise Hardrock spielte, sofern dieser irgendwie "progressiv", zum Beispiel Alice Coopers "Under my Wheels", der war später mein erstes Postermotiv. – "Atomic Rooster", auch so eine Band, und heute die "Atomic Kitten"-Girlies die Enkeltöchter dieses Ensembles? "You can make me whole again": im religiösen Kontext bedenklich, ist wohl aber ganz profan und klingt am Ende des Refrains nach Van Morrison, Take it where you find it, und das bei Morrison wohl kaum im Profanen, wobei ja nun gerade dieser Song, ja, gleichsam doch der "Soundtrack" jetzt, zumindest für alle, denen neun Minuten... – Obertitel: "Wavelength", im Auto Richtung Heidetal meine Standardcassette seit Jahren. – Andererseits stammt der Kitten-Song aus der Feder von Andy McCluskey; der schrieb für OMD vor Jahren "Walking on the Milky Way" und erkannte, daß sich dieser Geniestreich mit dem alten Ensemble nicht mehr steigern ließ. Und so schrieb und produzierte er "You can make me whole again"; man will halt noch immer ein wandelndes Rocklexikon sein...

      Konfirmandenfreizeit im westfälischen Höxter, März 1972. Im Bus holte einer auf der Hinterbank den Cassettenrecorder raus, Led Zeppelin, Black Dog; mir damals nichts als Lärm. Der Pastor wurde energisch: Recorder aus und die "Mundorgel" auf.

      Diverse Bildbände in der Herbergsbibliothek zu den Indianern Nordamerikas. Chief Joseph vom Nez-Perce-Stamm: eigentlich fast schon ein Menschenfreund. Ansonsten war mein Interesse am Westen um 1870 eher gering. Der letzte Angriff in Minnesota um 1860, das wäre mal was, New Ulm, aber wer verfilmt das schon? Wie sah eine Kleinstadt in Pennsylvania oder im Staate New York damals aus? 1971 der Gefangenenaufstand von Attica, wie Woodstock im Staate New York gelegen.

      Im Schlüsselseitentäschchen der Badehose steckte versehentlich ein Papiertaschentuch, das ich erst nach dem Baden entdeckte und dann unauffällig entsorgen wollte; irgendwer aber bemerkte das im Umkleideraum dort im Hallenbad und dachte, ich hätt es mir reingestopft, und so trieben sie ihren Spott. – Ich wollte die jammernden Bauern enteignen und schrieb im Frühsommer '73 unter falschem Namen einen Leserbrief an den "Nordstädter Boten" und fragte rhetorisch, ob denn die ach so armen Bauern einen vergoldeten Mähdrescher wollten. Das gab manch böse Reaktion, die Zeitung recherchierte und gestand schließlich ein, wie es hieß, einem "anonymen Schreiberling" hier aufgesessen zu sein. Die Diskussion war somit beendet.

      Kollektives Nachsitzen im Herbst '71 als Strafe für unseren Schulstreik, genauer, ein Aufsatz am Nachmittag in (zwangsläufig) heiterer Stimmung; zuvor mit ein paar Klassenkameraden in ein Imbißlokal, zwei Bier, und fast hätt die Wirtin mich rausgeschmissen, als ich sagte, ich hätte vor dem 16. Geburtstag keinen Tropfen Alkohol angerührt.

      - Sechzehn: Jan schon Anfang Februar, und das an einem Dienstag bei Dauerregen. Ansonsten aus der Klasse nur die Ex-Gymnasiasten, der eine oder andere vielleicht wirklich ein wenig reifer schon, halt ein spätpubertäres Durcheinander, und was konnte dieses Durcheinander im Februar 1973 wohl besser repräsentieren als der ständige Wechsel zwischen Otto Waalkes und Jethro Tull plus Bier plus Strohrum aus Zinnbechern?...

      Hauptdeskriptor: Essen und Trinken, Doppelpunkt: Bier; Branntwein: Rum: Strohrum. Medizin: Krankheit; Alkohol; Mißbrauch; Inkontinenz. Eine kurze, heftige Atemnot und am Rande zur Bewußtlosigkeit. Nur gut, daß die meisten aus Norddorf waren und Jans Mutter diese heimfahren mußte und der Siedlungsweg am Wege lag; als hätte sie das nicht ohnehin getan bei diesem Wetter und diesem meinem Zustand. – Kaum im Bett, begann sich dieses zu drehen, und kurz darauf auch der Magen. Nach einem quälend langen Schultag unaufgefordert das Versprechen gegeben, daß es sich nicht wiederholen werde, und die Schelte nun wirklich in Grenzen. Die nassen Sachen? Nun, der strömende Regen, das von den anderen verschüttete Bier.

      Das leidige Problem des Einnässens... – Das wurde 1972 grenzübergreifend und hätte mit noch größerem Pech dem Ansehen – meines? – Landes geschadet. Im Straßburger Münster, als die Klassenkameraden ihre ganz profanen Faxen machten. Die Straßburger Partnerschule konnte jetzt erstmals nicht alle Norddorfer unterbringen, und so kamen jene, von denen man hoffte, daß diese sich auch ohne Aufsicht im Ausland