Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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Dem folgte ein Brief, der abzuzeichnen und Herrn Roos, dem Lehrer für Mathematik, Physik, Chemie und Erdkunde zurückzugeben war, eine Drei in "Betragen", ein paar tadelnde Worte und zum Glück kein müßiges Grundsatzgespräch. Wohl auch in diesem Jahr meine erste und einzige Zwei in eine Mathearbeit, jedenfalls an der Realschule. Danach irgendein Experiment in Physik, zu dem wir uns auf unsere Tische setzen mußten. Nach dem Experiment sollten wir dann aufstehen und gesittet zu unseren Stühlen zurückgehen; ich wählte den einfacheren und, wie mir schien, vernünftigeren Weg und dreht mich über den Tisch hinweg zurück zu meinem Stuhl. Lehrer Roos mißfiel dies sehr: "Du glaubst wohl, wegen deiner Zwei in Mathe kannst Du Dir jetzt alles erlauben!"; nun denn, der Tag war nun nicht wirklich verdorben, aber man hat sich's halt gemerkt, hier in der Tat mal wieder was fürs Leben gelernt.

      Samstags ab und an eine Radtour zum nahen Truppenübungsplatz, der zu den amtlichen Öffnungszeiten zum Transit genutzt werden durfte, woran sich bis '72 kein Mensch und folglich manch Auto am Straßenrand hielt. Auch '72 ein gutes Pilzjahr. Der Biolehrer hatte seine Leute seit Jahren, ich steuerte also höchst selten nur ein Exemplar für seinen Schulkasten auf dem Pausenhof bei; wer aber wollte es ernstlich wagen, sich auf diesem Gebiet mit mir zu messen? Fragte er uns ab, und ich wußte einen nicht, irgend so einen Blätterpilz... wenn ich mich damals für irgend etwas wirklich schämte, dann ohne Frage für das.

      - Ein Hakenkreuz aus Papierschnipseln, die wir für eine Matheaufgabe brauchten. Da wurde der Lehrer laut. Wenigstens kein Eintrag ins Klassenbuch, war doch Herrn Roos dieses Hakenkreuz nichts Schlimmeres jetzt als ein bloßes Indiz einer "infantilen Regression", ein Wort, mit dem er uns, meist schmunzelnd, mahnte, nun langsam mal erwachsen zu werden; wer wollte und sollte Anfang der Siebziger als Teenager noch ein Kindskopf sein?...

      Meine Klassen-Wahlkampfrede gegen die CDU: "Das ist mir zu billig", hätte, wie immer bei bloßer, eitler Effekthascherei, unser Deutschlehrer Rektor Lüders gesagt, der Wahlkampf aber Gemeinschaftskunde, schon damals das klassische Nebenfach, und so oder so vorherzusehen, daß Willy Brandt auch die Klassenwahl mit deutlichem Abstand gewinnen sollte. Rolf, Vertreter der Unionsparteien, hatte da mit Zahlen und Argumenten statt Polemik wenig Chancen.

      Die Realschüler nahmen obligatorisch am jährlichen Norddorfer Schützenfest teil und bauten sich hierzu in der neunten Klasse die obligatorische Armbrust. Meine ist nie fertig geworden, wer immer mir seine geliehen hat dann, und die traditionelle Lederhose – für den Aufmarsch eigentlich vorgeschrieben – fehlte mir freilich auch; wer trug mit fast 15 noch Lederhosen, außer denn eben beim Schützenfest? – Und doch in der ersten Reihe marschiert, und die Hose aus grauem Stoff.

      Ich vermutete ernstlich Zeichentalent und malte meine Finger ab; mit dem Stift drumherum, dann den Nagel samt Bett, und nochmals: einen Finger. Meine Mutter sah's anders und schalt es obszön; das ging dann mehrere Wochen so.

      - Die Doppelparabel. Wieder mußte ich provozierend grinsen. Herr Roos ließ nicht locker, und so sagte ich's: "Das erinnert an eine weibliche Brust." Ein kurzer Moment des Schweigens. Dann ging es los, und der strenge Herr Roos konnte sich kaum noch halten vor Lachen.

      - "Steifer Stock", wiederholte im Werkunterricht ein Mitschüler unseren Werkkundelehrer, und freilich meinte dieser einen solchen aus Holz, doch "steif" als solches Grund genug, daß ein Raunen durch den Werkraum ging und der Lehrer uns eine Strafpredigt hielt, und keiner wagte ein Widerwort. – Werken, fällt mir ein, hatten nur die Jungs.

      Eigentlich war die Lehrerschaft weder "progressiv" noch offen sozialdemokratisch, die Älteren schon gar nicht, und der Anteil älterer Lehrer war hoch, viel höher als in Ruhrstadt, zum Beispiel der alte Biolehrer, erklärter Feind des Nikotins, der schon deshalb zum Ziel unsres Spottes wurde, weil er unser Hannöversches Hochdeutsch, ein reineres gibt es ja nun mal nicht, durch süddeutsche Mundart verfremden mußte, und wir uns krumm- und schieflachen wollten, betonte er "Tunnel" auf der zweiten Silbe. Wie konnte er sich ereifern, wenn mal wieder dem Schulskelett eine Kippe zwischen den Zähnen steckte, das Rinderhorn auf dem Hüftknochen lag... – das hatten wir längst wieder weggenommen, bevor er den Biologiesaal betrat.

      Hin und wieder eine Exkursion in die nähere Botanik. – "Warum heißt die Rauchschwalbe Rauchschwalbe?" – "Die raucht immer Hasch!", rief der mit dem "steifen Stock"; die Exkursion war somit beendet. – Nun, Rauchen stand für mich nicht zur Diskussion, und nicht einer von den (nicht wenigen) Rauchern, und das schon in der Achten, hätte sich je darüber lustig gemacht. Im Haus gab's eh keine Zigaretten; mein Vater war, seit wir in Wenden wohnten, passionierter Pfeifenraucher. – Alle begehrten Markenjeans und eine Stereoanlage von Dual mit mindestens 20 Watt, und keiner wurde zum Deppen gestempelt, der, so wie ich, nun mal beides nicht hatte. Weihnachten '71 gab es dann wenigstens einen Cassettenrecorder mit Tischmikrofon einer ostasiatischen No-Name-Firma, von der Form her wie ein Kofferradio; üblich waren die flachen Geräte, und meistens von BASF. Das aber war meine eigene Wahl, egal, er nahm auf und spielte ab, so daß auch ich bei Rock und Pop nun endlich richtig mitreden konnte. Und ob nun rotgesinnt oder schwarzgesinnt – wir wählten, Rolf war hier unser Sprecher, in politischer Einmütigkeit unseren Kunst- und Werkkundelehrer ab, weil er uns zu rechts erschien (und außerdem viel zu viel Leistung verlangte). Gewiß, er war kein Linksliberaler, aber ebensowenig ein Rechtsradikaler, und die Hand ist ihm kein einziges Mal, auch nicht im größten Zorn, "ausgerutscht", und ebensowenig erwähnte er jemals, daß sein Vater ein bedeutender Hamburger Künstler war. – Und hatte von allen die längsten Koteletten, und sein Sohn trug die Haare schulterlang.

      - Die frühen siebziger Jahre: die Pubertät der ganzen Welt, sogar in der DDR; selbst dort, wie meine Mutter erzählte, überall nur noch Langhaarige. Und selbst der revanchistische "zur Zeit unter polnischer Verwaltung"-Atlas bezeugte es doch auf den Sonderkarten: die BRD hatte nichts mehr zu tun mit dem, was früher mal "Deutschland" hieß, sondern war Teil der westlichen Welt mit Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit, und, so gesehen, ihr Hauptproblem die alte, leidige Wehrpflicht. Diese aber verschärften sie noch und erließen den leidigen Haarerlaß. – War das nun Helmut Schmidts Idee oder die von Georg Leber? Der soll mal in einer Manöverpause ins Landgasthaus gegangen sein, und da gab es dann ein Mißverständnis, und man hätte ihm schließlich Leber serviert, halt so, wie irgendein Opernhaus den Gustav für den Maler hielt, und ob Hellmut Lange in "Kennen Sie Kino?" Viscontis "Tod in Venedig"...

      Hingegen ausführlich und mit der Empfehlung, die Kinder jetzt besser aus dem Zimmer zu schicken, "Stille Tage in Clichy", und was nur war der Hinderungsgrund, mir "Wildwechsel" damals anzuschauen, hatten es doch meine Schulkameraden und ebenso meine Eltern gesehen, und: wann wurde ich je aus dem Zimmer geschickt, nur weil im Fernsehen mal wieder Sex, und bei uns im Haus stets mit weichem "s": "Sex" – das waren die anderen, allen Gegenbeweisen meiner Doppelrippslips und der Schlafanzughosen zum Trotz, die "Schulmädchen" aus dem Dorfkino-Schaukasten, und das ja schon im Ankunftsherbst, und jede Woche ein neuer, und im Juni '72 "Addio Onkel Tom", schon im Schaukasten heftig-deftige Sachen, und trotzdem durften wir da rein an einem schwülen Samstagnachmittag zusammen mit den Franzosen, und wenn's zehnmal erst "frei ab 18" war. – Ein Italo-Softporno-Western, der vordergründig die Sklaverei in den Südstaaten brandmarken sollte. Und nochmals, ein Sex- , kein Pornofilm, noch nicht mal die Szene, wo ein alter rassistischer Völkerkundler zwei jungen Sklaven die Gliedmaßen streicht. Mein Knabe genoß die Wendener Freiheit und ließ sich ohnehin nichts streichen, noch nicht mal das Fernsehnachmittagsprogramm, als Donner grollten und Blitze rollten und einer das ganze Haus durchzog, Steckdosen riß, einen Dachbalken teilte, ich weiß, es gibt keinen Kugelblitz, und hätt er den Fernseher wirklich getroffen, so hätte der nicht noch bis Weihnachten dann und das relativ klaglos sein Tagwerk getan, und wer sagt denn, daß es das Christkind gibt, und der neue, und das zum Weihnachtsfest, ja eh wieder nur ein Schwarzweißgerät. – Und wenn es nicht grad am Gewittern war, so war es mir selbst am Abend erlaubt, eine Sendung mit Rock und mit Pop zu schaun. Einzig bei "Sympathy for the Devil", einer Jugendreihe im 3. Programm, wurde es problematisch; mein Vater konnte an "Gasoline Alley" in Rod Stewarts a-cappella-Version nun wirklich keinen Gefallen finden, später, ein wenig, an "Mandolin wind", war er in früher Gubener Jugend doch Mitglied eines Mandolinenorchesters, aber gut, auch mir war