Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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und leider erst nach dem Kirchenbesuch. – Hatte er wirklich nichts bemerkt – nur wenn, was hätte er sagen sollen?...

      - Ende August '92: Wenn man schon mal wieder in der Gegend ist... vielleicht irgendein Kick, der bei der Altglasentsorgung vor der Schule einfach nicht kommen will. – Place de l'Europe; die Partnerstädte als Pflastermosaik. Der Supermarché mit den Singles und den wohlgereiften Camemberts. – Drei Wochen wir bei denen, drei Wochen die bei uns. Zwanzig Jahre später: fast schon eine Panikattacke aus Angst, das wir uns am Place de l'Europe oder sonstwo über den Weg laufen könnten; man ist ja schließlich arbeitssuchend und demzufolge arbeitslos.

      - Nur: wäre es tatsächlich zu einem Wiedersehen gekommen, so hätte sich Monsieur wohl um einiges mehr schämen müssen als ich, die Sache mit der Single im Supermarché, der Bruder, irgendwas mit Jesus, keine Ahnung, ob ich da hätte helfen können, ich sah ihn im Büro, und er sah mich an... Frankreich, das Land der "Châtiments corporels", Frankreich, das Land, wo "Liberté" zuvörderst die einer Polizei, die nach Belieben prügeln und töten konnte, wie ich's, und das wohl in Ruhrstadt schon, aus französischen Krimis kannte, obgleich eine "Violence domestique" in der hier erfolgten Heftigkeit wohl selbst damals Monsieur eine Auszeit beschert, seinen "Code moral" überdenken zu können.

      - Das erste Halbjahr '72: der getrübte Teil der Realschuljahre, was nicht zuletzt an Frankreich lag. Laisser-faire? Höchstens bei versteckter und dann dort vergessener Unterwäsche, die bien sûr von Madame gefunden wurde und mir in Deutschland vom Austauschschüler dann lachend überreicht. Doch Unterwäsche hin, Unterwäsche her: Frankreich – ein "Lufthauch der Freiheit"? Eher der Hautgout eines "Ancien Régime", ein Dunst, der fast schon nach Ruhrstadt roch. Mein stets blütenfrischer Austauschfranzose ging später wohl ein wenig in die alternative Richtung; so jedenfalls meine Eltern, die er 1980 in Wenden besuchte. Ich redete mich mit dem Studium raus, und überhaupt, wozu? Die Sache war für mich mit dem Austausch erledigt, und sicher hätten wir auch 1980 kaum Gemeinsamkeiten gefunden.

      Mein Parallelklassen-Mitaustauschschüler, alle anderen waren allein in ihrer Gastfamilie, war erotisch nun eigentlich gar nicht mein Fall, doch als wir an jenem ersten Abend das Bad gemeinsam nutzen mußten, genauer, das Bad mit der Badewanne, da wollt ich's versuchen, doch er lachte mich aus; auch unsere beiden Austauschfranzosen waren nicht mal im Ansatz dran interessiert. Schon am ersten Abend wuschen sich diese splitterfasernackt vor ihren Waschbecken und vor unseren Augen. Das fängt ja gut an, dachte ich, und dachte auch hier leider falsch. Warum war nicht Jan in dieser Familie und ich dafür in seiner? Allein schon wegen der wie bei Jan übertriebenen Reinlichkeit und vor allem, weil er mangels entsprechender Orientierung mit der Anmut seines Austauschbuben doch überhaupt nichts anzufangen wußte.

      - Das Eisenbahnmuseum. Citroen, Peugeot, Renault, die ganze 60er-Modellpalette, zum Beispiel der R 8, der sich eng an Alfas Giulia lehnte. Der Peugeot 403, zum Entsetzen der britischen Nachbarn das Vorbild für ihren Silver Shadow. Monsieur fuhr einen Citroen ID, das alte Modell mit den Einzelscheinwerfern, und schenkte mir, die leidige Hobbyfrage, Mineralien, Gesteine und Erze, das schönste Stück ein Quarzkristall aus dem Departement Drôme, auch "Mirabeau-Diamant" genannt. Ich spendete nicht wenige Stücke für die Realschul-Glasvitrinen, gewissermaßen zur Sühne für meine sehr sporadischen Eingriffe dort; zwei Ammoniten, ein Seeigel mal, und das wohl schon ziemlich zu Anfang.

      - An der Küche der Vogesen soll der Welt Geschmack genesen? Nicht in diesem Landschulheim, wo wir mit unserer Gastschulklasse die gesamte dritte Woche verbrachten. Zuvor zwei Wochen Gymnasium in den Klassen unserer Austauschschüler; zu den anderen stellte wohl keiner von uns nennenswerte Kontakte her. Die Lehrer gaben sich ziemlich streng, geprügelt aber wurde nicht, soweit ich mich erinnern kann.

      Im Landschulheim Jan mein Verliebtsein gestanden, und da es ja nicht ihn betraf, fand er's eigentlich halb so schlimm. Im Busradio dröhnte "Sex Machine", alle rauchten Gauloises, und freilich sans filtre, und keine Nostalgie der Welt ließe mich in der Funkkantine zur Reis-mit-Kochzwiebeln-Beilage greifen, ja, nicht mal, wenn mir Jans Austauschbub die ganze legendäre Modellpalette der Amour français geboten hätte.

      - L'amour mit Reis und Kochzwiebeln? – Ein Jahresabo der "Auto Zeitung": das hatte ich gerade nun nicht erhofft beim Gewinnspiel der Kurzwellen-Hitparade sonntags auf Radio Luxemburg. Die "Auto Zeitung" kam aus Köln und mäkelte ständig an Ford herum, schlechte Technik, "barockes Design". Unser Vermieter fuhr einen Taunus XL, die Sitze mit einer ausgeprägten, edel wirkenden Seitenführung; die im L-Modell und in der Grundausstattung sahen wirklich etwas billig aus. "Wildes Sportshow-Styling", schimpfte das Blatt bezüglich des Armaturenbretts. Nun, die "Ernüchterung" folgte rasch, zum Modelljahr '74 schon, und das, wie die Ölkrise zeigen sollte, nun wahrlich nicht nur bei Ford...

      Endlich wieder in Wenden. Meine Großmutter war gestorben, und meine Mutter fragte mich, ob ich denn gar nicht traurig sei. Ich war es nicht, und ich schämte mich. Andere hätten sich gesagt, ich kannte die Frau ja kaum. Die hätten sich wahrscheinlich nicht mal das gesagt, so wüst und leer, wie sie später dann wurden – oder anders nie gewesen sind...

      - "Das ist Laisser-faire, mein Lieber!": nicht mit Worten, aber mit Blicken. Und freilich hat er's genossen, die Liberté de l'Allemagne de l'Ouest; fast jeden Morgen ließ er sich von meiner Mutter den schmächtigen Rücken pudern, bis runter zum nackten Hintern. Sein Deutsch wurde täglich besser; ich hingegen konnte auf Französisch gerade mal bis 20 zählen. Je est un autre, wenn das man stimmt, wie man im Norden zu sagen pflegt.

      Scheibenschießen im Sperrgebiet; Jans Vater, Bundeswehroffizier und passionierter Jäger, hatte dort sein Revier. Sicher werden sie lachen, dachte ich, wenn ich mit dem linken Auge ziele, obgleich ich doch mit dem rechten die Scheibe nur erahnen konnte. Abends Wildbeobachtung vom Hochsitz aus; meinen hätte ich freilich lieber mit Jans Buben als mit Jan geteilt. Auf der Rückfahrt traf sein Vater einen Jagdkameraden, mit dem er was zu besprechen hatte; er stieg aus und bat uns, leise zu sein. Die aber hielten sich nicht daran. Ich aber ehrte die Natur, zudem gebot auch sein Vater Respekt; andererseits wollte ich nicht als – Streber? Spießer? Schleimer? – gelten. Irgendwie fand sich ein Kompromiß, rumalbern ja, aber leise. Jans Vater war verärgert. Daß so große Jungs es nicht fertigbringen, mal fünf Minuten still zu sein... ich fühlte mich nicht schuldig und schämte mich trotzdem; bei den anderen war's eher wohl umgekehrt.

      - Das Kirchentags-Schulkantinenessen, Hackfleisch mit Käse wie einstmals aus dem Sektengrill, Bratkartoffeln und Rotkohl dazu, ist besser, als die Optik vermuten läßt, es schmeckt, es bläht nicht, es stößt nicht auf, ich bin "angenehm enttäuscht", um es mit einem Topos Frau Bergmanns zu sagen; Geschichte und Gemeinschaftskunde. Enttäuschend, und freilich im üblichen Sinn, Rektor Lüders' dunkelblauer Ford 15 M, mit dem er Schultag für Schultag sich von Südertal nach Norddorf mühte und wieder zurück nach Südertal; sobald er einen – ebenfalls dunkelblauen – Consul in der XL-Fassung fuhr, wurde er Schultag für Schultag dann, Consulfahrt um Consulfahrt gelassener und entspannter. In Südertal traf ich ihn hin und wieder in einer landeskirchlichen Verlagsbuchhandlung, sein Auto ein weißer 280 S, und hoffte, daß ihm mein Biologiebuch, das er während der Quasi-Abschlußklausur für die "Mittlere Reife" im Klassenschrank fand und mir nach langen, bangen Minuten mit den Worten: "Ist das deins?" überreichte und kein weiteres Wort sonst darüber verlor, schon lange nicht mehr in Erinnerung war, das Biobuch, dessen "Ergänzungen" es mit jedem Buswartehäuschen aufnehmen konnten; ich war ja nicht der einzige, der jeder Zote zugetan. – Und hätten dennoch vom Buch die Finger gelassen, hätten sie sich durch mein Verhalten nicht geradezu noch ermutigt gefühlt. In der Zehnten nahm mich deswegen mal einer ernstlich ins Gebet, der wurde dabei ja fast handgreiflich schon. Beim Klassentreffen zehn Jahre später fragte er mich in geselliger Runde, ob ich noch immer auf Männer stünde, was ich sogleich bejahte mit gespielter Selbstverständlichkeit.

      - Die Jungs in der Cafeteria mit den Bekenntnisluftballons... wohl eher die Söhne der Veteranen als die Vertreter der Schwulenjugend. Das stelle man sich mal außerhalb dieser Kirchentagsschonzeit vor, 12- bis 15jährige Jungs mit lila Luftballon an der Hose: "Schwul aus gutem Grund"...