Dunkler weiter Raum. Hans-Georg Fabian

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Название Dunkler weiter Raum
Автор произведения Hans-Georg Fabian
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742738301



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nicht gesagt, denn wo war hier – Stichwort Freistunde – jetzt wirklich ein Problem? Und überhaupt, sie hätten es wissen müssen, ließen sie meine Schwester doch für ein Jahr oder so zur Realschule gehen, aus irgendeinem nichtigen Grund sie von dieser dann wieder runterzunehmen. Jahre später sah ich den Französischlehrer Schultag für Schultag im Reiseschulbus, er zu seinem Gymnasium, ich zu "meiner" Wirtschaftsschule, und sah zu Boden und schämte mich.

      - Der Norden: Backstein, Holz, Granit; gerade Linie, klare Form. Weite. Moderne. Licht und Luft. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Niemals kostete es Überwindung, kurz vor halb acht bei Wind und bei Wetter in drangvollster Enge nach Norddorf zu fahren. Wirklich kein einziger Tag fällt mir ein, egal, ob nun wegen eines Unterrichtsfachs, eines Lehrers oder wegen eines Klassenkameraden. – Schwänzen? Der Gedanke kam gar nicht erst auf. Zwar gab es mal einen Streik, doch nur für ein neues Klassenzimmer, und die meisten Lehrer auf unserer Seite, vor allem unsere auch im Unterricht sehr resolute Englischlehrerin, die mir im Spätherbst '72 half, das Textblatt von "Demons and Wizards" zu übersetzen und mir schon damals attestierte, all meiner Flegelhaftigkeit zum Trotz sprachlich das Zeug zum Pfarrer zu haben und, als ich sie später mal in Norddorf traf, sehr erfreut war, daß ich's nun tatsächlich auch werden wollte. – Eigentlich war es fast schon zu harmonisch. Es war ja nun keine Reformschule etwa, auch wenn ich bis heute der Ansicht bin, daß zumindest unser Sportlehrer in der Achten, Bronzemedaillengewinner bei einem olympischen Schwimmwettbewerb bei den Spielen in Berlin, irgend so einen reformpädagogischen Ansatz wohl doch vertreten hat. Oder war's blanke Resignation? – Abgesehen von der Geschlechtertrennung ein Sportunterricht wie im Kinderladen. Der Lehrer schloß die Ballkammer auf, und es polterte und hüpfte in die relativ neue Turnhalle rein, er ließ ein paar Geräte richten und achtete auf die Matten, und wer wollte, machte seine Übungen oder vergnügte sich im Geräteraum. Ab und an ein Fußballspiel, und freilich: "nur" ein Spiel; wir kickten auch mit Steinchen auf dem Pausenhof, und ärgerlich bloß, daß mein erstes Tor (von zweien, die ich jemals geschossen habe), als Abseitstor gewertet wurde; egal, auf dem Hof war ich besser.

      - Und doch, ich schaffte den Salto vorwärts, mit Sprung vom kleinen Trampolin. Wer wollte, bekam eine Zwei, ich gab mich mit meiner Vier zufrieden, einem wirklich kleinlichen Abseitstor und dem Salto vom kleinen Trampolin.

       Der Nachfolger des Olympioniken behielt den libertären Unterrichtsstil seines Vorgängers bei; der Lehrplan wurde ja eingehalten, doch was wurde da groß gefordert schon? Und so blieb es beim altbewährten System: den Sportlichen ihre Zwei, und blieben Böcke, Barren, Ringe, Reck unerreichbar oder unüberwindbar, in jedem Fall noch die Vier. Über diese Pflicht hinaus wollte er nur mit denen was tun, die das jetzt auch selber wollten (Himmel, wie sich das anhört!; nur krieg ich's besser einfach nicht hin); da ging ich doch lieber zur Schulsekretärin, die gab mir den Schlüssel zur Bibliothek, und las mal da und mal dort etwas an und zupfte am Schilf der Altbauwände. In einem Aufklärungsbuch fand ich die "mutuelle Onanie", welche – 1949 und anders als bei der solistischen – von den Eltern zu unterbinden war, als ob es sich von selbst verstünde, daß diese das überhaupt mitbekämen, geschweige denn überhaupt wollten...

      - Sex: nach Auskunft der Älteren in der Runddiskussion am Nachmittag in den meisten Familien das Tabuthema schlechthin. Der drahtige, glatzköpfige Architekt: der hat was für Körper und Geist getan, dem sah man die 70 nun wahrlich nicht an, und sicher auch schon die 40 nicht. Hätte man in der Jugendzeit hin und wieder auch etwas Sport getrieben... die Folge früher Fehlernährung ist es bei mir ja nun wirklich nicht; wann immer es ging, kamen Obst und Gemüse aus eigenem Anbau auf den Tisch, dazu noch die Früchte des Waldes, und täglich einen Gesundheitstrunk, Möhren- oder Apfelsaft frisch aus dem Entsafter, dazu noch ein Schuß Rote Bete.

      - Heimat? In Wenden Haus und Garten und im Sommer dazu noch das Freibad; ansonsten war "Heimat" jenseits von Wenden, das weite, von Wind und Wetter geprägte, fast schon amerikanische Land von den Wendbergen bis zur Realschule hin – und Luftlinie gerade mal zehn Kilometer.

      - 30. Oktober 1970; der Folgetag schulfrei im lutherischen Norden. Scherzhaft sagte der Klassenlehrer, er werde das überprüfen, ob wir denn auch zur Kirche waren. Für die meisten eh ein Pflichtgang jetzt im Rahmen des Konfirmandenunterrichts. Ich war schon ein Jahr überfällig und freilich noch so von Ruhrstadt geprägt, daß ich den Spruch lieber ernst nehmen wollte und folglich brav zur Kirche ging, allein und ohne weitere Absicht. Und doch in die große Landeskirche, nicht, wie eigentlich geplant, in die der "freien" Lutheraner ohne Bindung an den Staat; werkgerechte Puritaner, die auf dem Stuttgarter Kirchentag, dem mit den Salzbergen in der Stadt, Zuckertütchen verteilten.

      Die Wendener Landeskirchengemeinde war 1970 gerade vakant; die (Lese?)Gottesdienste hielten zwei Laien, amtlich geprüft und Prädikanten genannt, ein freundlicher pensionierter Hauptschullehrer, der gab auch den Konfirmandenunterricht, und ein etwas entweltlichter Oberschüler. Ich hielt ein paar Reihen Abstand, zwei Mädchen aus meiner Klasse kamen ja auch aus dieser Gemeinde, begrüßen kann man sich auch nach der Kirche. – Gott, ein Tausend-Seelen-Dorf, und ich nun also Vorkonfirmand. Die Hauptschüler unerwartet aggressiv; da wurde manch böse Erinnerung wach.

      - Die surrende Philips-Elektroorgel des pensionierten Lehrers. Die Pfarrstelle wird im Herbst neu besetzt; der Pastor sei noch jünger. Weit und breit keine Menschenfreunde; ihr Gedankengut kam jetzt per Post ins Haus, monatliche Postvertriebsstücke mit Postbanderole aus Frankfurt am Main.

      Im Sommer '71 fragte mich meine Mutter, ob ich schon mal ein Mädchen geküßt, und zwar richtig, auf den Mund. Nun, weder richtig noch flüchtig, und Lisa-Maria schon gar nicht. Ihr Vater fuhr einen Opel Diplomat V8 und war einer der größten Bauern ringsum; auf solche Dinge zu achten, behielt ich bis Anfang der Neunziger bei.

      Auf der Heimfahrt saßen wir stets vorne rechts, sie auf der ersten Bank, ich auf der zweiten, und standen auf Seiten der "Aktion Roter Punkt", einer Hannöverschen Bürgerbewegung für bürgernäheren Nahverkehr. "Alles Kommunisten!", schimpfte der Schulbusfahrer.

      In Gemeinschaftskunde spielten wir Bundestagswahlen und interviewten im Rahmen des Deutschunterrichts Passanten zur Bonner Ostpolitik und den Norddorfer Samtgemeindedirektor zur besagten "Aktion Roter Punkt"; das war ja nun nicht meine Schuld, ausgerechnet in dieser Zeit 13, 14, 15, und überhaupt, es war mir doch mehr als nur recht, daß der Garten meine Eltern voll in Beschlag nahm, ich also meine Freiheit hatte und alle Besucher staunten und lobten, was da schon nach einem Jahr aus dieser Brache entstanden war. Und endlich auch Stiefmütterchen in allen Farben und nicht nur die gelben wie in Ruhrstadt.

      Unser Kunst- und Werkkundelehrer, ein im Heideraum recht bekannter Maler und Bildhauer, hatte an der Tafel einen Schädel hinterlassen, eine Skizze nur und diese leicht – expressionistisch? - ; mir aber kam nichts Besseres in den Sinn, als "Lüders" drunterzuschreiben. Wilhelm Lüders, Rektor der Realschule Norddorf und nun unser Deutsch- und Klassenlehrer. Der kam ins Zimmer, sah zur Tafel und wollte wissen, wer das war. Rolf, der wohl Vernünftigste von uns allen, bekannte sich nach Minuten des Schweigens zu eben dieser meiner Tat. Der Rektor stutzte, sagte "Wisch das weg", und verließ sogleich den Klassenraum. Warum ging er wieder? Eine Freistunde wohl; keine Ahnung, und wen interessiert's? Es gab noch nicht mal Klassenkeile, und wäre doch mehr als verdient gewesen. Schon sein Vorgänger hatte mich ermahnt, die Anerkennung der anderen nicht dadurch gewinnen zu wollen, die Rolle des Klassenclowns einzunehmen. Lachen sie dich, dann haun sie dich nicht: in Norddorf so grundlos wie in Ruhrstadt zwecklos.

      - Irgendwelche Einkäufe meiner Eltern in Norddorf. Ich hatte meine neuen Winterschuhe an; auf der Heimfahrt im Schulbus (und dieser kein Schülerbus, sondern ein Pendler-Entlastungsbus) grüßte mich Lisa-Maria und lobte mein neues Schuhwerk. – Lisa-Maria, trotz des Namens, soweit ich weiß, nicht katholisch; meine Mutter nahm's staunend zur Kenntnis, doch eher erfreut nun als besorgt. Ich aber mußte in der kommenden Woche erneut auf meine neuen Schuhe verweisen; Lisa-Maria fand das jetzt peinlich und ich dann letztlich auch.

      - Egal, und auch hier: wen interessiert's? – War ja auch rasch vergessen dann; vergessen wohl auch das "Wochenend"-Heft, das sich