Von der Entstehung des Christentums. Beate Braumann

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Название Von der Entstehung des Christentums
Автор произведения Beate Braumann
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783844244649



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Gewalt, dass es zu einem Wechsel der Sequenzen gekommen war?

      Den Begriff der Sequenz hatte ich mir an der Akademie von Rhodos angeeignet, bei Gideon, einem der raren Lehrstuhlinhaber jüdischer Herkunft, einem Philosophen der Biologie. Er hatte sie bestimmt mit den Worten: »Das Fließen der Welt, das Werden in der Natur geschieht nicht beliebig, nicht ungeordnet, sondern in verbundenen Ketten von Ursache und Wirkung, die es trotz aller Angriffe des Zufalls erlauben, Ziele zu erreichen. Auch jede Metamorphose wird durch solche Ketten ordiniert. Sie sind in sich und auf ihre Nachbarn genau abgestimmt, halten ihre Plätze notwendig inne und sind Teil einer von bewunderungswürdiger Vernunft gestalteten Gesamtanstrengung. Eine derartig feste und notwendige Abfolge von kalkulierten Schritten, die auf ein bestimmtes Ende hinauslaufen, nennen wir eine ›Sequenz‹. Es gibt Sequenzen des Auflebens und Absterbens, welch Letztere ab einer bestimmten Schwelle nicht mehr umkehrbar sind. Bei vier Komma sechs gemessen an zehn. Für ein denkendes Lebewesen wie den Menschen ist dieser Punkt dann erreicht, wenn das Handeln gegen den eigenen Nutzen überwiegend wird.«

      Falls sich die menschliche Kultur bereits in einer Metamorphose des Verschwindens befand, gab es keine Aussicht auf Besserung. Genauso wenig wie man ein untergehendes Schiff durch Ausschöpfen mit Eimern retten konnte, wie es die Reisenden auf der Atropos versucht hatten. Da ist Beten praktischer. Wenn man die Meinungen der Philosophen befragte, so sagte mindestens eine starke Minderheit, dass der Welt ein böses Ende bevorstünde. Hesiod, ein weit gereister, abwägender Mann, beschrieb die Geschichte der Menschheit als Abstieg ins Elend der Gegenwart, die »keine Rettung im Unheil« mehr kennt. Auch in den jüdischen Schriften war die Vokabel der Vernichtung samt ihrer Verwandten zu finden. Allerdings gab es noch öfter die Ankündigung oder Behauptung eines goldenen Zeitalters, was sich Herrscher wie Augustus weidlich zunutze machten. Ob und wann die Metamorphose zum Absterben bei der Menschheit eintreten konnte, war durch entsprechende Betrachtungen zu eruieren. Man mochte im Einzelnen den Pegel der Gewalt oder das Fieber des Aberglaubens bemaßen. Man brauchte aber für ein zuverlässiges Urteil umfassende Kenntnisse über den gesamten Erdkreis. Davon war ich weit entfernt. Was wusste ich denn von unserer Kugel? Was hatte es mit der merkwürdigen Nabelschau der

       Buddhaanhänger auf sich? Was blühte hinter Indien an Schöpfungsverständnis, was im fernen China, hinunter bis nach Cattigara am Drachenschwanz? Von Africa wusste ich, Axum ausgenommen, so gut wie nichts. Was machten sich die Mohren für Gedanken? Oder die bedauernswerten Hyperboräer? Wie gestaltete sich die Gottsuche in vielmonatiger Finsternis? Was hatte Plato gemeint, als er für das atlantische Meer vom gegenüberliegenden Festland schrieb? Gab es Inseln der Gegenfüßler? Ich wusste viel zu wenig, um die Frage des Übergangs der Selbstschädigung in eine Großsequenz der Katagenese vernünftig zu behandeln. Als Rabbi und Pädagoge war ich darüber heilfroh.

      Gideon hatte uns als Probe aufs Exempel ein Prüfmittel aus der Medizin an die Hand gegeben, mit dessen Hilfe sich ein aus Selbstschädigung entstandener Abbau erkennen ließ. Danach war dieser Verlauf dann erreicht, wenn jegliche Therapie, als Genesungsmittel gedacht, vom Sog der Katagenese mitgerissen wurde, in den Dienst der Krankheit trat und das Abwärts beschleunigte.

      Welche Therapie war als Prüfmaßnahme jedoch groß genug, um den Zustand der Menschheit zu beurteilen? Genau besehen war das Judentum eine solche Probe. Wenn es unterging, und sei es durch eigenen Abfall von Gott, bedeutete das ein aussagetüchtiges Anzeichen dafür, dass alle verloren waren.

      Die Kataklysmen hatten gravierende Auswirkungen auf die Gottsuche, die bis in die Gegenwart stark nachwirken. Vor der Sintflut hatte der Mensch einen Dialog in Jochanans Sinne mit der Natur geführt. Er hatte sie spielerisch befragt, und die Natur hatte teils hocherfreuliche Antworten gegeben. Zwar zitterte die Erde bisweilen und es gab schwarzer Wolken Sturmeseilen, blitzdurchzuckt und donnererschüttert, aber das ließ sich abwettern, das blieb kurzfristig und war schnell vergessen wie eine Verstimmung von Muttern. Es gab häusliche und zeltliche Frömmigkeit, Totenvererehrung und Jagdtierversöhnung. Weites, paradiesisches Land schenkte alles Nötige und vieles Unnötige zum Leben. Ob die Sippen einander trafen, hing vor allem von ihrem Wunsch danach ab. Faul und friedfertig lebte der vorsintflutliche Mensch in den Rhythmen der Natur, bis sich, von einem Tag auf den anderen, seine Welt drastisch veränderte.

      Sein vertrauensvolles Gespräch mit der Natur wurde schlagartig beendet. Er lernte Mächte kennen, die ihn grausam misshandelten. Er konnte nicht durch Angriff, nicht durch Flucht, nicht durch Verhandeln Einfluss auf sie ausüben, wie es der Prophet Amos anschaulich schildert. Die Ohnmacht zeitigte Angst und Wut, Erstarrung und Panik. Die aussichtslose Erregung verdichtete sich zu gesammeltem Ingrimm und schrie nach Erlösung von der maßlosen Furcht.

      Als nach etwa vierhundert Jahren am Himmel Regelmäßigkeit und Ruhe einkehrten und Kataklysmen zu seltenen Ausnahmen wurden, mussten die Überlebenden ihre Lebensverhältnisse neu einrichten. Die übermächtigen Kräfte blieben außerhalb der Reichweite menschlichen Handelns, aber sie mussten auf verstehbare und einleuchtende Weise erklärt werden, um dem Tohuwabohu des Sinns ein Ende zu machen. Es bedurfte großer Erzählungen, welche die himmlischen Desaster erläuterten. Nachdem vor der Sintflut die Suche nach dem Göttlichen wesentlich auf oder in der Erde verortet war, wurde jetzt der Himmelsraum zum Wirkkreis göttlichen Handelns bestimmt. Die Naturerscheinungen bekamen Götterpersonen zugeordnet, und ihre entsetzlichen Auswirkungen wurden als Folge eines Agon, eines Kampfes zwischen den Göttern, gedeutet. Kinder, die sie sind, begannen die Menschen nach diesem Grundmuster ihre Erfahrungen nachzuspielen, um abzulasten und sich zu Herren ihrer Lage zu machen. Sie wiederholten schlimme Begebnisse der Sintflutzeit, indem sie in ausgeklügelten Trauerspielen die Streithandlungen der Götter sinnlich abzubilden suchten. Ein Zeremoniell des Tötens und Schlachtens entstand. Das Blutopfer trat in die Mitte der Religion.

      Angetan mit Sternenmasken und Hörnerkronen, gebeutelt von starken Abführmitteln, mit Ruß und Asche eingeschmiert, mit Phallusdrohungen und Haarverbrennung, wurde unter Geschrei, Lärm und Gepolter das Schlachtfest eines bekränzten und geschmückten Götterdarstellers gefeiert. Aus seinem hingegebenen Fleisch und Blut erwuchsen dem Beiwohnenden Erlösung und Heilsversprechen.

      Man hatte zum Beispiel beobachtet, wie ein kleinerer Himmelskörper sich scheinbar ohne Hilfe eines dritten von einem größeren zu lösen schien. Diesen Vorgang deutete man als jungfräuliche Geburt aus einer Muttergöttin, meist der Venus. Für den vermeintlichen Sohn gab es diverse Zuschreibungen. Seine Aufgabe war es, die kosmischen Zerstörungskräfte zu bändigen. Der von einer Jungfrau geborene Erlöser ordinierte die Bahnen der Gestirne neu und verhinderte künftige Sintfluten. Der Preis dafür war sein Tod. Allerdings lediglich ein vorläufiger, weil er nach dem Abstieg ins Schattenreich der Verblichenen auferstehen konnte und musste, um sich wieder mit seiner Mutter zu vereinen. Die Vereinigung konnte problematisch werden, wie eine weit verbreitete Sage zeigte, in der eine Himmelskönigin ihren jungen Himmelskörpergott um seinen Schweif brachte. Der Heil bringende Sohn musste immer wieder vergehen und auferstehen, damit die Gläubigen leben konnten. Der Mythos von der Jungfrau und ihrem Sternenkind, das durch seine Selbstaufopferung die Welt rettet, wurde zum beliebtesten im Zweistromland, und Daniel hatte all seine Geistesgaben komponieren müssen, um ihn zu durchschauen.

      Die unreifen Kinder machten durch ihre blutigen Spiele aus dem Passiv des Erleidens ein Aktiv der Bewältigung. Sie wollten durch Opfer gefallen, um nicht zum Opfer zu fallen. Die Schlachtopfer hatten die Hinschlachtung der Völker beendet und sorgten für die Erneuerung der Welt. Man kann sie als therapeutische Verfahren begreifen, als kultische Medizin und Heilungsrituale. Der tödliche Agon entlädt die hitzige Verstörung bis heute.

      In der Figur des Spielleiters betraten die ersten Priester die Bühne der Erde. Ihre Insignien waren Ornat, Tiara, Krummstab und Szepter. Sie übernahmen als heilige Hinrichter und Therapeuten Schuldgefühle und Vergeltungsängste und galten als Garant für ein gedeihliches Auskommen mit dem Himmel. Sie gewannen so viel Macht, dass sie zu Priesterkönigen aufstiegen, deren Stellung erst nach längerem kosmischen Frieden an Fundierung verlor. Das heilige, heilende Töten der Priester beschützte das Gemeinwesen vor beleidigten Mächten, es befreite die eingeklemmte Wut und befähigte die Gläubigen, sich wieder ihrem praktischen Alltag zu widmen.

      Neben den Geschichten von göttlichen Zwistigkeiten entstanden Fabeln über menschliche Heroen, welche Giganten, Dämonen, Drachen, Chimären, ja