Nur ein Traum. Semira Sayer

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Название Nur ein Traum
Автор произведения Semira Sayer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738058734



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hörte ich plötzlich Thomas fragen, seine Stimme kam von nicht weit entfernt. Von Benommenheit umhüllt konnte ich mich nicht sofort zusammenreißen.

      „Was? Ach ja, was ich denke“, stammelte ich. Thomas stand in der langen Eingangsflur, betrachtete mich im Wohnzimmer und wartete auf meine Meinung.

      „Ja! Du bist so ruhig, du sagst gar nichts!“

      „Also, ich finde die Wohnung nicht schlecht, aber ...“

      Er nickte bestätigend mit seinem Kopf, darauf hatte er nur gewartet, auf das „Nicht schlecht“. Der Rest war unbedeutend für ihn.

      „Ja, nicht schlecht, sie ist groß, geräumig und schön. Einfach schön“, mit diesem Satz kam er langsam auf mich zu.

      Unwillkürlich drehte ich mich in diesem Moment entsetzt um, als ich donnernden Lärm vernahm. Wie ein Riesenblechvogel zeichnete ein tief fliegendes Flugzeug seinen riesigen, schwarzen Schatten auf den großen Balkon. Mit ohrenbetäubendem Lärm flog es knapp über uns hinweg, sodass ich das Gefühl hatte, es würde gleich auf dem Dach oder auf dem großen Balkon landen, wenigstens ein Teil davon. Ich spürte Thomas an meiner linken Seite, während ich mit aufgerissenen Augen das Geschehen erschrocken verfolgte.

      „Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen, daran gewöhnst du dich mit der Zeit!“, urteilte Thomas und wandte seinen Blick vom Fenster ab.

      Ein großer, schwarzer Rabe ließ sein Geschrei von sich am Himmel hören.

      Wie konnte nur ein einziger Rabe so ein lautes Geschrei oder Gejammer als Reaktion auf das Schwarzwerden des Himmels von sich geben! War das ein gutes oder schlechtes Omen?

      Ich wandte meine Blicke wieder hoch zum Himmel und dachte traurig, wie beeinflussbar die menschliche Psyche was, da ich das Gefühl hatte, abergläubisch zu werden.

      Das Pech klebte offenbar wie Schwefel an mir. Ich erinnerte mich gut daran, wie eine Nachbarin, die vier Häuser von mir entfernt wohnte, neulich gesagt hatte: „Raben sind Rudeltiere. In unserem Garten leben Hunderte von Raben auf den Bäumen. Am besten sieht man diese schwarzen Tiere im Herbst, wenn keine Blätter mehr auf den Bäumen sind!“

      Warum war dieser Rabe da oben dann allein unterwegs und schwebte direkt über meinen Kopf?

      Thomas hatte sich schon längst mit dieser Wohnung angefreundet. „Sie ist auch von überall schnell erreichbar und liegt nicht weit von unseren Arbeitsorten entfernt“, redete er nur Gutes über die Wohnung, doch ich zögerte. Ich konnte mich beim besten Willen nicht an den Gedanken daran gewöhnen. War ich zu wählerisch oder passte sie meinen Träumen nicht? Irgendwie war ich nicht so überzeugt, wagte es aber nicht, gegen Thomas anzutreten.

      Wie auch immer, wir bekamen die Wohnung, und schon wurde der Einzugstermin festgelegt. Am Dienstag, den vierzehnten September, an einem zwar nicht mehr warmen, aber dafür strahlenden Herbsttag zogen wir ein.

      Am Anfang, die ersten drei Monate, verbrachte ich meine Zeit damit, zu beobachten, wie viele Flugzeuge am Tag landeten und starteten. Mit der Zeit gewöhnte ich mich daran und irgendwann war es mir eigentlich auch gleichgültig geworden. Nur der plötzliche Lärm erschreckte mich immer noch sehr.

      Ach! Ja! Die drei Glockenwanduhren der Nachbarin unter uns schlugen nie richtig. Um drei Uhr früh am Morgen hörte ich täglich sechsunddreißig Schläge anstelle von neun. Natürlich alles je drei Mal. Da hatte ich doch Mühe, das zu ertragen.

      Manchmal dachte ich nachdenklich, es wäre besser gewesen, wenn ich in Spanien nicht unter den Pinienbäumen gelegen hätte.

      Aber es war wenigstens eine helle Wohnung. Besonders ins Schlafzimmer schien ab zehn Uhr morgens die Sonne herein. Dann war unsere Wohnung ziemlich hell, und zudem lag sie in einer parkähnlichen, grünen Umgebung.

      Meine Mutter rief jeden Tag bei mir an und fragte nach, ob sie mir helfen solle beim Einpacken. Ich erklärte: „Thomas und ich haben beschlossen, alle Möbel neu zu kaufen. Daher nehmen wir nur Kleider, Bücher und einfach die wichtigsten Sachen aus unseren Wohnungen mit. Damit bleibt uns viel Arbeit erspart.“

      Wie ich mich täuschte! Obwohl ich eine Woche Urlaub von meinem Arbeitgeber erbat, sagte unser Abteilungsleiter ablehnend: „Schon wieder Urlaub? Sie haben doch schon im Juni Ihren Urlaub gehabt!“

      „Ich ziehe um“, erklärte ich ihm. „Zwei Tage habe ich sowieso noch gut, und die drei Tage werde ich wohl freikriegen können“, verteidigte ich mein Recht. Ich sah vieles schon im Voraus auf mich zukommen. Es war nicht leicht, aber ich bekam meine freie Woche.

      Och Gott! Der Umzug war gar nicht einfach. Auf die Möbelwagen warten, mit neuen Möbeln, Wohnung einrichten, putzen. Der ganze Haushalt wartete auf eine Handbewegung von mir. Ja, von mir, denn Thomas nahm nach zwei freien Tagen seine Arbeit wieder auf. Ganz alleine schuftete ich von morgens bis abends und konnte meine Mutter nicht um Hilfe bitten. Ich musste alles selbst tun, worauf ich stolz sein konnte.

      Am Freitagabend, nach einer vorbeigezogenen harten Woche, am Ende meiner Kräfte angelangt, saß ich noch auf der Eckbank. Meine Beine mochten kaum noch laufen. Thomas saß wie gewöhnlich vor dem Fernseher. Gedankenverloren, nein, ohne jede Energie und Lust nahm ich in Begleitung von einer der drei Wanduhren wahr, dass das Telefon klingelte.

      Ich sprang auf und nahm den Hörer ab. Die Stimme meiner Mutter klang nach ihrem gewohnten Ton, in dem ich keine Müdigkeit entdecken konnte. Woher nahm sie diese Energie? Sie war schon seit Jahren auch eine berufstätige Hausfrau! Hatten meine geheimen Träume Einfluss auch auf mein alltägliches Leben?

      „Susan, bist du noch dran?“, erkundigte sie sich, nachdem ich mich einige Sekunden still verhalten hatte.

      „Ja, Mam! Entschuldige bitte, ich bin nicht bei der Sache!“

      „Du klingst sehr müde. Ich wollte dir so gern helfen, aber du hast mich nicht gelassen. Du hast dich wahrscheinlich überanstrengt und willst immer noch nicht, dass ich dir helfe!“

      „Danke, Mam, ich bin so gut wie fertig!“ Ich suchte noch für einen Moment in meinem Kopf, was ich ihr Wichtiges sagen wollte, und fuhr fort: „Mam, willst du nicht vorbeikommen, dir unsere neue Wohnung ansehen und Thomas endlich kennen lernen?“

      „Das mache ich gern!“, sagte sie freudig zu.

      „Aber gib mir noch einige Tage, ich bin vielleicht nicht so gut wie du, ich möchte noch fertig einrichten!“

      „Ich bin jetzt schon stolz auf dich, Kleines! Bist du einverstanden mit heute in einer Woche?“

      „Ja, gut, Mam, bis bald!“ „Meine Mutter will uns nächste Woche besuchen“, teilte ich Thomas kurz mit.

      „Das wurde aber auch höchste Zeit“, sagte Thomas, ohne seine Aufmerksamkeit vom Fernseher abzulenken.

      Mir kamen diese acht Tage wie acht Jahre vor, ich war durch und durch gespannt auf ihre Meinung über Thomas und die Wohnung und was sie dazu sagte, dass ihre Tochter etwas Eigenes besaß, fast eine Familie.

      Mit Blumen und einem Geschenk in der Hand kam sie wie abgemacht am Freitagabend, so, wie ich sie all die Jahre kannte, und obwohl sie mich freudig umarmte, bereitete sie sich psychisch auf meinen männlichen Partner vor, zumindest deutete ihre Körpersprache darauf hin, oder bildete ich mir das nur ein? Nachdem wir uns begrüßt hatten, suchte sie mit einem skeptischen Blick nach Thomas.

      Der heutige Abend, so hatte ich es mir vorgenommen, sollte weit weg von alltäglichen und Familienproblemen sein. Ein freudiges Beisammensein sollte es werden, ein kleines Fest unter uns dreien.

      Nachdem ich sie in den Salon einlud, folgte sie mir nach. Kaum waren wir darin angekommen, stand Thomas sofort auf und begrüßte meine Mutter höflich. Beim Handgeben prüfte sie ihn gleichzeitig bewusst. Bei Thomas war die Freude unübersehbar.

      „Ich freue mich für Euch! Ihr habt eine schöne Wohnung!“ Meine Mutter sah zuerst mich an, dann Thomas, und nun schweiften ihre Blicke in dem großen Salon umher hin zur offenen Küche. Offenheit lag in ihrer Bestätigung, und wie ich sie kannte, hatte sie damit zu meinen Gunsten geurteilt.