Nur ein Traum. Semira Sayer

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Название Nur ein Traum
Автор произведения Semira Sayer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738058734



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Das alles beeindruckte sie sehr. Dann wandte sie sich zu mir: „Ich hoffe, die Wohnung gefällt euch auch!“

      „Ehrlich gesagt – mir gefällt diese Wohnung nicht, Mam!“, eilte ich mit Antwort.

      „Ich verstehe dich nicht, was hast du dagegen?“; fragte sie überrascht.

      „Ich bin nicht gegen die Wohnung, sondern gegen Fluglärm und gegen das unendliche Schlagen der Wanduhren! Ich komme nie zur Ruhe!“

      „Das kann nicht so schlimm sein“, fand meine Mutter.

      „Man kann sich dran gewöhnen“, unterbrach sie Thomas. „Ich habe mich schon daran gewöhnt“, fügte er hinzu.

      Meine Mutter bereitete sich vor, um sich mit ihm weiter zu unterhalten, und drehte ihr Gesicht in seine Richtung. „Du könntest Recht haben, Thomas, man gewöhnt sich an vieles!“

      Am liebsten wollte ich protestieren. Das war nicht fair, wir Menschen sind nicht alle gleich. Einer kann etwas ertragen, ein anderer nicht.

      Aber obwohl ich wusste, dass ich mit meiner Meinung allein dastand, gefiel mir die Unterhaltung. Thomas wechselte schon das Thema und hatte einiges zu erzählen über die nagelneuen Möbel, Vorhänge und so weiter. Er war nicht menschenscheu und konnte sich schnell mit jedem anfreunden.

      In Wirklichkeit war meine Mutter hingegen eher eine ruhige Natur. Sie bewies heute aber wieder einmal, dass sie sich offensichtlich den gegebenen Umständen problemlos anpassen konnte. Sogar mit unterdrückten, verwundenen Gefühlen der Vergangenheit.

      Ihnen zuhörend, packte ich zuerst die Rosen aus, stellte sie ins Wasser und auf den Glastisch mitten im Zimmer. Als ich das Geschenkpäckchen in die Hand nahm, lenkte Thomas einen Moment die Aufmerksamkeit darauf. Ich packte es unter seinen staunenden Augen aus. „Schön, wirklich sehr schön!“, sagte er erfreut. „Vielen Dank!“ Er erhob sich und gab meiner Mutter begeistert einen Kuss auf die Wange.

      „Danke, Mam, sie ist wirklich herrlich, diese handbemalte, große Vase!“ Ja, ich drückte meinen Dank aus mit einem Kuss auf beide Wangen.

      „Ich freue mich, dass sie euch gefällt!“

      Die Vase passte ausgezeichnet neben den Sessel nahe an der Balkontür. Ein paar Trockenblumen würden sie gut schmücken, dachte ich bei mir. Das Papier faltend, schickte ich mich an, in die Küche zu gehen, und sah die beiden, wie sie sich in ihre Unterhaltung vertieft hatten.

      „Soll ich dir helfen?“, hörte ich meine Mutter fragen, worauf die Unterhaltung der beiden verstummte.

      „Danke, Mam, Fleisch, Gemüse und Salat habe ich schon vorbereitet, ich muss nur noch die Teigwaren kochen“, rief ich ihr zu und warf einen lächelnden Blick über meine Schulter zurück. Ich füllte den Kochtopf mit Wasser und wandte mich wieder den beiden zu. Ohne es zu wollen, machte ich mir Gedanken über den psychischen Zustand meiner Mutter, die mit einem Lächeln bestätigend ihren Kopf schüttelte, während ihr Thomas etwas erzählte.

      Dann öffnete ich den Küchenschrank, mechanisch machte ich ihn auf und zu, ohne irgendetwas herauszunehmen. Ablenken musste ich mich, nichts anderes, als mich von tragischen Geschehnissen ablenken, wollte ich.

      Das Wasser sprudelte im Topf. Plötzlich tauchten Bilder der bitteren Auseinandersetzungen zwischen meinem Vater und meiner Mutter auf. Es hatte neben den Geldproblemen auch noch viele andere Sorgen daheim gegeben. Damals war ich noch nicht in der ersten Schulklasse, ja, noch im Kindergartenalter war ich damals gewesen. An diesem Abend sollte sich das Schlimmste in unserer Wohnung ereignen.

      Weil der Verdienst meines Vaters nicht zum Leben reichte, hatte sich meine Mutter bei einer Abendteilzeitstelle beworben und kurz danach die Stelle bekommen.

      An jenem Abend, als mein Vater heimkam, entfernte sie sich vom Kochherd, zog ihre Schürze aus, hängte sie an einen Haken an der Wand in der Küche, nahm in Eile ihre Jacke in die Hand und machte sie sich auf den Weg, um zu ihrer Arbeitsstelle zu gehen.

      „Das Essen ist auf dem Herd bereit, ich muss los“, sagte sie. Darauf reagierte mein Vater gar nicht. So verabschiedete sie sich an diesem Abend, dann kam sie zu mir.

      „Auf Wiedersehen, Kleines, du gehst in einer Stunde nach dem Essen ins Bett, sonst bist du zu müde am nächsten Morgen. Hast du verstanden?“

      „Ja“. Ich nickte weiter stumm.

      Sie gab mir Küsschen auf beide Wangen.

      „In einer Stunde gehst du wirklich ins Bett, hörst du!“, wiederholte sie, um mich besorgt.

      „Ist gut, Mam“, bestätigte ich ihre Worte und begleitete sie bis zur Tür. Ich sah ihr traurig nach. Ja, ich hatte Angst, diese ruhige kalte Atmosphäre zwischen den beiden bereitete mir Angst, große Angst wie vor einem gewaltigen Sturm.

      Nach dem Essen schaltete mein Vater das Fernsehen ein. Ich saß neben ihm und suchte seine Nähe, es gab keine große Konversation zwischen mir und ihm.

      Traurigkeit umhüllte mich wegen der wortkargen, kalten Lage unserer Familie. Ich machte mir Gedanken darüber, wann einer von beiden versuchen würde, sich mit dem anderen zu versöhnen und mit ihm zu reden, doch dann immer gab es schon den nächsten Streit. Das war schon so, solange ich mich erinnern konnte.

      Die müde, abgespannte Erscheinung meines Vaters beobachtete ich eine Zeit lang neben mir. Als er seinen Kopf zu mir drehte, fragte er mich, wie immer, wenn meine Mutter die Wohnung verlassen hatte: „Bist du müde, Schatz?“

      Und ich antwortete wie immer: „Ja, Paps!“

      Er nahm meine Hand und führte mich in mein Zimmer.

      „Paps?“, fragte ich ihn, nachdem ich mir meinen Pyjama selbst angezogen hatte. Ich sah ihm zu, wie er meine Bettdecke öffnete und zurückfaltete.

      Wie gern wollte ich ihn fragen, ob er mir ein Märchen vorlesen würde. Aber ich wusste seine Antwort darauf schon: „Deine Mutter kann das besser“, deshalb ließ ich es sein.

      „Paps?“ Wiederholt sprach ich ihn an, vor ihm stehend, ehe ich ins Bett ging.

      „Ja, Schatz?“ Er half mir dabei, ins Bett zu steigen. „Wolltest du nicht etwas fragen oder sagen?“ Er legte sorgsam die zurückgefaltete Decke über mich.

      „Paps! Kannst du bitte die Tür einen Spalt offen lassen?“ Ich hatte Angst, das verschwieg ich ihm, und starrte nur die Tür an.

      „Wie du willst, mein Schatz, gute Nacht!“

      „Gute Nacht, Paps!“ Lange sah ich meinem Vater nach, danach schaute ich immer auf das Licht, das vom Wohnzimmer über die offene Spalte mein Zimmer ein wenig erhellte.

      Große Unruhe überkam mich dann immer. Das Kleinsein, sich ungeschützt Fühlen, einsam zu sein – diese Gefühle überwältigten mich dann, ich drehte mich auf die rechte Seite und drückte die Augen zu. In meinem kleinen Kopf schwirrten die Gedanken, mal dachte ich über den Kindergarten nach, mal wieder über Mutter und Vater. Es war schwer, einfach einzuschlafen.

      An diesem Abend drehte ich mich hin und her, ich konnte nicht schlafen und immer stärker stiegen Ängste in mir auf. Als ich in Panik meine Augen öffnete, konnte ich weder die Türspalte noch ein Licht erkennen. Es war überall stockdunkel.

      „Paps“, rief ich voller Angst. „Paps, bist du da?“ Ich rief und rief. Wo um Himmels willen blieb mein Vater. Warum brannte kein Licht mehr in unserer Wohnung? Was war geschehen?

      In der Finsternis versuchte ich aufzustehen und schlüpfte unter der Decke hervor, um auf die Beine zu kommen. Sobald ich fest auf den Beinen stand, fühlte ich mich noch viel verlorener und einsamer als im Bett, und ich hatte große Angst, gegen einen Gegenstand zu laufen und mich zu verletzen.

      Ich fing an zu weinen, es war alles so gespenstisch!„Paps, wo bist du? Bitte, Paps hilf mir, ich habe solche Angst!“ Meine Hilferufe verhallten im Zimmer, genützt hatten sie kein bisschen. Plötzlich hörte ich, wie sich in der Wohnungstür der Schlüssel im Schloss drehte und sie geöffnet wurde.

      „Paps,