Nur ein Traum. Semira Sayer

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Название Nur ein Traum
Автор произведения Semira Sayer
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738058734



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du?“ Überraschenderweise erkannte ich die sorgende Stimme meiner Mutter, dann wurde es wieder hell.

      „Mam, du bist zurück?“, rief ich zutiefst froh und verweint und fiel meiner Mutter schluchzend in die Arme, als sie die Kinderzimmertür öffnete. Sie stürmte herein und nahm mich in ihre Arme. Das Weinen brach erneut aus mir heraus, ich weinte und weinte und konnte nicht mehr damit aufhören.

      „Wo ... wo ist dein Vater hin?“, fragte sie aufgeregt immer wieder, ohne laut zu werden. Ich sagte mit Gefühlen, die zwischen Angst und Freude schwankten:

      „Ich weiß es nicht, Mam; ich weiß es nicht!“ Meine Kinderstimme zitterte.

      „Komm, mein Kleines, es ist höchste Zeit zum Schlafen!“ Sie nahm mich an der Hand und brachte mich zurück ins Bett. Ihr Dasein gab mir Halt, ich fühlte mich sicher in ihrer Nähe. Ich wusste nicht genau, was zwischen meiner Mutter und meinem Vater vorgefallen war, dazu war ich noch zu klein. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er hatte sein Wort nicht gehalten, dass er bei mir bliebe, während sie zur Arbeit ging!

      Es war untereinander abgemacht gewesen! Deshalb war ich sehr verärgert über meinen Vater, der auf irgendeine Art Mutter wehtat. Jedoch wusste ich als kleines Mädchen natürlich noch nicht, dass das nicht der einzige Grund war, weswegen meine Mutter so litt. Aber ich war jetzt überglücklich, dass sie bei mir war. Sie trocknete meine Augen mit ihren Baumwolltaschentuch, streichelte sanft über mein Haar und gab mir einen liebevollen Kuss, während sie neben mir saß. Ja ihr Dasein füllte mein Leben wieder mit Trost und Freude, als ich wieder im Bett lag.

      Ohne eine Bitte von mir stand sie auf und holte mit nervösen Schritten im Nu das Märchenbuch aus dem kleinen Bücherregal. Ihre gespannte Haltung war nicht zu übersehen, jedoch wagte ich kein einziges Wort hervorzubringen. Ich beobachtete sie aufmerksam, mit von Tränen aufgehellten Augen. Ihre Hände zitterten. Sie konnte kaum das Buch festhalten und auf einmal fiel es zu Boden. Sie brannte, ja sie brannte mit ihrer ganzen Seele in einem Feuer der Enttäuschung, der Demütigung und stand vor ihrer zerbrochenen Familie.

      „Mam“, sagte ich und hielt ihre durch die inneren Kämpfe immer heißer werdende Hand, als sie wieder neben mir saß.

      „Schon gut, Kleines. Schon gut, mein Schatz.“ Sie schüttelte ihren Kopf hin und her. „Ich werde dir ein Märchen erzählen.“ Ihre Stimme wurde immer dünner, auf einmal verlor sie sie ganz. Eine Stille, eine lange Stille füllte das Zimmer. Ihr Kopf hing nach unten, ihre dunkelblonden Haare bedeckten ihr schönes Gesicht.

      Ja, sie versuchte, die Tränen zu verstecken. Dann plötzlich wischte sie ihre Augen mit beiden Händen, hob ihr Gesicht hoch und schob ihre Haare aus dem Gesicht.

      Dann brachte sie ihre rechte Hand an mein Haar, ihre geröteten Augen ruhten darauf. „Es war einmal ...“ Sie zog ihre Nase hoch, dann erzählte sie weiter. „Es war einmal ein hübscher Prinz in einem fernen Land. Er war so hübsch, dass jeder ihn gern haben musste. Seine Mutter, die Königin, und sein Vater, der König, verwöhnten ihn so sehr, dass er mit der Zeit hochnäsig, faul und höhnisch wurde. Er war so hochnäsig, dass er jede junge Frau ablehnte zu heiraten.

      Eines Tages unternahm er eine Reise in das Landesinnere. Überall, wo er hinkam, jubelten die Menschen und verbeugten sich vor ihm, weil sie vor ihm Angst hatten.

      Zufällig kam er in einem kleinen Dorf vorbei und sah ein junges Mädchen, das auf einem Weizenfeld ununterbrochen Körner verstreute. „Guten Tag“, sagte der Prinz und war sehr verwundert, dass das Mädchen ihn übersah und einfach weiter arbeitete.

      „Du da“, rief der Prinz zornig. „Weiß du eigentlich, wer ich bin?“, sprach er weiter, vor Zorn war er ganz rot geworden. Das Mädchen hob ihr Gesicht und sah ihm in die Augen. „Ich weiß, wer du bist, mein Prinz. Du verdienst aber nicht im Geringsten meinen Respekt, sondern meine Verachtung, weil du nicht weißt, was Arbeiten heißt und dadurch würdevolles Leben!“

      Der Prinz war sprachlos. Er wusste keine Antwort darauf, weil das Mädchen die Einzige war, die ihm bisher die Wahrheit gesagt hatte in seinem ganzen Leben. Er sah sie lange an, ihre blonde Haarpracht, die bis weit über ihrem Rücken herabhing. Die Haare wehten flatternd im weichen Wind und glänzten unter den heißen Sonnenstrahlen wie die goldenen Weizengarben. Der Prinz war sehr angetan von ihren treuen, braunen Augen und ihrem schönen Gesicht.

      Ihre Aufrichtigkeit und ihre Weisheit fand er beeindruckend. Er stieg von seinem Pferd, ging auf das Mädchen zu, nahm ihre von der Erde beschmutzte Hand, küsste sie und fragte sie: „Willst du mich heiraten?“ Das Mädchen sah ihn an, und als sie fühlte, dass der Prinz verstanden hatte, was sie ihm gesagt hatte, antwortete sie schlicht: „Ja!“

      „Der Prinz nahm sie mit sich heim.“

      Das Wort „heim“ löste eine tiefe Trauer in meiner Mutter aus. Sie schluckte mehrmals vergeblich den Knoten, der sich bei ihr im Hals gebildet hatte, schwer hinunter. Jedoch tat ihr das von ihr selbst erfundene Märchen gut und lenkte sie einen Moment von ihren Sorgen ab.

      Sie hatte mich als Dorfmädchen beschrieben, mit meinen blonden Haaren, die ich damals als Kind hatte und die heute nachgedunkelt sind. Meine braunen Augen hatte sie geschildert, und damit gab sie mir das Gefühl, eine Märchenheldin zu sein. Das beruhigte mich auf eine Art, wie ich es noch nie erlebt hatte.

      Kaum konnte ich meine Augen noch offen halten. Aber die Geschichte ging weiter.

      „Der Prinz schenkte dem Mädchen einen goldenen Ring mit einem roten, großen, echten Edelstein daran“, hörte ich meine Mutter leise weitererzählen. Das war das Letzte, was ich noch mitbekam, ehe ich einschlief.

      Ein Riesenkrach von lauten Stimmen weckte mich wieder aus meinem tiefen Schlaf auf. Ich schlich leise zur offenen Spalte. „Wo bist du gewesen? Sage es mir, wo bist du gewesen?“ Meine Mutter war feuerrot im Gesicht angelaufen. Ich wagte es kein zweites Mal, sie anzusehen, und vergoss schon wieder Tränen und dachte daran, wie sie nun wieder leiden musste. Sie zog ihre Nase hektisch hoch und fuhr verweint fort: „Ich vertraue dir unsere kleine Tochter an und gehe zur Arbeit, um Geld für uns zu verdienen, und du lässt sie einfach allein! Allein und unbeaufsichtigt! Schlägt dir da nicht wenigstens das Gewissen?“

      Mein Vater brüllte sie an. „Wieso bist du schon so früh daheim? Moment mal! Du hast mir nachspioniert! So ist das also!“

      „Nein! Ich habe mich versteckt und war sehr gespannt, was du machst, wenn ich zur Arbeit gehe! Ich sah dich das Haus verlassen.“ Sie rang nach Luft. „Ich wusste es, ich wusste bei Gott, dass du versagen würdest!“

      „Ich war in der Kneipe, hast du was dagegen?“

      „Sicher habe ich etwas dagegen! Deine Tochter ängstigt sich daheim ohne ihren Vater und du hockst in der Kneipe, trinkst gemütlich dein Bier und gibst Geld aus, das ich mitverdienen muss!“ „Es ist mein Geld, Jawohl, mein Geld!“

      Sie schrie ihn weiter mit weit ausgestreckter Hand an. „Dein Geld reicht nicht einmal für unsere Familie, sodass ich als Hausfrau mit Kind abends arbeiten muss!“ Sie war am Ende angelangt, am Ende ihrer Gefühle und ihrer Nerven.

      Meine Mutter bedeckte ihr Gesicht mit der Hand, wandte sich von meinem Vater ab und weinte. Es schien, als könne sie nie mehr aufhören zu weinen.

      Plötzlich lag eine tiefe Stille im Wohnzimmer, nur die kräftigen Schritte meines Vaters verhallten. Mit meinen kleinen Fingern griff ich zitternd nach dem Türgriff und schob die Tür, die noch eine Spalte offen war, ein kleines Stückchen weiter auf. Ich sah meinen Vater, der seine Jacke vom Kleidergestell riss und sie an sich nahm.

      „Ich gehe, hörst du! Ich gehe fort und komme nie mehr hierher zurück! Ich habe es satt mit dir und deinen hysterischen Anfällen!“ Mein Vater eilte zur Wohnungstür, riss sie auf, verschwand und schlug sie kräftig hinter sich zu.

      Meine Mutter folgte ihm nach bis zum Eingang, sie war außer sich. Ich sah sie in das Wohnzimmer stürmen. Für einen Moment sah ich sie nicht mehr, aber gleich kehrte sie mit einem Stuhl in der Hand zurück. „Geh nur, geh nur, du elender Versager! Verstehst du nicht, dass sie unsere kleine Tochter ist?“, schrie sie hysterisch ihre Bitterkeit