Operativer Vorgang: Seetrift. Jo Hilmsen

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Название Operativer Vorgang: Seetrift
Автор произведения Jo Hilmsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847624295



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sah ich sie das erste Mal. Tanja!

      Sie sah aus, als wäre sie geradewegs meinen Träumen entstiegen. Mir stockte sofort der Atem.

      Am liebsten hätte ich den Koffer fallen gelassen, wäre zu ihr geeilt und hätte sie für den Rest meines Lebens in die Arme geschlossen. Aber ich war Vierzehn, gut in ein paar Monaten Fünfzehn, und mit Vierzehn oder Fünfzehn tut man so etwas nicht. Ein Vierzehn- oder Fünfzehnjähriger, den ein solches Gefühl überkommt, errötet. Also errötete ich bis zu den Fußsohlen, wie mir schien.

      Tanja sah kurz zu mir herüber, lächelte und verschwand in einem der Bungalows. Mein Körper machte den Eindruck, als würde ich mich nie wieder von der Stelle rühren können und die nächsten Jahrhunderte vor einem lindgrünen Bungalow stehen bleiben müssen.

      „Philipp?“ Meine Zunge war schon versteinert.

      „Philipp!

      „Ja?“

      „Wo bleibst du mit den Koffern?“ Meine Mutter erschien in der Tür und fuchtelte mit den Armen.

      Mir ist gerade die Liebe begegnet, und ich kann mich nicht mehr bewegen! Das sagte ich natürlich nicht. Ich war Vierzehn. Und ein Vierzehnjähriger spricht mit seiner Mutter niemals über solche Dinge.

      „Ja, verdammt noch Mal. Ich bin doch kein Koffergully!“ Dieses Wort gefiel mir. Koffergully. Ich hatte es in irgendeinem Roman gelesen.

      „Papa wartet schon. In diesem Koffer ist sein Rasierzeug. Würdest du dich also bitte bequemen, ihn herzubringen.“

      Koffergully!

      „Wir sind im Urlaub. Warum muss er sich jetzt rasieren? So was Überflüssiges.“

      Ich kannte meinen Vater nicht anderes, als absolut korrekt rasiert. Bisweilen rasierte er sich wegen seines starken Bartwuchses sogar zweimal am Tag.

      „Ich fühle mich nicht wohl, wenn ich unrasiert bin: nicht wegen der Leute, sondern meinetwegen. Ich habe das Gefühl, ich werde zu etwas wie eine Pflanze, wenn ich nicht rasiert bin, und greife unwillkürlich an mein Kinn. Ich fühle mich dann wie Gras“, erwiderte er stets, wenn ich oder meine Schwester Stephanie spotteten.

      Später las ich diese Sätze in Homo Faber von Max Frisch und wunderte mich darüber, wie Max Frisch zu den Sätzen meines Vaters gelangt war. Wahrscheinlich war es wohl eher umgekehrt.

      Die Sachen waren verstaut, die Betten bezogen und mein Vater frisch rasiert. Wir gingen die Ostsee begrüßen. Das war ein sorgsam gehegtes Ritual, das ich bis zum heutigen Tag zelebriere. Wann und wo auch immer ich in der Nähe ein Meer weiß, suche ich es auf, um es zu begrüßen und wenn es warm genug ist, darin zu baden.

      Ein kleiner Trampelpfad begann hinter einer schmalen Straße und führte durch die Dünen.

      Es war Mittag und es war heiß. Ich trug natürlich meine geliebte Levis und ein Nicki mit einem darauf gedruckten Foto von Led Zeppelin. Das hatte ich von Kai Wagner gegen ein Pornoheft getauscht, das ich für dreißig Mark von Ralf Zschiedrich gekauft hatte. Ralfs Vater war Volkspolizist und hatte irgendwann einen ganzen Stapel dieser Hefte konfisziert. In unserer Klasse gab es zahlreiche solcher Geschäfte.

      Ich schwitzte. Insgeheim hoffte ich, dass mein Traummädchen uns entgegen kam und da der kleine Weg so schmal war, wir uns dann zwangsläufig berühren mussten. Stattdessen versperrte uns ein fetter Urlauber den Weg und schubste mich beinahe in die Büsche.

      Meine Mutter war vom Strand entzückt, mein Vater war vom Strand entzückt. Ich war darüber entzückt, dass sich keine zweihundert Meter von unserem Strand entfernt ein FKK-Strand befand. Das Paradies eines Fast-Fünfzehnjährigen. An einem geheimen Ort in meinem Zimmer zu Hause, hatte ich ein kleines Heftchen mit Fotos von nackten Frauen versteckt. Die Fotos stammten aus dem Magazin oder der Funzel – einer Seite aus dem Eulenspiegel. Diese harmlosen Nacktfotos spielten natürlich mehr oder weniger kleine oder größere Rollen in meiner Phantasie. Außerdem besaß ich noch eins von den konfiszierten Pornoheften, mit riesigen Aufnahmen auseinander gezogener Schamlippen oder ejakulierenden Schwänzen, aber das kleine Heftchen mit den Bildchen mochte ich lieber.

      Was ich hier sehen könnte, übertraf alles, was ich jemals zu Hause unter meiner Bettdecke herbei phantasiert hatte. Hier spielten sogar nackte Frauen Volleyball. Ich bekam sofort eine schmerzhafte Erektion.

      Das Thema FKK war für meine Eltern tabu. In diesen Dingen waren sie beide ähnlich schamhaft wie Pubertierende. Niemals würden sie eine Sauna ohne Badebekleidung betreten oder etwa nackt am Strand herumlaufen. Als ich meinen Vater das erste Mal unbekleidet sah, war ich Neun. Das war unter der Dusche in der Altenburger Schwimmhalle und wir waren, glaube ich, beide ein bisschen verlegen. An eine eventuelle Nacktheit meiner Mutter erinnere ich mich überhaupt nicht.

      Gab es irgendwo im Fernsehen eine Liebesszene, in der eine entblößte Frauenbrust zu sehen war, hätte man die Luft in unserem Wohnzimmer knistern hören können.

      An unserem Strand gab es ebenfalls einen Volleyballplatz, wo mit Badehose, Badeanzug oder Pulli gespielt wurde. Eine Gruppe Mädchen, Jungen, Männer und Frauen sprangen hoch oder hechteten nach dem Ball. Unter ihnen waren Ramona, Andreas, Silvio, Markus und seine Schwester Christiane. Schon bald sollten sie in diesem Urlaub meine besten Freunde werden.

      Statt der Ostsee die gebührenden Aufmerksamkeit zu widmen, wie es mein Vater und meine Mutter taten, warf ich schon mal verstohlene Blicke hinüber zum FKK Strand. Ich konnte so tun, als suchte ich Steine am Strand und mich so langsam diesem Paradies nähern.

      Ein guter Plan! Ein verdammt guter Plan!

      Zurück im Bungalow machte sich meine Mutter sofort an der kleinen Kochnische daran, das Essen zuzubereiten. Das Wasser zum Kochen und zum Waschen musste ein paar Schritte entfernt von unserem Bungalow geholt werden. In der Mitte eines kleinen Platzes ragte ein Rohr mit einem gusseisernen Hahn einen halben Meter in den Himmel. Das war die Wasserversorgung der Bungalowsiedlung. Diese Arbeit erledigte mein Vater. Als die Spaghetti und die Tomatensoße kochten, gingen wir zu dem Tisch, der zwischen unserem und dem Bungalow unserer Nachbarn in den Sand einbetoniert war, setzen uns auf eine der drei Bänke und aßen unter freiem Himmel. Meine Eltern tranken Bier, ich eine Vita-Cola.

      Vor dem Einschlafen musste ich zweimal zur Toilette rennen, um zu onanieren und erschlug dann zwölf Mücken in meinem Zimmer. Die Hälfte davon lauerte schon an der Wand über meinem Kopfkissen.

      Noch 240 Stunden bis zur Katastrophe.

      In der Nacht träumte ich von nackten Volleyballspielerinnen, die mit weit gespreizten Beinen über das Netz sprangen …

      Es gab noch keine Vorwarnung, kein Zeichen. Nicht das Kleinste.

      Kapitel 5

      Wie alle FDGB-Bungalowsiedlungen an der Ostsee besaß auch diese einen kleinen Konsum. Hier konnte man morgens frische Brötchen, Bier, Limonade, Lebensmittel oder Zahncreme oder Campingkocher kaufen. Das Angebot war nicht üppig, aber es reichte.

      Am nächsten Morgen wurde ich zum Brötchen holen geschickt. Meine Eltern bereiteten das Frühstück, und ich trabte los.

      Mindestens drei Minuten starrte ich auf den Bungalow, in dem ich das schöne Mädchen verschwinden gesehen hatte, aber dort rührte sich noch niemand. Vielleicht war sie mit ihrer Familie schon am Strand.

      Vor dem kleinen Konsum wartete eine Schlange von mindestens dreißig Menschen. Die meisten trugen Badesachen. Frauen mit geblümten Küchenschürzen und Männer mit grellbunten Hemden. Manche waren mit einer dunklen Bräune überzogen, andere noch käsig oder bereits rotgegrillt.

      Ich stellte mich an. Meine Mutter hatte mir aufgetragen, zehn Brötchen zu kaufen und mir dafür eine Mark gegeben. Die fünfzig Pfennig, die übrig bleiben würden, durfte ich behalten.

      Vor mir unterhielten sich zwei Frauen über die Waschmöglichkeiten im Bungalowdorf.

      „Ich wasche alles mit der Hand in einer Plastikschüssel“,