Operativer Vorgang: Seetrift. Jo Hilmsen

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Название Operativer Vorgang: Seetrift
Автор произведения Jo Hilmsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847624295



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dreimal durch die Wohnung rennen, um nachzusehen, ob die Fenster geschlossen wären, die Pflanzen genügend Wasser hatten, alle Wasserhähne überprüfen und ob der Gashahn abgestellt war.

      „Den gleichen Mist gibt es doch auch auf der Leipziger Kleinmesse.“

      „Papa, auf der Kleinmesse gibt es keine Achterbahn.“

      „Was hast du immer nur mit deiner Achterbahn?“

      Damit war das Gespräch beendet. Trotzdem wusste ich, dass er mir meinen Wunsch erfüllen würde. Das tat er immer, wenn er es konnte. Selbst einen Hund hätte er mir gekauft, wäre meine Mutter nicht so halsstarrig dagegen gewesen.

      Mein Vater und ich warteten über eine halbe Stunde, bis meine Mutter endlich am Auto erschien.

      „Ich musste doch noch gucken, ob der Gashahn abgestellt ist.“

      Natürlich! Jeden Tag explodierte irgendwo eine Wohnung in der Stadt.

      Ich kletterte auf die Rückbank und machte es mir so bequem wie möglich. 1980 war das Anschnallen in der DDR noch nicht Pflicht und der papyrusweiße Trabant 601 besaß hinten ohnehin keine Gurte.

      Ich legte meine Beine nach oben, schob mir ein paar klobige Kopfhörer über die Ohren, die aussahen wie ein in der Mitte durchtrenntes Straußenei und warf meine Lieblingskassette in den Radiorecorder. Der Radiorecorder war nagelneu. Das Plastikgehäuse mattschwarz, die rote Aufnahmetaste ganz rechts und über dem Kassettendeck stand mit moderner Schrift Radio Recorder Babett. Das Gerät besaß einen Trageriemen, so dass ich es sogar über die Schulter hängend herumtragen konnte, wenn ich wollte. Auf dem Tape war CrO2 gedruckt und STOP und AUTOMATIK. CrO2 bedeutete, dass der Tonkopf für die neue Generation Kassetten geeignet war. Das einzige Problem war die Effizienz der Batterien. Nach drei vier Stunden begannen die Kassetten zu leiern und Mick Jagger klang, als würde ihm bei Satisfaction die Lust am Singen vergehen.

      Ich hatte auf zwei Weihnachts- und zwei Geburtstagsgeschenke verzichtet und wegen des noch fehlenden Geldes die letzten Wochen im Betrieb meiner Mutter geschuftet, nur, um mir dieses für mich absolut moderne Gerät kaufen zu können. Und nun genoss ich meine Mitschnitte auf der hinteren Sitzbank unseres Trabants so stolz wie ein König.

      Auf meiner neuen CrO2- ORWO-Kassette befanden sich Mitschnitte von diversen Radiosendungen. Ich hörte fast ausschließlich Bayern 3 oder Radio Luxemburg. Am liebsten Pop nach Acht auf Bayern 3 – eine Sendung, die von Thomas Gottschalk und Fritz Egner moderiert wurde. Wir hatten Glück – Altenburg lag nicht im Tal der Ahnungslosen wie beispielsweise Dresden. Und obwohl mein Vater Mitglied der SED war, sahen wir zu Hause Westfernsehen und hörten Westradio. Nur Verwandte im Westen hatten wir keine. Die einzige Levis, die ich damals besaß, hatte ein kleines Vermögen gekostet und war inzwischen über und über mit Flicken übersät. Meine absolute Lieblingshose. Meine Mutter schimpfte jedes Mal beim Waschen und schüttelte den Kopf, aber nähte sie immer wieder zusammen, wenn sie irgendwo einen neuen Riss bekommen hatte. Sobald die Hose gewaschen war, zog ich sie an und manchmal zog ich sie sogar an, wenn sie noch feucht war und an der Haut klebte. Selbstverständlich trug ich sie auch heute und würde sie den gesamten Urlaub tragen.

      In Leipzig ermahnte mich mein Vater das erste Mal, nicht so laut zu singen. Ich sang einen Beatles-Song mit: Yesterday. Die Beatles gab es schon eine Weile nicht mehr und meine Sangeskünste waren ziemlich dürftig.

      Bis Ückeritz ermahnte mich mein Vater sechs oder siebenmal, nicht so laut zu singen, aber nie verlor er die Geduld oder wurde wütend.

      Mein Vater! Ich liebte meinen Vater. Er war einer meiner besten Freunde, als ich Vierzehn war. Nein, er war der Beste.

      Ich erinnere mich, wie er monatelang an einer elektrischen Eisenbahn auf dem Dachboden unseres Miethauses herumgewerkelt hatte. Er klebte und hämmerte alles selbst zusammen, bemalte die Rückwand aus Sperrholz mit einer Landschaft, verlegte künstlichen Minirasen und baute jedes kleine Häuschen aus Modellbaukästen zusammen. Er verlegte Schienen und unendliche Ströme kleiner Elektrokabel. Wenn etwas nicht funktionierte, fing er geduldig von vorne an. Eine Sisyphusarbeit. Weihnachten 1973 bekam ich sie dann geschenkt und jedes Jahr eine Lok, ein paar Güterwagons oder einen Personenzug von ihm dazu.

      Diese Modelleisenbahn begleitete mich meine gesamte Kindheit. Wenn ich einmal vor Ungeduld zu platzen drohte, weil erst der 21.12. war und es bis zur Bescherung noch Monate zu dauern schien, steckte er mir einen kleinen Modellgüterwagon vorzeitig in die Tasche.

      „Aber sag nichts der Mama!“ Ich strahlte. „Niemals!“ Wir waren eine verschworene Gemeinschaft.

      Später sollte ich mich an diesen Erinnerungen wie ein Schiffsbrüchiger an einen Rettungsring klammern. Den Schmerz allerdings, der manchmal meinen Körper vergiftete, konnten sie nicht lindern.

      Kurz hinter Neubrandenburg kam der Urlauberverkehr zum Erliegen. Ein Mann hatte sich mit seinem Barkas- Kleintransporter um eine Linde gewickelt. Inzwischen war es Mittag geworden und die Sonne knallte auf die Plastikkarosse unseres kleinen Autos, dass ich fürchtete, dass sie irgendwann einfach schmolz.

      Der schwerverletzte Mann wurde abtransportiert und nach knapp zwei Stunden war die Unfallstelle geräumt. Der Verkehr schleppte sich wieder in Richtung Norden.

      Im Fond herrschten langsam tropische Temperaturen. Ich beschwerte mich und bat meine Mutter, mich eine Weile nach vorne setzen zu dürfen, weil es hinten keine Scheibe zum herunterkurbeln gab, aber sie überhörte meine Bitte. Stattdessen steuerte mein Vater den nächsten Waldweg an, stoppte den Trabi und wir kletterten ächzend und schwitzend aus dem winzigen Käfig.

      Der Kofferraum war bis auf den letzten Millimeter vollgestopft mit Dingen. Es bedurfte schon eines ausgeklügelten Systems, um darin das Gepäck für drei Personen zu verstauen. Außerdem besaß mein Vater die Angewohnheit, ein halbes Ersatzteillager auf jeder noch so kleinen Reise mitzuschleppen.

      „Man kann ja nie wissen“, meinte er immer, wenn meine Mutter über den Kofferrauminhalt ihr volles braunes Haar schüttelte.

      So befanden sich natürlich auch auf der Fahrt nach Ückeritz neben unseren Koffern und der Provianttüte, diverses Werkzeug, um, davon war ich überzeugt, den Trabant einmal auseinander und wieder zusammen zu schrauben. Zündkerzen, eine funktionsfähige gebrauchte Lichtmaschine, zwei Keilriemen, Unmengen Ersatzlampen, Vergaserteile und natürlich das Ersatzrad.

      Die Aufgabe meiner Mutter war es, die Koffer für uns alle zu packen. Aufgabe meines Vaters war es, all diese Dinge dann in den Kofferraum zu stopfen.

      Ich hatte eigentlich nichts anderes zu tun, als die Wetterberichte der verschiedenen Kanäle zu hören und diese dann zu vergleichen. So wie es aussah, sollten die nächsten zwei Wochen sehr warm werden und es so gut wie keinen Regen geben.

      Es gab Leute, die fuhren mit so einem kleinen Auto bis an den Balaton nach Ungarn und schleppten dann auch noch die Verpflegung für vierzehn Tage mit. Wie das funktionierte, war mir ein Rätsel.

      Meine Mutter kramte nach der Provianttüte und verteilte die Brote, die Fleischbällchen, die hart gekochten Eier und den Kaffee. Die Apfelstückchen hatten wir schon unterwegs gegessen.

      Wir ließen uns im Gras nieder und machten Picknick. Das Essen war köstlich.

      Der Wald rings um uns roch wie Wald riecht, wenn er langsam vertrocknet. Seit Tagen war die höchste Waldbrandstufe ausgerufen worden und meine Mutter verbot meinem Vater das Rauchen.

      Dass ich in ein paar Tagen selbst mit dem Rauchen anfangen sollte, ahnte ich noch nicht und musste Grinsen, als mein Vater leise vor sich hin fluchend in den Trabi kroch, um dort zu rauchen. Während der Fahrt herrschte ebenso Rauchverbot wie im Wald.

      Nachdem wir uns gestärkt und ein bisschen die Beine vertreten hatten, verstaute mein Vater den Rest des Proviants im Kofferraum und wir reihten uns wieder in die endlos scheinende Schlange Autos in Richtung Ostsee ein.

      Dreieinhalb Stunden später standen wir neben unserem Bungalow. Dem Bungalow Nummer Zwanzig. Alle Bungalows trugen neben der Zahl Namen wie Urlaubsfreude, Feierabendglück oder gar Völkerfreundschaft.