Название | Operativer Vorgang: Seetrift |
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Автор произведения | Jo Hilmsen |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847624295 |
Eigentlich war es gar kein richtiges Tor. Der Maschendrahtzaun rings um das Grundstück war unheilbar verrostet und an vielen Stellen so löchrig, dass man ohne Schwierigkeiten eine Schafherde hindurch treiben konnte. Das Tor war halb aus den Angeln gezerrt und nicht mehr verschließbar.
Der Mann blickte wortlos in meine Richtung, und ich näherte mich ihm langsam.
Es ist ein Klischee, aber die Norddeutschen reden wirklich wenig. Mir war ebenfalls nicht nach Sprechen zumute.
Ich nickte als Zeichen meines Anliegens und zeigte auf einen der Bungalows. Bungalow Nummer 20.
In diesem Bungalow hatte ich den letzten Urlaub mit meinen Eltern verbracht. Im Bungalow Nummer 20 in Ückeritz. Damals hieß der Bungalow Campingfreund – dieses Schild fehlte jetzt. Die Fahrt hierher hatte mit unserem papyrusweißen Trabant 601 über neun Stunden gedauert. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, dass der typische Zweitakt- Motor Gestank von irgendwoher die Luft verpestete.
Zum Glück verstand mich der Mann sofort. Er zog ein großes Schlüsselbund aus seiner Jackentasche und trottete in Richtung Bungalow Nummer 20.
Meine Füße waren bleischwer und es kostete mich große Mühe, ihm zu folgen. Sein Rücken war gebeugt, die Hände grob und schwielig. Das Gesicht war zusammengeschoben wie bei einem Mops, mit geplatzten Kapillaren.
Der Mann schloss die Tür auf, knipste einen Lichtschalter an. Dann sah er sich um, nickte über etwas, schüttelte über etwas den Kopf und wies auf das Bett. Es war erstaunlicherweise frisch bezogen.
Der gestrige Wärmerekord für Mitte November fiel mir ein. Vielleicht hatte er auf Scharen von Touristen gehofft. Ohne ein Wort zu vergeuden, drehte der Mann sich um und verschwand.
Ich war zu Tode erschöpft.
Kraftlos ließ ich mich auf das Bett sinken. Ich verspürte weder Hunger noch Durst. Nur Müdigkeit. Unendliche Müdigkeit.
Ich löschte das Licht und schlief auf der Stelle ein.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, saß er am Fußende meines Bettes und lächelte.
„Papa?“
„Ich habe auf dich gewartet“, sagte er so behutsam wie möglich, um mich nicht zu erschrecken. Ich rieb mir die Augen und richtete mich auf.
„Du warst die ganze Zeit hier?“
„Ja, Philipp. Die ganze Zeit. Nun ist es gut. Du bist gekommen.“
Das Licht, das durch die schmutzigen Fensterscheiben des Bungalows fiel, reichte aus, um meinen Vater gut zu erkennen. Sein Haar war schwarz, nach hinten gekämmt. Sein Gesicht mit einer gesunden Bräune überzogen. Er sah so aus, wie er damals ausgesehen hatte.
Ich überlegte kurz. 1980 war mein Vater neununddreißig Jahre alt. Also war er jetzt genau ein Jahr jünger als ich.
Kapitel 4
August 1980. Einmal im Jahr fuhren meine Eltern mit mir und meiner vier Jahre älteren Schwester Stephanie in den Urlaub. Mehr konnten wir uns nicht leisten.
Schon im Januar war klar gewesen, dass wir an die Ostsee reisen würden. Nach Ückeritz. Anfang des Jahres wurden die Urlaubsplätze im Betrieb meiner Mutter vergeben und wer nicht rechtzeitig einen Antrag gestellt hatte, sah in der Röhre.
Die meisten volkseigenen Betriebe, auch die meiner Eltern, bewirtschafteten irgendwo in der kleinen Republik Bungalows oder ein Ferienhotel. Manche waren attraktiv, andere weniger.
Die Ferienhotels trugen Namen wie: FDGB- Ferienhotel Werner Seelenbinder oder wie im Falle der kleinen Bungalowsiedlung in Ückeritz nur den Namen der Betriebe, die dort einen oder mehrere Bungalows an ihre Belegschaft vermieteten, wie beispielsweise: VEB Armaturenwerk Altenburg.
Ich hatte zwei Wochen meiner Ferien im Armaturenwerk, in dem meine Mutter halbtags als Sekretärin arbeitete, an einer Bohrmaschine geschuftet. Die Arbeit war nicht schwierig gewesen, nur eintönig. Meine Aufgabe bestand darin, sieben Löcher in eine Metallplatte zu bohren. Wozu diese Metallplatte mit den sieben Löchern verwendet wurde, wusste ich nicht. Ich bohrte in einer Stunde achtundzwanzig Löcher und gab mich währenddessen meinen Phantasien hin. Mädchen natürlich. Und in jeder Pause rannte ich zum Klo, um zu onanieren.
Ostsee. Ich konnte es kaum erwarten. Bislang waren wir zweimal an der Ostsee gewesen. Einmal in Ahlbeck und einmal in Binz. Da war ich sechs und zehn Jahre alt. Letztes Jahr waren meine Eltern mit uns nach Tatranska Kotlina in der Hohen Tatra gefahren. Das war das erste Mal, dass ich ein anderes Land innerhalb unserer kleinen Reisemöglichkeiten mit eigenen Augen sah. Aber in den Bergen herumlaufen, fand ich anstrengend.
Ich liebte die Ostsee. Ein anderes Meer kannte ich nicht.
Meine Mutter war seit Tagen mit Packen beschäftigt. Am Abend vor der Reise brutzelte sie kleine Hackbällchen, kochte Eier und beschmierte stapelweise Brote. Drei von den Broten bestrich sie mit Erdbeermarmelade. Die waren für mich. Obwohl die Brote nach wenigen Stunden zu Marmeladen-Brot-Brei matschten, liebte ich die Marmeladenbrote meiner Mutter. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mich ausschließlich von Erdbeermarmeladen-Broten ernährt.
Mein Vater saß am Abend vor der Abreise vor einer Landkarte und notierte sich die Fahrroute auf einen kleinen Zettel, mit dem meine Mutter ihn später navigieren sollte.
Altenburg, Leipzig, Transitstrecke bis Berlin – meine Gelegenheit, Westwagen zu zählen – Dreieck Michendorf, Berliner Ring Richtung Rostock. In Oranienburg auf die F 96, Fürstenberg, Neustrelitz, Neubrandenburg. Dann rüber nach Anklam. Wolgast, Ückeritz.
Mit seinem langen Zeigefinger auf der Landkarte fuhr mein Vater die Strecke entlang, und ich beobachtete ihn dabei.
„Wie viele Kilometer sind das?“, fragte ich.
Mein Vater nahm einen anderen Zettel und kritzelte Zahlen darauf. Zwischen den Städten stand die Entfernung in Kilometern auf der Karte.
„Ungefähr 560.“
Das war wie eine kleine Weltreise.
Das Aufregendste für mich war das frühe Aufstehen vor einer Reise.
Mein Vater pflegte gern mitten in der Nacht loszufahren, um den langen Konvois in Richtung Ostsee, dem Thüringer Wald oder zu den anderen Urlaubsgebieten, in die wir schon gefahren waren, zu entgehen. Einen Wecker brauchte ich nicht. Ich wusste, dass mich meine Mutter wecken würde.
Es war das erste Mal, dass meine Schwester nicht mit uns reiste. Sie hatte seit ein paar Monaten einen Freund und beabsichtigte mit ihm an der Hohenwarte Talsperre zu zelten. Vater und Mutter knirschten zwar eine Weile mit den Zähnen, aber letztendlich mussten sie es akzeptierten. Schließlich war sie gerade Achtzehn geworden.
Für mich war es das letzte Mal, dass ich mit meinen Eltern in den Urlaub fuhr. Nach Ückeritz hatte ich praktisch keine Familie mehr.
Pünktlich um halb Vier stand meine Mutter an meinem Bett und strich mir sanft durch das Haar.
„Aufstehen Philipp. Es geht los!“
„Auf dem Rückweg halten wir in Berlin. Du hast es versprochen!“ Ich saß im Wohnzimmer am Esstisch meinem Vater gegenüber und beobachtete ihn.
Mehrere Tage musste ich darum betteln, meinen Vater dazu zu bewegen, sich mit seinem Trabi in diese Stadt hinein zu wagen. Er hasste große Städte und am meisten hasste er Berlin.
„Die Berliner sind unfreundlich, großmaulig und schnippisch“, pflegte er zu schimpfen, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot.
Ich wollte unbedingt in den Plänterwald. Ein Klassenkamerad, Kai Wagner, hatte davon geschwärmt, dass ich schon Tage vor der Abreise, jede Nacht von der Achterbahn im Plänterwald träumte.
„Wieso musst du unbedingt in diesen dämlichen Plänterwald?“, brummte mein Vater und spülte den Bissen Brötchen