Operativer Vorgang: Seetrift. Jo Hilmsen

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Название Operativer Vorgang: Seetrift
Автор произведения Jo Hilmsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847624295



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geben zu hören, den man kannte. Ich drehte lauter und lauschte gebannt. Ich weiß nicht, ob ich auch lauter gedreht hätte, wenn ich den Interviewten nicht gekannt hätte. Daniel klang sehr professionell, wie ich fand, so als würde er den lieben langen Tag nichts anderes machen, als Radiointerviews geben. Es war ein Telefoninterview und Daniels Stimme klang, als würde ich gerade mit ihm telefonieren. Unser letztes gemeinsames Telefonat war schon eine Weile her, und ich beschloss, ihn anzurufen, sowie wir zurück waren und ihm zu dem Interview zu gratulieren.

      In Oranienburg hielten wir bei McDonalds und bestellten per McDrive zwei Chickenburger, Chicken McNuggetts, dazu süß-saure Soße und Cola.

      Eigentlich verachtete ich Fastfood wie den bei McDonalds und die ganze Imageaufpoliererei von wegen Bio und so, war lächerlich, wie ich fand. Aber bei solchen Fahrten überkam es mich manchmal.

      Ich aß die beiden Chickenburger und fütterte Hannah mit den Nuggetts.

      Es war unglaublich warm. Ein Wetter zum Flanieren. Das Außenthermometer zeigte jetzt schon satte 17 Grad Celsius, dabei war es noch nicht einmal zwölf Uhr. Die Sonne auf meinem Kopf brannte regelrecht. Eigentlich müsste ich mir eine Mütze auf meine Fast-Glatze schieben, dachte ich, sonst lief ich noch Gefahr, mir einen Sonnenbrand oder einen Sonnenstich zu holen. Genauso gut könnte ich natürlich das Dach schließen, aber dazu hatte ich auch keine Lust.

      Solche Temperaturen Mitte November oder besser Ende Mitte November waren beängstigend. Ich bekam große Lust mit Hannah über die Klimaerwärmung zu sprechen und einer möglichen Eiszeit, aber ich wollte ihr den Spaß am Autofahren nicht verderben.

      Ich sah kurz zu ihr hinüber, stopfte ihr ein Nuggett in den Mund und stellte fest, dass sie jetzt schon ausgesprochen entspannt wirkte.

      Kurz hinter Oranienburg hörten wir Music for Egon Schiele von Rachel´s. Hannah mochte Rachel´s, und ich die Bilder von Egon Schiele. Besonders seine magersüchtigen Akte. Hannah hatte die Kassette ausgewählt.

      „Wollen wir Rachel´s hören?“ Das war mehr eine Feststellung, als eine Frage. Ich hatte jede Menge CDs im Auto. Aber Rachel´s war in Ordnung. Sehr ruhig.

      Seit 2000 stellte ich jedes Jahr eine CD für das Musikhören im Auto zusammen. Alle hießen: Mixed. Mixed 2000, Mixed 2001, Mixed 2002 und so weiter. Viele der Kassetten waren mit Songs von den Rolling Stones oder Pink Floyd bespielt, sehr häufig fanden sich darauf Radiohead oder Tom Waits oder Nirvana, aber auch Sometimes you can von U2 oder The Long Road von Eddie Vedder und Nusrat Fateh Ali Khan. Bisweilen versteckte sich sogar ein klassisches Stück zwischen den Titeln. So zum Beispiel Die Mondscheinsonate von Beethoven oder Bachs Suite D-Moll – Air.

      Hannah mochte meine Mixed-CDs nicht besonders. Sie meinte, meine Zusammenstellungen machten depressiv. Ich erwiderte, dass diese Ansicht typisch für eine Frau wäre, die als Psychologin in der Psychiatrie arbeitete, aber meinen Einwand ließ Hannah nicht gelten. Ich fand, dass Wild Horses von den Stones überhaupt nicht depressiv machte. Im Gegenteil. Meine Mixed 2006 war sogar ausgesprochen fröhlich. Grounding von Langoth war genauso aufmunternd wie Kids with guns von The Gorillas oder Mandy von The Spinto Band. Trotzdem mochte Hannah sie nicht besonders. Also hörten wir Rachel´s: Music for Egon Schiele und weil noch genügend Platz auf der selbstgebrannten CD war: Rachel´s Handwriting Ip. Ich fand ehrlich gesagt Rachel´s auch nicht gerade einen Schenkelklopfer.

      Zugegeben, die Zusammenstellung meiner Musik war manchmal in der Tat ein bisschen merkwürdig. Aber manche Jahre waren auch merkwürdig gewesen.

      Eine typische Hannah- Eigenschaft war, die Musik während der Autofahrt zu vergessen.

      Rachel´s Musik for Egon Schiele und Rachel´s Handwriting Ip würde bis Zinnowitz endlos spielen. Soviel war sicher. Irgendwann hörte sie wahrscheinlich nicht mehr hin und die CD begann von vorn. Es machte keinen Unterschied, ob wir drei oder dreißig Stunden für die Fahrt benötigten. Wir würden bis der Tank leer gefahren war, Rachel´s hören.

      Ich überließ mich meinen Gedanken und zählte die Kreuze am Fahrbahnrand.

      Auf den meisten standen nur die Vornamen der Verunglückten. Stephan, Mandy, Klausi, Claudia, Thomas. Darunter verschiedene Daten. Einmal war an einer verbeulten Leitplanke vor einer von Miniermotten befallenen Kastanie nur ein Datum gesprüht: 28.08.06

      Schwer zu sagen, ob da jemand tödlich verunglückt war, oder nur die Leitplanke zertrümmert hatte.

      „Mittlerweile ist fast die ganze B 96 mit Leitplanken flankiert“, sagte ich zu Hannah. „Ich finde, die Straße wirkt dadurch enger. Und außerdem wird durch die Leitplanken irgendwie der Charakter einer Allee zerstört. Findest du nicht auch?“

      Hannah war auf den Verkehr konzentriert. Seit zehn Minuten schlichen wir hinter einem Laster her, der für ALDI fuhr. Das Überholen war schwierig.

      „Kannst du mir eine Zigarette anzünden, Schatz?“

      Ich zündete Hannah eine Zigarette an und reichte sie ihr.

      „Hm, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“

      „Wenn jetzt jemand mit seinem Fahrzeug liegen bliebe, gäbe es sofort einen Stau. Man kommt ja nicht mehr von der Straße runter. Ich finde diese Leitplanken überflüssig.“

      „Ich auch.“

      Hannah schaltete in den vierten Gang runter und gab Gas. Der ALDI-Laster lag hinter uns, die Leitplanken-allee vor uns. Beim Überholen hatte ich ein Kreuz am Straßenrand nicht sehen können, ich sah nur einen Blumenkranz an einem Baum im Rückspiegel und zählte es trotzdem mit.

      Je weiter wir nach Norden kamen, umso zahlreicher wurden die Windräder. Manchmal waren es sogar mehr Windräder als Bäume oder Kühe.

      Hannah und ich hatten uns einmal unter einem solchen Windrad geliebt. Das war in der Nähe von Feldberg. Wir besuchten das Fallada-Haus in Carwitz und den Fallada- Friedhof und gingen dann im Hullerbusch spazieren. Hans Fallada hatte diesen Weg in mehreren Geschichten beschrieben.

      Es war betörend. Über uns rauschte das Windrad und gab einen merkwürdigen Ton von sich. Eine Art Pfeifen, als würde gleich eine Lunge zerplatzen. Hannah fand es toll.

      Danach schrieben wir unsere Namen wie Teenager mit einem schwarzen Edding auf eines der Rotorenblätter eines Windrades, was gerade zusammen montiert worden war, aber noch nicht aufgestellt.

      Ein paar Monate später, als wir nach unserem Windrad sehen wollten, standen an der gleichen Stelle so viele davon, dass wir beide nicht mehr genau sagen konnten, welches Windrad unsere Namen im Wind drehte.

      Überhaupt hatten wir uns am Anfang unserer Beziehung oft im Freien geliebt. Einmal an einem der Drei heiligen Pfuhle in Wandlitz oder auf einem Hügel in der Uckermark in der Nähe von Gerswalde – ich sehe noch die schottischen Kühe mit ihren langen braunem, zottigem Fell, ein paar Meter vor uns.

      Wir hatten uns am Wutzsee geliebt bei Lindow oder am Oder-Havel Kanal. Einmal sogar auf einem Waldweg unweit von Borgsdorf – zum Glück kamen keine Spaziergänger.

      Hannah öffnete einen Spalt breit das Fenster und warf ihre Kippe auf die Straße. Mein Wagen besaß keinen Aschenbecher. Ein Nichtraucherauto. Eigentlich eine Umweltsauerei, wozu Hannah da gezwungen war, dachte ich. Ich sollte einen Aschenbecher im Auto deponieren. Für Hannah.

      Geschlechtsverkehr hatten wir immer noch regelmäßig. Zwar nicht mehr so oft im Freien, aber regelmäßig.

      Hannahs und meine Interessen waren in vielen Punkten ähnlich. Hannah mochte Theater, ich mochte Theater. Am liebsten das BAT – die Probebühne der Schauspielschule Ernst Busch. Die Aufführungen waren gewissermaßen jungfräulich, die Schauspieler und Regisseure standen noch ganz am Anfang und waren bemüht alles zu geben, was sie geben konnten. Hannah mochte Kino, ich ebenfalls. Allerdings brauchte es immer eine Weile, bis wir uns auf einen Film einigen konnten. Zweimal im Jahr gingen wir zusammen in die Oper und ab und an in ein Konzert. Im November ins Mozart- Requiem, meistens. Ich las gern, sie ebenfalls. Bei mir war die literarische Palette