Operativer Vorgang: Seetrift. Jo Hilmsen

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Название Operativer Vorgang: Seetrift
Автор произведения Jo Hilmsen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847624295



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Steine hopsen zu lassen, wurde langweilig, als begab ich mich halbherzig auf Muschelsuche. Wegen des auflandigen Windes war das Ufer mit Muschelschalen übersät. Wenn man hin und herlief, knirschte es unter den Füßen. Ich wühlte ein paar Minuten in den Muschelkadavern, fand aber kein Exemplar, das es lohnte, aufzubewahren. Dann überlegte ich, baden zu gehen, aber da hätte ich mich danach erneut eincremen müssen. Auch dazu hatte ich keine Lust.

      Von irgendwoher kam Pfirsichduft und ein paar Sekunden später stand sie neben mir.

      „Hallo, Philipp. Du wartest, oder?“

      „Nein, ich suche Muscheln. Guck mal, die hier.“ Ich griff rasch wahllos in den Haufen Muschelkalk und schaffte es tatsächlich, eine besonders Schöne heraus zu puzzeln. Die legte ich Tanja in die Hand. Eine gewöhnliche Herzmuschel, die am oberen Rand eine rötliche Färbung trug.

      „Für mich?“

      Einen Moment lang war ich überfordert.

      „Ja.“

      „Danke!“ Tanja drehte die Muschel hin und her und hielt sie dann gegen die Sonne. Ich verfolgte ihre Musterung und war sprachlos. Diese Muschel war zwar schön, aber davon lagen hier bestimmt Hunderte im Sand.

      „Christiane und Johannes sind mit ihren Eltern nach Polen gefahren und Silvio hat einen üblen Sonnenbrand. Das wird wohl heute nichts mit dem Volleyball. Hast du vielleicht Lust auf einen Strandspaziergang?“

      Was für eine Frage! Ich schielte rasch zum Strandkorb meiner Eltern und registrierte, dass sie immer noch schliefen.

      „Natürlich.“

      „Wollen wir hier lang gehen oder in die andere Richtung?“ Sie zeigte in beide möglichen Richtungen. Rechts von uns spielten irgendwo die Nackten Volleyball. Dorthin wollte ich auf keinen Fall. Tanja hatte natürlich keine Ahnung von meiner merkwürdigen Vorstellung des Paradieses und nun musste ich zu meinem Entsetzen feststellen, dass wir uns quasi auf einer Insel befanden. Auf einer Textilinsel. Links und rechts umgeben von FKK-Stränden.

      „Ist egal.“ Das war es wirklich. Ich hatte keine Ahnung, wie ich diesen Spaziergang überstehen sollte. Und dabei gab es nichts Schöneres. Nichts!

      Wir schlenderten los. Tanja trug einen weißen Bikini, ich meine grün-schwarze Badehose, genäht an drei Winterabenden von meiner Großmutter, und das Led Zeppelin Nicki.

      Tanjas Brüste waren schon gut entwickelt. Ich schätzte ihr Alter auf Sechzehn.

      „Wie alt bist du?“, fragte ich und Tanja sah mich an.

      „Schätz mal.“

      „Sechzehn.“

      „Nein, ich bin Fünfzehn. Vor zwei Monaten geworden.“

      „He, da sind wir ja fast gleichaltrig. Ich werde in einem Monat Fünfzehn.“

      Bis jetzt lief alles wunderbar.

      Nach ungefähr 300 Metern baute sich vor uns ein in den Sand gerammtes Holzschild auf: FKK-Strand. Irgendjemand hatte eine kindliche Fratze darauf gemalt.

      Tanja zog plötzlich ihren Bikini aus, als wäre das Schild eine Aufforderung. Ein Muss!

      Sie war Fünfzehn. Gerade mal ein paar Monate älter als ich. Und nun hatte ich das Gefühl zu einem Kleinkind zu schrumpfen, und sie wuchs zu einer Riesin. Einer Riesin, die hundert Mal mehr Erfahrungen besaß als ich.

      „Das stört dich doch hoffentlich nicht“, leitete Tanja mein Martyrium ein. „Ich mag es, nackt am Strand herum zu laufen. Der Wind kitzelt so schön an den Brüsten.“

      Meine Kehle war ohnehin schon trocken. Jetzt fürchtete ich, dass nur noch Staub aus meinem Mund herausrieseln würde, wenn ich anfinge, zu sprechen. Sprechen? Keine Ahnung, wie sich da jetzt ein Ton formen sollte.

      Nicht für eine Million hätte ich meine Badehose ausgezogen. Nicht mal unter Folter. Ich wagte nicht einmal, mein Led Zeppelin Nicki mir leger über die Schulter zu legen. Es war lächerlich.

      Nichts, aber auch gar nichts, hätte verhindert, dass ich mich für alle Ewigkeiten blamiert hätte, hätte ich auch nur an meiner Badehose gezupft. Ich war mir absolut sicher, dass ich auf der Stelle eine Erektion bekommen hätte und alle Nudisten auf der ganzen Welt hätten sich vor mich hingestellt und solange gelacht, bis ich tot umgefallen wäre. Und allen voran Tanja. Da halfen nicht einmal hundert schlimme Gedanken an hunderte Jens Graichen. Schon jetzt versuchte ich krampfhaft an ihn zu denken und an die furchtbare Demütigung, als sein erster Schlag mein Auge traf, und ich beinahe zu Boden gegangen war.

      Erst zählte ich die Rillen auf meinem Zeigefinger, dann starrte ich auf meine Füße, aber Tanja kannte keine Gnade. Sie baute sich direkt vor mir auf und drehte sich einmal, zweimal im Kreis.

      „Findest du mich schön?“

      Sie war Fünfzehn, verdammt noch mal. Fünfzehn! Und sie gebärdete sich wie ein Model.

      Ich kaute an meiner Zunge herum und bemerkte, dass der Nagl meiner rechten Zehe an einer Ecke abgesplittert war. Gleichzeitig entschied ich, dass ich mir dringend meine Zehnägel schneiden sollte.

      Himmelnochmal, ich musste sie ansehen. Niemals wieder würde sie mit mir reden, wenn ich sie jetzt nicht ansah. Niemals wieder würde sie mit mir am Strand spazieren. Schon gar nicht nackt. Ich musste hochsehen. Ansonsten wäre mein ganzes Leben verdorben. Ich musste cool sein.

      Ihr gesamter Körper war kakaobraun. Es gab keine helle Stelle. Auch von ihrer Haut ging ein betörender Duft aus. Ihre Brüste waren die schönsten Brüste, die ich je gesehen hatte. Und das waren wegen meiner Fotosammlung nicht wenige. Die kleinen Löckchen zwischen ihren Schenkeln hatten eine ähnliche Farbe wie ihr duftendes Haar.

      Einen Moment überlegte ich, ob sie sich das Schamhaar mit dem gleichen Shampoo wusch, wie das andere. Aber dieser Gedanke musste schleunigst zum Nordpol.

      Was würde sie tun, wenn mir jetzt nur Staub aus der Kehle rieselte? Ich wollte etwas sagen, aber die Worte nahmen keine klangliche Gestalt an.

      „Du...“, stammelte ich schließlich. „Du bist ... wunderschön! Ehrlich.“

      Ich spürte, wie mir die Augen flackerten. Sofort musterte ich wieder meine Zehen. Heute Abend, beschloss ich, würde ich mir die Zehnägel schneiden. Nein, gleich nachher. Das heißt, wenn ich überlebte.

      Tanja wurde von Heiterkeitsglucksen geschüttelt. Ich glaube, sie wäre mir aus purem Vergnügen sogar um den Hals gefallen, hätte ich nicht so stocksteif dagestanden und mich vor allem mit Jens Graichen beschäftigt und meinen Zehnägeln. Dieser Rattenbesamer hatte das gar nicht verdient. Auch so ein Wort, das ich in einem Roman gelesen hatte. Rattenbesamer!

      Mein Wortschatz war restlos aufgebraucht. Ich konnte nur noch dämlich mit dem Kopf wackeln.

      Vielleicht merkte Tanja, dass sie mich überforderte. Oder sie hatte einfach Erbarmen mit mir.

      Sie lächelte, hielt noch einmal die Muschel gegen die Sonne und hüpfte um mich herum oder hielt kurz an und blickte zum Horizont. So, als würde sie nie etwas anderes tun, als den ganzen Tag nackt herum zu laufen.

      Zu meiner großen Erleichterung fiel sie nicht in ein schmollendes Schweigen, sondern plapperte munter drauflos.

      „Ich bin mit meiner Mutter und meinem Stiefvater hier. Meine Eltern haben sich scheiden lassen, da war ich Drei oder Vier.“ Ich nickte.

      „Aber er ist eigentlich ganz in Ordnung. Nur manchmal ist er ein bisschen komisch. Dann denke ich immer, er ist eifersüchtig. Besonders wenn ich mich mit Jungs treffe.“ Ich nickte.

      „Hast du eine Freundin?“ Ich schüttelte den Kopf.

      „Ich hatte vor ungefähr einem Jahr einen Freund. Aber der war irgendwie noch so ein richtiges Kind. Verstehst du, was ich meine?“ Ich nickte.

      Wir schwiegen eine Weile. Meine Kehle war noch immer so trocken wie die Wüste Gobi. Ich schöpfte mit den Händen Ostseewasser und wusch mir damit