Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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vom Latein absorbiert wurden) und einem „umgangssprachlichen Etruskisch“, während auf der Seite der high-varieties wohl vor allem zwei Sprachen zu verorten sind, nämlich Etruskisch als lokale Distanzsprache in Etrurien sowie Griechisch als quasi omnipräsente Adstratsprache und Distanzsprache von „internationaler“ Reichweite mit einem übergeordneten Prestige. Hinzu kommt nun an dieser Bruchstelle der Sprachgeschichte das nun nach und nach verschriftete Latein, welches sich aber wohl letztlich erst mit Beginn der literarischen Periode (Altlatein) und einer konzeptionell elaborierten Verschriftlichung den Status einer vollgültigen Distanz- und Prestigesprache erarbeiten kann.

      Betrachtet man nun die Frage nach dem Ausbaugrad des Lateins im Zuge der Konzeption von Kloss (1978, 1987), so ist zu konstatieren, daß sich das Latein, was die Schriftlichkeit anbelangt, zunächst nur in wenigen Diskurstraditionen bewegt, dort aber bereits einen beachtlichen Grad an sprachlicher Elaboriertheit aufweist. Steinbauer (1996:510–511), der das komplexe Bedingungssatzgefüge der Duenos-Inschrift analysiert,168 charakterisiert diese Tatsache sogar als „verblüffend“ und erklärt den scheinbar ebenfalls ex nihilo entstandenen komplexen juristischen Text des Zwölftafelgesetzes aus einer „vorhistorischen“ Fähigkeit,169 derartige Rechtsinhalte adäquat auszudrücken.

      Bei genauerer Betrachtung läßt sich jedoch relativ klar nachzeichnen, daß die ersten Schriftprodukte des Lateinischen im Rahmen von verschiedenen bereits etablierten Diskurstraditionen entstanden sind, es sich dabei jedoch um eine Verschiebung der Sprache und/oder von der Mündlichkeit zur konzeptionellen Schriftlichkeit vollzogen hat.

      Die wichtigsten Diskurstraditionen werden dabei von der im östlichen Mittelmeer und Vorderen Orient dominierenden griechischen Kultur übernommen, und zwar bereits vor der Zeit des Hellenismus, in der griechische Staaten politische Großmächte wurden. Es scheint wohl kein Zufall, daß der Beginn der griechischen Kolonisation (ab ca. 750 v. Chr.) mit dem Beginn der Schriftlichkeit in Italien zusammenfällt, denn der daraus entstehende Kultur- und Sprachkontakt ist in dieser Hinsicht entscheidend. Im Bewußtsein der Römer sind die Griechen nicht nur Nachbarn in der Magna Graecia (Μεγάλη ʾΕλλάς),170 sondern übergeordnete Referenzkultur mit dem Zentrum in Griechenland selbst; aber auch die Griechen selbst vereinnahmen Rom als πόλις ʾΕλληνίς (Herakleides Pontikos, Fr. 102) und sehen die Völker Italiens als Teil ihres Kosmos.

      Die Übernahme von Diskurstraditionen durch die Römer bzw. Latiner sei dabei zunächst anhand von zwei Beispielen der frühesten Schriftlichkeit illustriert: So zeitigt ein Tonkrug (Ende 7. Jh. v. Chr.) aus der latinischen Stadt Gabii die lateinische Inschrift salvetod Tita (‚zum Wohl/auf das Wohl von Tita‘), was im Zuge eines convivium wohl als an eine Frau gerichtetes Hochzeitsgeschenk zu interpretieren ist. Der Brauch des wohlmeinenden Grußes auf einem Trinkgefäß ist auch durch ähnliche griechische Funde in Lavinium und Rom dokumentiert, wobei die Aufschrift hier χαῖρε (‚seid gegrüßt‘) lautet. Auch wenn hier die Diskurstradition in ihrer konkreten sprachlichen Realisierung nur aus ein bis zwei Lexemen besteht, ist sie doch als eine solche anzusehen, da hier eine gewisse nicht zufällige Formelhaftigkeit im Sinne einer Wiedergebrauchsrede dokumentiert ist.

      Auch im Text der Inschrift des Duenos-Gefäßes, eines der ältesten Dokumente des Lateinischen, finden sich sprachliche Elemente, die auf eine griechische Vorlage deuten, und zwar gemahnt einerseits das duenos (lat. bonus) an die griechische Formel171 καλός καὶ ἀγαθός und die Zweigliedrigkeit der Konstruktion mit duenos …duenoi entspricht Verschriftungen auf griechischen Gefäßen mit καλός …καλῷ, und andererseits ist auch die Schlußformel ne med malos tatod an eine ähnliche apotropäische bei griechischen Funden angelehnt (zu den Exempla cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:97–98).

      Bezüglich des ersten längeren und bereits elaborierten Text, des Zwölftafelgesetzes, verweist die römische Tradition der Entstehung selbst explizit darauf, daß man sich bei der Konzeption von Gesetzestexten verschiedener griechischer poleis hat inspirieren lassen, insbesondere von denen Solons in Athen, zu welchem Zweck vom Senat eine Zehnmännerkollegium (decemviri) ausgesandt wurde. Auch sprachlicher Einfluß wie die lexikalischen Entlehnungen dolus (δόλος) oder poena (ποινή) sowie syntaktische Übereinstimmungen dokumentieren das diskurstraditionelle Vorbildmodell im griechischen Kulturraum.

      Da es sich bei den genannten Beispielen, auch denen aus den frühen Inschriften, keinesfalls um zufällige sprachliche Übereinstimmungen handelt, sondern um tragende Versprachlichungsstrategien bestimmter Kommunikationsformen (cf. die Exempla supra), ist es hier durchaus legitim, von der Übernahme von Diskurstraditionen zu sprechen. Der dafür notwendige Kultur- und Sprachkontakt im Sinne einer Prämisse für die Tradierung von Diskurstraditionen läßt sich insofern belegen, als das Griechische nicht nur an sich früher verschriftet (und verschriftlicht) wurde, sondern auch in Latium die griechischen Schriftzeugnisse vor den lateinischen nachweisbar sind, so z.B. in Gabii (1. Hälfte 8. Jh. v. Chr.) und auch in Rom selbst (7. Jh. v. Chr.), aber auch rein sprachlich gesehen an den Gräzismen, die schon in der ersten lateinischen Dokumenten auftreten (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:98–99).172

      Ein anderer Entstehungsstrang der frühen lateinischen Zeugnisse ist auf italische bzw. italisch-etruskische Diskurstraditionen zurückzuführen. Für den Bereich des Rechts, der erstmals in den genannten 12 leges seinen Niederschlag fand, ist eine von Rechtsformeln- und -verfahren bestimmte mündliche Diskurstradition zu konstatieren, die lateinischen bzw. italischen Ursprung hat. Dies ist u.a. an der Etymologie und Verwendungsweise einzelner Fachtermini ersichtlich. Das mündliche Element der lateinischen Rechtsprechung schwingt in Lexemen und Ausdrücken wie ius dicere, testamentum nuncupare, provocatio, appellatio oder advocatus mit sowie in solchen, die die Gestik zum Gegenstand haben, wie z.B. manu missio. Diese „versteckte“ Mündlichkeit läßt auf eine Rechtstradition mit festgelegten Verfahren und sprachlichen Formeln schließen, die bereits vor der Schriftlichkeit existiert haben, dann aber in den Verschriftlichungsprozeß miteingeflossen sind (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:205–206).

      Eine weitere Art der diskurstraditionellen origo der lateinischen Schriftlichkeit ist im religiös-rituellen Bereich der italischen Kultur zu verorten, und zwar im carmen. Diese Art des Gebets besteht üblicherweise aus einem rezitativ-rhythmischen Gesang, der mit einer Prozession oder Tanzdarbietung einhergeht. Auch hier liegen die Wurzeln in der Mündlichkeit, wobei hier von einer „distanzsprachlichen, elaborierten Mündlichkeit“ (Koch/Oesterreicher 1985:31) auszugehen ist,173 die einerseits fortgeführt wird, andererseits aber auch der schriftlichen Fixierung unterliegen kann (cf. carmen Arvale, carmina salinaria, carmen von Livius Andronicus an Iuno regina, v. infra) (cf. Gärtner 1990:101; Poccetti/Poli/Santini 2005:215–217).174

      Ebenfalls im religiösen Bereich anzusiedeln ist der im etruskischen, samnitischen und römischen Umfeld anzutreffende Brauch der libri lintei (nicht erhalten), listenartige Zusammenstellungen der Amtspersonen sowie weitere kurze Ausführungen, die die Grundlage der späteren Annalistik bildeten. Die tabulae Iguvinae (6.–1. Jh. v. Chr.)175 enthalten Sühne- und Reinigungsformeln, stehen also auch in einem Kontext einer etruskisch-italischen Diskurstradition bezüglich religiöser, ritualisierter Texte, die zunächst mündlich (z.B. pompa funebris), später schriftlich konzeptionalisiert wurden (zu den Exempla cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:219; Albrecht 2012 I:314–315).176

      Resümiert man nun noch einmal die Frage nach dem Ausbau des Frühlateins, so ist festzustellen, daß die ersten Zeugnisse zum einen nur bestimmte Bereiche mit spezifischen Textsorten abdecken (Jus: Gesetztestexte; Religion: Weihegeschenke, Grabinschriften, Kultlieder), andererseits dort aber partiell bereits einen gewissen Grad an Elaboriertheit erreicht haben, der sich auf der Übernahme von schon vorhandenen Diskurstraditionen gründet, und zwar mündlichen wie schriftlichen, etruskisch-italischen und auch griechischen.

      Charakteristisch für die Frühzeit ist also parallel zu den Prozessen die Koch/Oesterreicher (2011:136) in Anlehnung an Kloss für die romanischen Sprachen herausgearbeitet haben, die Erarbeitung erster Distanzdiskurstraditionen im Rahmen eines extensiven Ausbaus der Sprache und dem damit verbundenen intensiven