Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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und nach die Muttersprache zahlreicher bis dato anderssprachiger Ethnien. Die Akkulturation und Latinisierung vollzieht sich in den verschiedenen Regionen unterschiedlich schnell, auch abhängig vom Grad der Verwandtschaft der jeweils betroffenen Sprache sowie von ihrem Prestige und der reinen Anzahl der Sprecher.

      So ist das am nächsten verwandte Faliskische relativ bald ausgestorben (ca. 2.–1. Jh. v. Chr.) bzw. nicht mehr vom Latein zu differenzieren.181 Auch das kaum dokumentierte Sabinische, welches in Rom und vor den Toren Roms gesprochen wurde und maßgeblichen Einfluß ausübte, hörte vermutlich im 2.–1. Jh. v. Chr. auf zu existieren bzw. wurde zunehmend latinisiert (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:67).182 Ähnlich erging es anderen angrenzenden Völkern wie den Volskern, Äquern oder Aurunkern. Für diese Nachbarn kann man eine Phase des Bilingualismus postulieren, der zumindest teilweise diglossischen Charakter hatte, insofern Latein mit zunehmenden Prestige als high-variety funktionierte.

      Ein wenig anders gelagert ist die Situation für das Oskische, welches ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Kultursprache war (z.B. Atellane, v. infra). So sind Inschriften aus Pompeji und Herculaneum belegt, woraus man eine Vitalität der Sprache zumindestens bis ins 1. Jh. n. Chr. postulieren kann. Von Ennius ist überliefert, daß er Oskisch, Latein und Griechisch sprach (cf. Knobloch 1996:25).183 In Süditalien waren dabei alle drei Idiome beheimatet und damit auch Sprachen des täglichen Gebrauchs, wobei schriftsprachlich Griechisch zusätzlich als high-variety einzustufen ist, und zwar deshalb, weil sie als Sprache des Handels, der Kultur sowie allgemein als meist verbreitete Schriftsprache fungierte.

      Eine Kultursprache war auch das Etruskische, welches in der Frühphase Roms aufgrund seiner politischen und kulturellen Dominanz ein wichtiges Element in der römischen Kultur wurde und auch sprachlich vielfältige Spuren (Lexikon, Akzentsetzung) im Lateinischen hinterlassen hat (cf. Knobloch 1996:27). Nichtsdestoweniger wurde das Etruskische durch das Lateinische abgelöst, in Resten existierte es wohl bis ins 1. Jh. n. Chr. (cf. Willms 2013:212) – letzte Inschriften ca. 1. Jh. v. Chr. (cf. Haarmann 2004:66) –, so daß eine relativ lange Phase der Zweisprachigkeit anzusetzen ist.184 Das Etruskische weist zwar nachweislich einige Entlehnungen aus dem Griechischen auf und die Übernahme der Schrift deutet auf eine zumindest in der Oberschicht verbreitete Kenntnis des Griechischen; es scheint aber zweifelhaft, ob die gleiche Art der Diglossie wie für die Kontaktkonstellation Latein-Griechisch anzusetzen ist.185

      Die anderen Sprachen Italiens wie das Keltische, das Umbrische, das Messapische oder das Venetische sterben wohl im 1. Jh. v. Chr. aus. Auch für diese Substratsprachen ist eine gewisse Phase des Bilingualismus anzunehmen, bis sich der Sprachwechsel zum Latein vollzogen hat; wie dieser im Detail verlaufen ist, läßt sich mangels Belegen jedoch nur schwer nachvollziehen.

      Dabei besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen den italischen Substratsprachen und den vorindogermanischen Substraten. Insbesondere das nah verwandte Faliskisch, aber auch die relativ nah verwandten Sprachen Oskisch, Umbrisch oder Sabinisch wurden in den Varietätenraum des Lateinischen integriert, d.h. dialektisiert. Inwieweit das auf entfernter verwandte indogermanische Sprachen wie Keltisch, Venetisch oder Messapisch zutreffen würde, sei dahingestellt (cf. Krefeld 2003:558).186 Sicherlich nicht möglich ist diese Form der sprachlichen Vereinnahmung beim Etruskischen, Ligurischen oder anderen altmediterranen Sprachen.

      Die Phase des Altlateins ist auch die Periode, in der das Latein nach und nach zur high-variety wird, zumindest für weite Teile der Bevölkerung Italiens. Dieser Status ist zunächst vor allem auf die politische Expansion zurückzuführen und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Dominanz der römischen Verwaltung und Kultur.

      Im Bereich der Schriftlichkeit mußte sich das Latein erst nach und nach den Status einer Ausbau- und Literatursprache erarbeiten und war in der Anfangsphase stark vom übermächtigen griechischen Vorbild abhängig. Erst allmählich zeitigte der Ausbau des Lateinischen Wirkung und das Lateinische konnte sich zumindest partiell emanzipieren, brachte eigene Diskurstraditionen hervor bzw. deckte zunehmend verschiedene Bereiche der distanzsprachlichen Kommunikation (schriftlich wie mündlich) ab.

      Am Beginn der lateinischen Literatur im engeren Sinne stand der Wille, sich aus staats- und kulturpolitischer Räson zu positionieren, und so griff man auf das prestigereichste Vorbild zurück und dies war zu jener Zeit die griechische Literatur. Was die Textgattung anbelangt, so wählte man zunächst das Genus mit der höchsten Dignität, nämlich das Epos, und formte es nach eigenen Zwecken um (v. supra Livius Andronicus). Die nicht viel minder geschätzte Tragödie wurde nach dem gleichen Prinzip vereinnahmt (v. supra Livius Andronicus, Naevius, Ennius), findet jedoch insbesondere in der Form der Prätexta (fabula praetexta), in der die eigene römische Historie thematisiert wird, ihre eigene Ausprägung. Die Gattung der Komödie (cf. Caecilius Statius (†168), Plautus, Terenz) hingegen speist sich aus verschiedenen Vorläufern. Neben der klassischen griechischen Komödie (z.B. Aristophanes) und vor allem der Neuen Komödie, der Néa (cf. Menander, Μένανδρος, 342/341–290 v. Chr.), die in ihrer spezifisch römischen Ausformung, aber mit griechischem Bezug, zur Palliata führte, standen der aus der dorischen Volksposse entstandene sizilische Mimus mit Stegreifscherzen (paígnia) Pate sowie in Unteritalien die Phylakenposse (Götterburlesken, Mythentravestien) und die oskische Atellane (fabula Atellana, cf. Atella bei Neapel). Aus diesen komödiantischen Elementen sowie aus Spottliedern bei Triumphzügen (carmina triumphalia) aus heimischen Scherz- und Scheltreden (iocularia fundere), aus obszönen falisikischen Wechselgesängen (fescennina, cf. Fescennium in Etrurien), die ebenfalls zur Entstehung der Komödie, teilweise auch des Dramas beitrugen, begründet sich aber auch die bei den Römern hochgeschätzte Satire (satura), wie sie in der Frühzeit Lucilius (Gaius Lucilius, 180/157–103/102 v. Chr.) vertritt (cf. Baier 2010:37–39, 45–47).

      Hebt man nun diese Anfänge römischer Literaturproduktion auf die diskurstraditionelle Ebene, so ist deutlich nachzuvollziehen, wie das Lateinische in für diese Sprache neue Diskurstraditionen vordringt, diese besetzt und dabei variiert bzw. auch neue ausbildet (z.B. Satire, Palliata). Neben den dominierenden griechischen Diskurstraditionen tragen dabei auch indigen latinische, faliskische, oskische und womöglich auch etruskische187 dazu bei (v. supra), daß bestimmte römische Genera entstehen und das Lateinische dort wie auch in den bereits für andere Sprachen etablierten seinen Platz findet. Durch die Übernahme dieser Diskurstraditionen und die steigende Textproduktion im Rahmen derselben wird zweifelsohne auch der sprachliche Ausbau vorangetrieben, da es gilt, neue Formen und Inhalte zu versprachlichen.188

      Eine weitere Diskurstradition, in der das Lateinische Fuß faßt, ist die der Geschichtsschreibung. Hierbei sind im Wesentlichen zwei Entstehungsstränge auszumachen, und zwar einerseits die ca. ab dem 4. Jh. in Rom übliche Praxis, daß der pontifex maximus die wichtigsten Ereignisse (z.B. Amtsinhaber, Prodigien, Getreidepreis, Mond- u. Sonnenfinsternis) jahreschronologisch aufzeichnen ließ und auf Tafeln in der regia ausstellte sowie andererseits die bereits in vielen Facetten etablierte griechischen Historiographie. Aus der Tradition der Annales entstand somit die annalistische Geschichtsschreibung, deren Werke nach Amtsjahren der einzelnen Konsuln von Beginn der Stadtgründung bis zur Abfassungszeit geordnet war (cf. Ogilivie 1983:18–19; Brodersen/Zimmermann 2000:33). Die Umsetzung der römischen Chronologie – gesammelt als 80 Bücher in den Annales Maximi bis 133 v. Chr. – in ein Geschichtswerk wurde jedoch zu Beginn auf Griechisch geleistet, um einen größeren Leserkreis zu erreichen, so beim ersten Annalisten Fabius Pictor (Quintus Fabius Pictor, ca. 254–201 v. Chr.) in seinem Werk Rhomaíon Práxeis. Erst danach setzt sich in der sogenannten Älteren Annalistik das Lateinische durch und wird wie bei C. Hemina (Lucius Cassius Hemina, 2. Jh. v. Chr., Annales), Cn. Gellius (Gnaeus Gellius, 2. Jh. v. Chr.), Calpurnius Piso (Lucius Calpurnius Piso Frugi, 2. Jh. Chr.), Asellio (Sempronius Asellio), Coelius Antipater (Lucius Coelius Antipater, ca. 180–120 v. Chr., Bellum Punicum) oder C. Sisenna (Lucius Cornelius Sisenna, 118–67 v. Chr., Historiae) zur Sprache der Historiographie. Eine andere Art von Geschichtsschreibung wird das erste Mal auf Latein von Cato d.Ä. praktiziert (cf. brevitas Catonis), der mit seinen Origines an die hellenistische Textgattung der Gründungssage (κτίσεις) anknüpft (cf. Flach 1985:56–79; Baier 2010:81–84;