Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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Keos (Σιμωνίδης, 557/556–468/467 v. Chr.) zurückgeführt wird und auf Latein erstmals von Catull gepflegt wird, dann aber vor allem bei Martial in seinem Epigrámmaton liber (Liber spectaculorum) variantenreich zur Geltung gebracht wird. In dieser Kurzform, die ursprünglich als elegisches Distichon realisiert wird, bei Martial aber auch metrisch variieren kann,200 wird auf eine Pointe abgezielt, die alle Bereiche der conditio humana mal spöttisch, mal kritisch geistreich auf den Punkt bringt (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:194–195; Albrecht 2012 I:281–282).

      Nach dem Vorbild der eidýllia (aus dem Corpus Theocriteum) des sizilianischen Dichters Theokrit (Θεόκριτος, 1. Hälfte 3. Jh. v. Chr.) bringt der in Bezug auf seine Nachwirkung womöglich bedeutendste Dichter der römischen Antike, Vergil (Publius Vergilius Maro, 70–19 v. Chr.), in seinen in Hexameter gedichteten Bucolica (Eclogae) die bukolische Lyrik in die römische Literatur. Ein Epigone Vergils in späterer Zeit ist beispielsweise Calpurnius Siculus (Titus Calpurnius Siculus, 1. Jh. n. Chr.) mit den von ihm verfaßten Eklogen, wobei bei ihm teilweise Hirtenpoesie und Herrscherpanegyrik vermischt werden (cf. Kleine Pauly 1964 I:1026).

      Eine lyrische Sammlung mit Gedichten zu verschiedenen Anlässen und in unterschiedlicher Form stellen die Silvae des Statius (Publius Papinius Statius, 40/50–95 n. Chr.) dar. Die auch als „Gelegenheitsgedichte“ apostrophierten Verse thematisieren öffentliche (Panegyrikon) wie private Anlässe (Hochzeit, Trauer, Trost, Geburtstag) oder enthalten Kunst- und Baubeschreibungen (Ekphrasis) (cf. Baier 2010:77–78).

      An der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Poesie ist das Lehrgedicht anzusiedeln, welches zwar mit den Ἒργα καὶ Ἡμέραι Hesiods (Ἡσίοδος, ca. *700 v. Chr.) einen fernen Vorläufer hat, aber erst im Hellenismus seine eigentliche Form findet, die dann vor allem durch Lukrez (Titus Lucretius Carus, 96–53 v. Chr.) in seinem sechs Bücher umfassenden Werk De rerum natura erstmals in lateinischer Sprache ausgearbeitet wurde (in Hexametern). Ähnlich wie Horaz ist sich Lukrez bewußt, daß er mit seinem physikalischen Lehrgedicht, in dem er auch zum Vermittler epikureischer Philosophie in Rom wird, neue Wege beschreitet, ganz im Sinne der neoterischen Bewegung (I, 926–927). Dabei weist er explizit auf die sprachliche Armut des Lateins hin, welches im Vergleich zum Griechischen eigentlich noch nicht ausgebaut genug ist, um ein derartiges Unterfangen möglich zu machen – insofern ist es also eine Pionierleistung. Unzweifelhaft an Hesiod knüpft die Georgica Vergils an, in der der Dichter seine Sicht des idealen Lebens in moralischer Hinsicht (labor improbus) und ganz konkret in Bezug auf das gelobte Landleben (Ackerbau, Baum- und Weinkultur, Viehzucht, Bienenhaltung) in hexametrischer Form ausbreitet (cf. Baier 2010:27–36).

      Eine Mischung aus klassischem griechischem Epos, der Kurzform des Epyllion und der des Lehrgedichtes sind die Werke Ovids. In seinen Metamorphoses greift er sowohl auf die Tradition der ätiologischen Dichtung zurück (v. supra) als auch auf die der Verwandlungssagen wie in den Ἑτεροιούμενα Nikanders von Kolophon (Νίκανδρος ὁ Κολοφώνιος, 3./2. Jh. v. Chr.), während er in den Fasti die Ereignisse des römischen Festtagkalenders literarisch überhöht (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:194–195; Baier 2010:34–35).

      Neu in der Klassischen Periode ist außer dem Aufkommen der verschiedenen Formen der Lyrik auch die Textgattung des Romans201 bzw. der längeren, komplexen Prosaerzählung, die in dieser Zeit erstmals in lateinischer Sprache auftritt. Romanhafte Vorstufen sind in der Ἀνάβασις Xenophons (Ξενοφῶν, ca. 430–350 v. Chr.) oder den Berichten des Ktesias (Κτησίας, ca. um 400 v. Chr.), der Περσικά oder der Ἰνδικά, zu sehen, doch erst in hellenistischer Zeit bildet sich diese Erzählgattung im griechischen Raum vollständig heraus, so beispielsweise bei Iambulos (Ἰαμβοῦλος, 3. Jh. v. Chr.) oder Chariton von Aphrodisias (Χαρίτων Ἀφροδισεύς, 1./2. Jh. n. Chr.). Römische Adaptionen gibt es nur wenige, doch haben sie allesamt eine nicht unbedeutende Nachwirkung entfaltet. Dabei sind vor allem aus sprachlicher Sicht als wichtige Quelle substandardlichen Lateins die Satyricon libri des Petron (Gaius/Titus Petronius Arbiter, †66 n. Chr.) zu nennen, und zwar insbesondere der dort enthaltene Part des Gastmahl des Trimalchio (cena Trimalchionis). Hier knüpft der Autor explizit an seine hellenistischen Vorläufer an, insofern er einerseits griechische Reiseromane parodiert und andererseits formal an die Menippeische Satire anknüpft, indem er sowohl Vers als auch Prosapassagen verwendet (prosimetrum). Ebenfalls in die Reihe der romanhaften Darstellungen gehört der Eselsroman (Metamorphoseon libri XI) des Apuleius (ca. 125–170 n. Chr.), der in sich wiederum verschiedene Elemente anderer Gattungen wie die des Märchens (Amor und Psyche) oder der Milesischen Novelle enthält sowie Aspekte der platonischen Philosophie. Anknüpfend an den populären Stoff der Eroberungsfeldzüge Alexander d. Großen (336–323 v. Chr.) verfaßte Curtius Rufus (Quintus Curtius Rufus, 1. Jh. v. Chr.) eine Alexandergeschichte (Historiae Alexandri Magni Macedonis), basierend u.a. auf den sogenannten Alexanderhistorikern Ptolemaios (Πτολεμαῖος, 366–283 v. Chr.) und Kleitarch (Κλείταρχος, 4. Jh. v. Chr.), mit teilweise moralisierendem Unterton – Alexander als Gegenbild römischer Tugenden, der getrieben von Affekten und mit Maßlosigkeit agiert (cf. Baier 2010:96–101).

      Eine andere neue Textgattung, die in der klassischen Zeit erstmals für das Lateinische erschlossen wird und damit das Spektrum des diskurstraditionellen Ausbaus vergrößert, ist der Brief, nicht so sehr als Gebrauchstext, sondern vielmehr als literarische, für die öffentliche Rezeption bestimmte Form.202 Auch hier gibt es griechische Vorbilder wie die Lehrbriefe Epikurs (Ἐπίκουρος, 342/341–271/270 v. Chr.) als spezifische Ausformung der Gattung, an die Seneca (Lucius Annaeus Seneca, ca. 1–65 n. Chr.) mit seinen Epistulae morales ad Lucilium anknüpft. Frühester römischer Gebrauch ist jedoch bei Cornelia, der Mutter der berühmten Volksstribunen Tiberius und Gaius Gracchus bezeugt (Quint. I, 1, 6). Die wichtigsten Korpora von Briefen, die literarisch über die Antike hinausgewirkt haben, sind diejenigen von Cicero (Ad familiares, Ad Atticum, Ad Quintum fratrem) und von Plinius d.J. (Gaius Plinius Secundus, 61/62–112/113 n. Chr.), die auch sprachlich insofern bemerkenswert sind, als die ciceronischen mitunter stilistisch stark von seinem sonstigen elaborierten Duktus abweichen und als Quelle für vulgärlateinische Phänomene gelten, während die Episteln des Plinius eine elaborierte Kunstform in verschiedenster Ausprägung darstellen (Ekphrasis, Essay, Panegyrikon) und als einzige die Forderungen nach der brevitas und der Monothematizität weitgehend einlösen. Während diese beiden Autoren die Briefe in Prosa abfaßten, waren die Epistulae des Horaz, in denen auch die Ars poetica enthalten ist, in hexametrischen Versen abgefaßt und demnach ab ovo für die Publikation bestimmt (cf. Baier 2010:101–104; Albrecht 2012 I:430–435).

      Die römische Literatur wird hierbei um eine neue Gattung bereichert, indem auf verschiedene Spielarten einer Textsorte zurückgegriffen wird (Privatbrief, Lehrbrief, öffentlicher Brief, essayistischer Brief etc.), der partiell zwar in der griechischen Literatur (und auch in anderen Kulturkreisen) bereits vorgegeben ist. Von den Römern wurde sie aber weiter ausdifferenziert und zu einem festen neu interpretierten Bestandteil der literarischen Ausdrucksmöglichkeiten wurde, wobei aus diskurstraditioneller Perspektive das Lateinische in einen weiteren Bereich vorrückt, der Ausbau der Sprache durch die neuen Arten der Versprachlichung vorangetrieben wird.

      Die bereits in altlateinischer Zeit sich herausbildende Tradition der Rhetorik bzw. der öffentlichen Rede bei den Römern wurde in der klassischen Periode nun auch schriftlich fixiert, und zwar sowohl in Form von Lehrbüchern bzw. Anleitungen zur richtigen Anwendung rhetorischer Ausdrucksmittel und Verhaltensweisen als auch durch konkret gehaltene oder zu haltende Reden. Diesbezüglich ist vor allem Cicero zu nennen, der nach der ersten – ihm nur zugeschriebenen – Rhetorik Auctor ad Herennium die Werke De oratore, Brutus und Orator verfaßte. An konkreten Reden seien auswahlweise nur Pro Sexto Roscio Amerino, Divinatio in Q. Caecilium, Pro Marcello, Pro Ligario und Pro rege Deiotaro, genannt. Wegweisend im Bereich der Rhetorik ist außerdem Quintilian,