Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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Die Periodisierung

      Bevor nun die hier zentrale Frage nach den Varietätendimensionen des Lateins aufgegriffen wird, sei zuvor noch kurz ein Überblick über die Periodisierung der Sprache in historischer Zeit gegeben und damit auch gleichzeitig die historische Dimension des Lateinischen hervorgehoben. Die verschiedenen Epochen der lateinischen Sprachgeschichte seien mit geringen Abweichungen im Wesentlichen nach dem verbreiteten Periodisierungsmodell von Meiser (2010:2, § 2) dargestellt (cf. Steinbauer 2003:509–514; Michel 2005:183–184; Müller-Lancé 2006; 21–45; Willms 2013:223), welches zwar vor allem auf syntaktischen und stilistischen Veränderungen basiert (cf. Willms 2013:223), sich damit aber auch mit den traditionellen literarischen Epochen in Einklang befindet, so daß hier kanoniserte Periodisierung mit einigen linguistischen Fakten untermauert wird. Bei anderen mehr oder weniger stark davon abweichenden Modellen ist meist insbesondere die Periode des klassischen Lateins zeitlich divergierend verortet, d.h. über das augusteische Zeitalter hinaus bis ins 3./4. Jh. n. Chr. (cf. Weiss 2009:23) oder gar bis um 400 n. Chr. (cf. Dietrich/Geckeler 2007:130 bzw. Coseriu 1987:264) ausgedehnt.

      Die Frage, ab wann das Spätlatein einerseits in das Romanische und andererseits ins Mittellatein überging, ist wiederum eher Gegenstand einer anderen Diskussion, die vornehmlich die Romanistik und Vulgärlateinforschung beschäftigt (cf. Kap. 4.2).

      4.1.1.1 Frühlatein

      Die erste Phase der lateinischen Sprachgeschichte wird meistens als ‚Frühlatein‘160 bezeichnet und umfaßt die Zeit von den ersten schriftlichen Zeugnissen bis zum Beginn der literarischen Textproduktion, woraus sich eine Datierung vom ca. 7./6. Jh. – 240 v. Chr. ergibt. Voraussetzung für die Verschriftung des Lateins war die Übernahme der Alphabetschrift von den Etruskern, deren Schriftsystem wiederum auf ein westgriechisches zurückgeht, nämlich das euböisch-chalkidische (cf. Aigner-Foresti 2003:18; Haarmann 2004:66). Die Übernahme des etruskischen Alphabets durch die Römer und dessen Weiterentwicklung auch unter direktem griechischen Einfluß (cf. Brekle 1994:185) zu einem eigenen lateinischen Alphabet, welches der zu verschriftenden Sprache möglichst gerecht wird, ist dabei eine kaum zu unterschätzende Kulturleistung für die westliche Welt, wenn man aus einer ex post-Perspektive die heutige Verbreitung dieser Alphabetschrift und die damit geschaffene Literatur und ihre Verwendung bei Gebrauchstexten betrachtet.

      Die ersten Inschriften sind oft in scriptio continua, links- oder rechtsläufig, verfaßt – manche auch boustrophedon – und zeugen von einer Entstehungsphase vor der orthographischen Normierung, d.h. z.B. Verwendung von Buchstaben wie z oder k und Schriftzeichen, die eher als griechisch oder etruskisch zu klassifizieren sind (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:191–192; Brekle 1994:185). Zu den wichtigsten frühen Dokumenten in lateinischer Sprache werden mit stark schwankender Datierung üblicherweise die folgenden gerechnet: die Manios-Spange (Fibula Praenestina, 7. Jh. v. Chr.),161 die Duenos-Inschrift (2. Viertel 6. Jh. v. Chr.) auf einem Drillingsgefäß, der Lapis Satricanus (6. Jh. v. Chr.), die Altarbasis von Tibur (6. Jh. v. Chr.), die Madonetta von Lavinium (Bronzeplatte, 6. Jh. v. Chr.), das Gefäß von Ardea (2. Hälfte 6. Jh. v. Chr.), der Lapis Niger (ca. 1. Viertel 6. Jh. v. Chr.),162 die Cista Ficoroni (cista aus Bronze, 315 v. Chr.) und das Scipionenelogium (Grabinschrift der Scipionen, Ende 3. Jh. v. Chr.) (Schmidt 1996:3; Meiser 2010:2–9, § 2–5).163

      Ein wichtiges, aber nicht unproblematisches Zeugnis des Frühlateins ist das Zwölftafelgesetz (Leges duodecim tabularum), der erste längere zusammenhängende Text des Lateinischen. Ursprünglich auf Bronzetafeln festgehalten, die auf der Rednerbühne (rostra) vor dem Senatsgebäude (curia) am Forum Romanum aufgestellt waren, wurden sie womöglich im Zuge der Gallierkatastrophe (dies ater von 387 o. 390 v. Chr.) zerstört. Die uns überlieferten Textpassagen (Paraphrase oder Zitat), wie sie beispielsweise in Werken Ciceros (Marcus Tullius Cicero, 106–43 v. Chr.; De re publica, De legibus) und anderen Autoren zu finden sind, wurden partiell „modernisiert“, d.h. dem jeweiligen Sprachstand angepaßt, wodurch sie als Referenz für die Frühzeit nur eingeschränkten Wert haben (cf. Palmer 1990:67; Steinbauer 2003:511).

      Ebenfalls nur indirekt überliefert sind die rituellen Gesänge der carmina salinaria und des carmen arvale. Letzteres ist ein altes Kultlied, welches die Priesterkooperation der fratres Arvales zu Ehren des Kultes der Dea Dia am 2. Festtag sang bzw. aufführte (Tanz mit Dreischritt). Überliefert ist es dank des Brauches der Bruderschaft (12 Mitglieder), Acta zu führen, so daß es in einer Inschrift auf Marmor aus dem Jahre 218 v. Chr. erhalten ist, die wahrscheinlich aber eine Kopie einer älteren Vorlage darstellt; die Sprache ist so archaisch, daß sie in historischer Zeit bereits nicht mehr verstanden wurde (cf. Kleiner Pauly IV:1511). In gleicher Weise unverständlich, auch den Priestern selbst, waren die carmina salinaria (cf. Quintilian, Inst. orat. I, 6, 40; 2001 I:180), die von den salii zu Ehren des Mars und Quirinus gesungen wurden und nur in verschiedenen späteren Fragmenten erhalten sind (cf. z.B. Varro, De ling. lat. VII, 26, 27; 1958 I:292–294).164

      Das für uns in Dokumenten faßbare Latein der Frühzeit und die Umstände seiner Entstehung sind vor dem Hintergrund der kulturellen Vielfalt und des Austausches innerhalb der italienischen Halbinsel bzw. kleinräumiger gesehen am Unterlauf des Tibers zu betrachten. Hier entsteht eine pluriethnische Gesellschaft, bestehend aus zu dieser Zeit autochthonen Elementen wie der faliskischen Kultur, der sabinischen, etruskischen und schließlich der latinischen sowie aus kolonialen wie der griechischen und phönizischen Kultur. In diesem Umfeld entsteht und formt sich die lateinische Sprache im Sprachkontakt mit ihren Nachbarn, bevor sie sich zur koiné Italiens und der westlichen Welt entwickelt:

      Die ‚Herausbildung‘ des Lateins der Stadt Rom (so wie parallel dazu der verschiedenen lokalen Varietäten des Lateins außerhalb Roms) schon in archaischer Zeit ist daher das Ergebnis eines sprachlich-kulturellen Pluralismus […]. (Poccetti/Poli/Santini 2005:65)

      Diese Durchdringung der einzelnen Kultur- und Sprachgemeinschaften zeigt sich beispielsweise daran, daß man sowohl etruskische Inschriften auf latinischem Gebiet gefunden hat (in Roma, Praeneste, Satricum), als auch lateinische (Tita Vendia-Vase in Caere) und altitalische (Setums-Krater in Tolfa) auf etruskischem Territorium sowie griechische (Gabii) und phönizische (Caere-Pyrgi) in beiden Regionen.165 Weitere Indizien für die Kohabitation der Kulturen sind z.B. die etruskische tessera hospitalis aus Rom (6. Jh. v. Chr.) sowie im Bereich der Anthroponomastik die sabinischen und etruskischen Namen (sab. Titus Tatius, Numa Pompilius; etrusk. Tarquinius, Servius Tullius) der stadtrömischen Geschichte (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:64–68). Die wie Meier-Brügger (2002:32, E426) es formuliert „kulturelle Koine“ unter Beteiligung der Etrusker, Latiner, Falisker und Sabeller ist dadurch charakterisiert, daß es sich um plurilinguale Gesellschaften handelt, Mehrsprachigkeit war also der Normalfall und nicht die Ausnahme.166

      Poccetti/Poli/Santini (2005:66) gehen demgemäß davon aus, daß in Rom sowohl eine sabinische167 Varietät gesprochen wurde als auch eine etruskische Varietät. Dies ist vor dem Hintergrund der „Homogenisierung“ der wichtigsten Sprachräume Mittelitaliens zu sehen (mit entsprechenden Konvergenzen), dem des Etruskischen, dem des Latinischen und dem des Sabinischen (Oskischen) sowie in Zusammenhang mit den damit verbundenen gemeinsamen Akkulturationsprozessen, wie z.B. der Alphabetisierung (ibid.:76).

      Dabei besteht insofern ein wichtiger Unterschied zwischen den beteiligten Kontaktsprachen, als aufgrund der engen Verwandtschaft die gegenseitigen Interferenzen zwischen dem Sabinischen und Lateinischen recht groß waren und im Zuge der Expansion des Lateinischen das Sabinische wie auch das Faliskische Teil des lateinischen Diasystems wurden. Die sich herausbildende Standardsprache selegiert dabei aus allen Varietäten dieses erweiterten Sprachsystems. Das Etruskische hingegen, dessen Andersartigkeit auch im Sprachbewußtsein der Latiner verankert war, hatte in Rom noch längere Zeit den Status einer wichtigen Prestigesprache bis ins 4. Jh. v. Chr., dokumentiert bei Livius (IX, 36), der davon berichtet, daß der Nachwuchs der Oberschicht in den etruskischen litterae unterwiesen wird (cf. Poccetti/Poli/Santini 2005:67).

      Versucht man die Sprachsituation im Rom der Frühzeit im Lichte des sozio-linguistischen