Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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die Coseriu’sche Denomination. Was die Abgrenzung groß- vs. kleinräumig angeht, kann man entsprechend dem in der strukturellen Areallinguistik üblichen bottom-to-top-Konzept zwischen den Gradationsstufen StandardlektDialekt – Regiolekt – Lokolekt unterscheiden (cf. Ebneter 1989:872).121 Mit Urbanolekt (cf. Dittmar 1997:193) wird hingegen eher eine spezifische diatopische Situation von Metropolen oder größeren städtischen Zentren beschrieben.122

      Was die Ebene der Diaphasik angeht, so ist festzustellen, daß die bisherigen Begrifflichkeiten eher schwankend sind, und zwar insofern als hier von Stilregistern, Stilen, Registern oder Sprachregistern gesprochen wird, so daß mit Situolekt (cf. Dittmar 1997:206) eine gewisse Einheitlichkeit möglich wäre, zumal auch dieser Begriff relativ transparent ist.

      Die inzwischen recht übliche Bezeichnung Soziolekt (cf. Dittmar 1997:189) im Bereich der diastratischen Ebene, erscheint eine recht gute Lösung, um gleichermaßen neutral sowohl gruppenspezifisches als auch schichtenspezifisches Sprechen zu umreißen.123 Hinzu kommt, daß man hier eine sehr transparente begriffliche Parallele zu diasozial ziehen kann. Das gleiche Argument wäre bezüglich des Technolekts vorzubringen, mit der Ergänzung und Präzisierung, daß hierbei nicht allein auf Sprachvariation im Bereich der Technik abgehoben wird, sondern jegliches berufs- und wissenschaftsspezifisches Sprechen miteinbezogen werden soll.

      Bei dem noch neueren Feld der diagenerationellen Differenzierung sind auch die Begrifflichkeiten noch recht schwankend und zum Teil wenig etabliert. Am ehesten untersucht ist in der Regel die Jugendsprache, die beispielsweise bei Michel (2011:194) als Juventulekt bezeichnet wird; eher selten zum Tragen kommt die Sprache der älteren Generation, die mitunter als Gerontolekt (cf. Dittmar 1997:229–231) oder Gerolekt (Veith 2005:173) benannt wird. Diesbezüglich sollte man eine gewisse Konsequenz und Kohärenz in Bezug auf die Bezeichnungen einführen, weshalb hier der Vorschlag sowohl eines neutralen Hyperonyms notwendig erscheint, als auch einer homogenen griechischen Denomination. Aus diesem Grund sollte man sinnvollerweise von Helikialekten (zu griech. ʿηλικία ‚Lebensalter‘), also altersbedingten Sprachunterschieden sprechen, die man in Gerontolekte (griech. γέρων ‚alter Mann‘, ‚alt‘) und Neotolekte (zu griech. νεότης ‚Jugend‘) differenzieren könnte.124

      Analog zu diesem Vorschlag wären auch die Begrifflichkeiten im Bereich der diasexuellen Ebene zu gestalten, so daß hier neben dem bereits etablierten, neutralen Sexolekt (cf. Dittmar 1997:228–229) zwischen Androlekt (zu griech. ʾανδρός ‚Mann‘) und Gynaikolekt (zu griech. γυναικός ‚Frau‘) unterschieden werden sollte.125

      Unabhängig von den einzelnen Begrifflichkeiten und ihrer etymologischen Transparenz und Adäquatheit, geht es vor allem darum, mit der Koppelung des Spektrums der Lekte-Denominationen den Termini, die mit der Konzeption des Diasystems einhergehen, ein Begriffsinventar zur Seite zu stellen, das die Variation im Varietätenraum einer Sprache so präzise wie möglich zu erfassen hilft.126 Ziel ist es ja letztlich, die Architektur einer Sprache so exakt wie möglich in der gesamten Bandbreiten ihrer Heterogenität beschreiben zu können, dabei die Kategorisierung aber nur so weit zu treiben, als den einzelnen Kategorien dann auch ihnen attribuierbare sprachliche Realitäten gegenüberstehen, die – soweit möglich – klar voneinander abgrenzbar sind.

      Mit vorliegendem Modell soll also versucht werden, die Gesamtheit des Varietätenraumes zu erfassen, um auf diese Weise das Verständnis für die sprachliche Realität zu schärfen. Ein Anliegen des Modells war es dabei, deutlich zu machen, daß auch bei einer Darstellung mit dem Fokus auf den Varietäten, die Sprechsituation, d.h. die konstitutiven Faktoren bei der Wahl einer Varietät mehr Raum einnehmen müßten bzw. vielmehr ohne diese zusätzliche Perspektive die Beschreibung defizitär bleibt. Dies bedeutet auch, daß sowohl dem Sprecher als auch dem Hörer sowie der sozialen Gruppe mehr Gewicht in der Betrachtung einer varietätenlinguistischen Untersuchung zukommen müßte.

      Diese Überlegungen zu Sprechsituation gelten in erster Linie für zeitgenössische synchrone Kommunikationssituationen, da nur in diesen die Determiniertheit des Sprechers (und Hörers) adäquat eingeschätzt werden kann. Für eine historische Kommunikationssituation, bei der man auf rein schriftliche Dokumente angewiesen ist, fällt der erste Bereich (‚schriftlich/mündlich‘) der Selektion in obigem Modell weg. Es bleiben dennoch determinierende Faktoren bei der Sprach- und Varietätenwahl, vor allem die Diskurstraditionen, allerdings sind manche Faktoren ungleich schwerer zu ermitteln. Die vorgeschlagene Erweiterung bzw. Präzisierung des Varietätenraumes mit Rückgriff auf die verschiedenen Terminologien der dia- und der lekte-Begriffe ist hingegen prinzipiell auch in einem historischen Kontext anwendbar. In der vorliegenden Untersuchung soll daher dieses Begriffssystem auch bei der Beschreibung des Lateinischen verwendet werden (cf. Kap. 4).127 Wie ausdifferenziert dies dabei möglich ist, hängt grundsätzlich von der Dokumentationslage bezüglich der einzelnen sprachlichen Phänomene ab.

      Was den metasprachlichen Diskurs des 15. und 16. Jh. anbelangt (cf. Kap. 6), so wird diese hier vorgestellte Begriffssystem nicht vollständig zum Tragen kommen können. Dies liegt vor allem darin begründet, daß die Beschreibung des antiken Lateins durch die Humanisten nicht mit gleicher Präzision geleistet werden konnte, wie das heutzutage möglich ist. Die Möglichkeiten, die von den damaligen Gelehrten beschriebenen Phänomene des antiken Lateins im Sinne einer modernen Interpretation in einer sozio- und varietätenlinguistische Terminologie darzustellen, sind daher begrenzt und nur vereinzelt wird es sich anbieten, begrifflich weiter zu differenzieren. In diesem Teil wird deshalb im Wesentlichen auf „traditionelle“ Begrifflichkeiten wie ‚diatopisch‘, ‚diastratisch‘, ‚diaphasisch‘ etc. rekurriert.

      3.2 Die Rekontextualisierung: Klassische Hermeneutik und historische Verortung

      Die methodische Vorgehensweise zur Analyse der frühneuzeitlichen Traktate, die sich mit der Frage nach der Art des Lateins in der Antike auseinandersetzen, soll in vorliegender Arbeit zwei Facetten umfassen (cf. Kap. 1.4). In den vorherigen Kapiteln wurde dazu das Inventar der aktuellen varietätenlinguistischen und soziolinguistischen Begrifflichkeiten vorgestellt und diskutiert, mit deren Hilfe die zu untersuchenden Texte aus einem modernen sprachwissenschaftlichen Blickwinkel heraus analysiert werden, zum Teil unter bewußter Ausblendung zeitgenössischer Implikationen der jeweiligen Epoche (cf. Kap. 3.1.1–3.1.3).

      In vorliegendem Kapitel soll hingegen die zweite Perspektive näher dargelegt werden, die dazu dient, die zuvor durch die Applikation moderner Termini und Konzepte entkontextualisierten Traktate dann in ihrem geistesgeschichtlichen Zusammenhang zu rekontextualisieren. Ziel ist es also, im Rahmen einer traditionellen philologischen Analyse die literarischen, geschichtlichen und philosophischen Bezüge, die den einzelnen Texten immanent sind, in Bezug auf die hier relevante Fragestellung adäquat herauszuarbeiten. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß nur eine möglichst exakte Verortung eines Textes in seinem geistes- und ideengeschichtlichen Kontext die Möglichkeit eröffnet, die im vorliegenden Fall angestrebte Nachzeichnung einer sich verändernden Vorstellung über das Latein der Antike angemessen zu erfassen. Die Kontrastierung mit der modernen sprachwissenschaftlichen Perspektive dient dabei der Schärfung des Blicks auf die untersuchte Fragestellung, so daß auf diese Weise die Ursprünge und frühen Ansätze aktueller sprachgeschichtlicher Erkenntnisse besser herauspräpariert werden können.

      Im Rahmen dieser zweiten Sichtweise auf die hier zu untersuchenden Traktate, in der wie eben dargelegt der Text in seinen historischen Bedeutungszusammenhang eingebettet werden soll, sind die Verfahren der Hermeneutik ein wesentlicher Bestandteil. Dabei sei Hermeneutik ganz allgemein als „Theorie und Methodik […] des Verstehens, Interpretierens und Anwendens von Texten“ (Zabka 2007:313) verstanden.

      Ziel der Erkenntnis ist es, einen kohärenten Bedeutungszusammenhang des Interpretationsgegenstands zu bestimmen oder das Fehlen eines solchen Zusammenhangs kohärent zu erklären. […]

      Als eine Theorie und Methodik des historischen Fremdverstehens zielt die Hermeneutik auf die Rekonstruktion jener Bedeutungen, die einem Text im Kontext seiner Entstehung zukamen. (Zabka 2007:313)

      In dieser