Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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Texte zunimmt.189

      Dies gilt auch für einen Bereich, den man heutzutage der wissenschaftlichen Literatur zuordnen würde. Während die ersten Textgattungen Epos und Tragödie in Versen gedichtet wurden, ist mit De agri cultura Catos das erste vollständige in Prosa verfaßte Werk überliefert und damit ein Grundstein für weitere Schriften und die wachsende Elaboriertheit der Sprache gelegt.

      Der Ausbau des Lateinischen wurde in der altlateinischen Epoche auch in Bezug auf die mündliche Distanzsprache vorangetrieben. Hierbei ist insbesondere der in der römischen res publica wichtige Bereich der Rhetorik zu nennen.190

      Im 2. Jh. v. Chr., als Rom auch vermehrt ins östliche Mittelmeer ausgriff, ergab sich allgemein eine vermehrte Rezeption griechischer Literatur, Philosophie und weiterer Wissenschaftsbereiche. Die Rhetorik, traditionell in der philosophischen Kontroverse zwischen den einzelnen Schulen (Stoa, Akademie, Peripatos) verortet, fand durch griechische Lehrer in der römischen Oberschicht Verbreitung, in der Griechisch alltägliche Bildungssprache war.191 Dabei ist die Rhetorik zwischen der Auseinandersetzung um den logos und der in der ars grammatica fixierten richtigen Sprechweise (recte loqui) bzw. der ‚korrekten‘ Sprache (latinitas bzw. ̔Ελληισμός) anzusiedeln (cf. Baier 2010:105; Poccetti/Poli/Santini 2005:389–390).192 Im römischen Kontext erreicht die Rhetorik dann vor allem im öffentlichen Leben der republikanischen Institutionen einen wichtigen Stellenwert und wurde ein geradezu konstitutiver Bestandteil der res publica.193 Bestimmte herausrragende Redner (cf. z.B. Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus minor, 185–129 v. Chr.; Tiberius Sempronius Gracchus, 162–133 v. Chr.; Gaius Sempronius Gracchus, 153–121 v. Chr.) genossen daher ein hohes Prestige in der Gesellschaft (cf. Albrecht 2012 I:413–414).194 Die schriftliche Niederlegung der auf diese Weise neu ausgeformten Diskurstradition der öffentlichen Rede beginnt erst im Übergang zur folgenden Epoche (cf. Rhetorica ad Herennium, Cicero), genauso wie die der sich daran anschließenden Grammatik (cf. Varro).

      Insgesamt ist demzufolge für die Periode der altlateinischen Sprachgeschichte eine wichtiger Wendepunkt dahingehend festzustellen, daß der Ausbau des Lateinischen maßgeblich vorangetrieben wurde. Durch die Übernahme von Diskurstraditionen aus dem griechisch-hellenistischen Raum, aber auch aus dem italischen Kontext sowie aufgrund von deren Weiterentwicklung rückt das Latein in dieser Epoche in immer mehr Bereiche der mündlichen, aber vor allem schriftlichen Kommunikation vor und wird zu einer vollfunktionsfähigen Distanzsprache. Der maximale Ausbaugrad wird zwar erst in der nächsten Phase erreicht, doch sind bereits zahlreiche Grundsteine gelegt. Der Aufstieg des Lateinischen zur überregionalen und dann internationalen Prestigesprache bedingt auf der anderen Seite auch einen Rückgang zahlreicher einheimischer Sprachen, so daß die Latinisierung der italienischen Halbinsel im 1. Jh. v. Chr. weitestgehend vollzogen ist. Aus der einstigen Vielsprachigkeit bleibt für nicht wenige Teile der Bevölkerung Einsprachigkeit übrig, für die Oberschicht Diglossie mit dem Griechischen.

      4.1.1.3 Klassisches und Nachklassisches Latein

      In der Literaturgeschichte wird nicht selten der Beginn der Epoche des Klassischen Lateins mit der ersten Rede Cicero präzise im Jahre 81/80 v. Chr. verortet und man folgt dann der stark wertenden Feingliederung in „goldene“ (80 v. Chr.-14 n. Chr.) und „silberne“ (14–117 n. Chr.) Latinität (cf. Meiser 2010:2, § 2) nach Maßgabe einer traditionell verankerten Beurteilung der Qualität der literarischen Produktion. Sprachwissenschaftlich gesehen ist es eher sinnvoll, den Beginn dieser Periode, die auch sprachliche Neuerungen zeitigt, gröber ins 1. Jh. v. Chr. zu datieren.

      Müller-Lancé (2006:32) datiert die Epoche des „nachklassischen Lateins“ analog zu Meiser (2010:2; § 2), der diese Zeit jedoch „archaisierende Periode“ nennt und ebenso exakt vom Tode Trajans (117 n. Chr.) bis zum Tode Marc Aurels (180 n. Chr.) andauern läßt. In Anlehnung an die Datierung von Steinbauer (2003:513), der diese Zeit durch eine an vorciceronianische Vorbilder anknüpfende Literatur zwischen 120–200 n. Chr. verortet, sei hier diesem folgend, gröber ein Ende an der Wende vom 2. zum 3. Jh. n. Chr. postuliert. Klassisches und Nachklassisches Latein seien hier zusammengefaßt, da es einerseits in der nachklassischen Zeit keine signifikanten sprachlichen Änderungen im Vergleich zur klassischen Epoche gab und andererseits aus der hier fokussierten Perspektive von Ausbau, Diskurstraditionen und Sprachkonstellationen kein wirklicher Paradigmenwechsel zu verzeichnen ist.

      Es ist in diesem Rahmen weder möglich, noch notwendig den Umfang und die Breite der Literatur dieser Periode zu behandeln, sondern es soll sinnvollerweise auf die wesentlichen Neuerungen in Bezug auf die diskurstraditionelle Perspektive eingegangen werden sowie den damit einhergehenden sprachlichen Ausbau, der zu dieser Zeit weitestgehend vollendet wird. Das bereits in altlateinischer Zeit wichtige Modell der griechischen Textgattungen und Diskurstraditionen erfüllt diese Funktion auch weiterhin und zeitigt in der römischen Literatur neue Formen. Dabei sind die Griechen nicht nur Vorbild, sondern gleichzeitig Maßstab des zu Erreichenden, an dem sich die Römer in einer Art kulturellen ἀγών abarbeiten und dies ist nicht nur objektiv als Prozeß zu konstatieren, sondern durchaus Teil der römischen Selbstreflexion wie bei Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus, ca. 35–96 n. Chr.) dokumentiert:

      Elegia quoque Graecos prorocamus, cuius mihi tersus atque elegans maxime videtur auctor Tibullus. Sunt qui Propertium malint. Ovidius utroque lascivior, sicut durior Gallus. (Quintilian, Inst. orat., X, 1, 93; 2001 IV:302)

      Tatsächlich wird erst in klassischer Zeit der ganze Bereich der Lyrik vom Lateinischen erschlossen, der zuvor nur ansatzweise in religiösen carmina vertreten war.195

      Eine Textgattung, die bei den Griechen schon im 7. v. Chr. mit Mimnermos von Kolophon bzw. Smyrna (Μίμνερμος, 6. Jh. v. Chr.) den ersten Vertreter zeitigte und bis in den Hellenismus gepflegt wurde, in der Kallimachos von Kyrene (Καλλίμαχος ὁ Κυρηναῖος, ca. 310–249 v. Chr.) mit seinen mythologischen Ursprungsgedichten, den αἰτία, hervorsticht, ist die der Elegie, die sich formal durch das elegische Distichon (alternierende Hexameter und Pentameter) abgrenzt und inhaltlich durch mythologische Themen, allgemeine Reflexionen, Spott, Klage, Erotik oder persönliche Anliegen charakterisiert ist (cf. Burdorf/Fasbender/Moennighoff 2007:183–184). Im römischen Bereich wird die Form übernommen und inhaltlich oft Mythologisches mit Autobiographischem kombiniert, wie es uns in dem ersten elegischen Gedicht des Neoterikers Catull (Gaius Valerius Catullus, 84–54 v. Chr.), der Allius-Elegie (carmen, Nr. 68) entgegentritt. Neben Catull bedienen sich dieser Gedichtform mit thematischer Variation vor allem Gallus (Gaius Cornelius Gallus, 70/69–27/26 v. Chr.), Tibull (Albius Tibullus, ca. 50–19 v. Chr., Corpus Tibullianum), Properz (Sextus Propertius ca. 47–15 v. Chr., Monóbiblos) und Ovid (Publius Ovidius Naso, 43 v. Chr.-17 n. Chr., Ars amatoria,196 Remedia amoris, Tristia, Epistulae ex Ponto), die auch insgesamt zu den maßgeblichen Vertretern der römischen Lyrik gehören (cf. Baier 2010:59–77).

      Indem er in seinen Heroides die literarische Gattung des Briefes und die lyrische Form der Elegie miteinander verschmilzt sowie zusätzlich Elemente der Rhetorik miteinfließen läßt (Ethopoiie bzw. sermocinatio), beschreitet Ovid ganz selbstbewußt (ars 3, 346) neue Pfade in seinem Schaffen und der römischen Literatur (cf. Baier 2010:71).

      Weitere Arten der Lyrik in lateinischer Sprache sind dem wie Ovid und Properz zum Kreis des Maecenas (Gaius Cilnius Maecenas, ca. 70–8 v. Chr.) gehörenden Horaz (Quintus Horatius Flaccus, 65–8 v. Chr.) zu verdanken, einem der wichtigsten Dichter der augusteischen Ära.197 Nach dem Vorbild der griechischen Dichtung des Archilochos (Ἀρχίλοχος, ca. 680–645 v. Chr.) führt er durch seine Iambi die Textgattung der Epoden198 – Distichon mit einem langen und einem kurzen Vers – erstmals in die lateinische Literatur ein. Seine Innovation ist ihm dabei durchaus bewußt (epist. I, 9, 19–25), genauso wie die erstmalige interpretatio Romana der Ode in den carmina, bei der er sich an berühmte Vorläufer wie Pindar (Πίνδαρος, 518–440 v. Chr.) oder Alkaios (Ἀλκαῖος, ca. 630–580 v. Chr.) anlehnt (cf. alkäische Dichtung) (cf. Baier 2010:72–77).199