Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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Produzenten immer wieder auf die Art ihrer Zugänglichkeit hin befragt werden müssen oder konkreter ausgedrückt: Ist die applizierte Methode in vorliegendem Fall noch valide oder womöglich zu variieren?

      Spitzers Ausführungen sind dabei unabhängig davon zu sehen, ob die Frage einen eher literaturwissenschaftlichen oder sprachwissenschaftlichen Hintergrund hat, und somit für vorliegende Untersuchung in jedem Fall von Relevanz. Die Erarbeitung einer Fragestellung, die nicht ohne vorheriges Sich-Auseinander-Setzen mit dem schriftlichen, künstlerischen Produkt – dazu zählt auch ein Traktat – möglich ist, soll hier genauso Beachtung finden wie die Berücksichtigung der sprachlichen (bzw. stilistischen) Implikationen der je einzelnen Texte, die unter Umständen eine andere Herangehensweise erfordern könnten.

      Zuletzt sei nun auf den bereits mehrfach formulierten (cf. Kap. 1) zentralen Aspekt der hier geplanten analytischen Methode eingegangen, nämlich auf die Rekontextualisierung. Diesen Terminus verwendet Oesterreicher (1998:21–22) mit Rückgriff auf Fleischman (1990:37) als Schlüsselbegriff,141 um auf die Bedeutung der notwendigen Rekonstruktion des Kommunikationsraumes (bzw. des Produktions- und Rezeptionskontextes), in dem ein historischer Text einst funktionierte, hinzuweisen. Seine Herangehensweise ist vor dem Hintergrund des von ihm mitentwickelten Konzeptes von Nähe-Distanz zu sehen (cf. Koch/Oesterreicher 2011), so daß für ihn die zentrale Frage zunächst lautet, welche Kommunikationsbedingungen bei einem bestimmten Text anzusetzen sind (cf. Kap. 3.1.1). Jeder Diskurs und jeder Text ist eingebettet in einen bestimmten Handlungszusammenhang mit wiederum spezifischen Kommunikationsbedingungen wie ‚Grad der Öffentlichkeit‘, ‚Grad der Vertrautheit der Partner‘, ‚Grad der emotionalen Beteiligung‘ und ’physischen Nähe der Kommunikationspartner‘, ‚Grad der Kooperation‘, ‚Grad der Dialogizität‘142 oder ‚Grad der Themenfixierung‘.143 Während (mündliche) Nähediskurse im Allgemeinen stark von einer außersprachlichen Situations- und Handlungseinbettung gekennzeichnet sind, so daß deren Bedeutung nur unter Kenntnis dieses Kotextes rekonstruierbar ist, sind (schriftliche) Distanzdiskurse prinzipiell mit expliziteren Referenzbezügen ausgestattet. Handelt es sich jedoch um Schriftprodukte, deren Entstehungszeit nicht mehr ohne weiteres mit den aktuellen Parametern bestimmt werden kann, so kann sich die adäquate Einordnung – insbesondere von literarischen Texten, aber auch von juristischen, historiographischen, theologischen und anderen komplexen Gebrauchstexten – deutlich schwieriger gestalten.144 Dies liegt unter anderem daran, daß vor allem bei historisch weiter zurückliegenden Kommunikationssituationen, in denen einst ein bestimmter Text eingebettet war, die Beleglage für die Zeit womöglich lückenhaft ist – sicherlich jedoch in irgendeiner Weise defizitär. Ganz prinzipiell ist es jedoch auch der Tatsache geschuldet, daß es bei schriftlich niedergelegten Diskursen immer zu einer, wie es Oesterreicher (1998:22) nennt, „raum-zeitliche[n] Entkoppelung der Kommunikationssituation“ kommt oder, wie es Ehlich (2010:542) ausdrückt, zu einer „zerdehnten Sprechsituation“. Aus dieser Konstellation heraus plädiert Oesterreicher für eine umso größere Notwendigkeit, diachrone Schriftzeugnisse in ihre ursprüngliche Kommunikationssituation zu rekontextualisieren:

      Die texthermeneutische Frage stellt sich jedoch insofern verschärft, als sich unter Umständen keine oder nur unvollständige oder einfach zu wenig historische Informationen zum jeweiligen kommunikativen Geschehen beibringen lassen. Trotzdem sind diese Texte grundsätzlich daraufhin zu befragen, wie sich ihre uns vorliegende schriftlich fixierte Form zu einem originären kommunikativen Geschehen verhält, das in der Regel zumindest in seiner Grundstruktur rekonstruiert werden kann. Den allgemein hermeneutisch zu konzipierenden Prozeß dieser Rekonstruktion der verschiedenen semiotischen Bezüge der Texte durch den Betrachter bezeichne ich im folgenden als Rekontextualisierung, die teilweise auch als eine Re-Inszenierung von Texten verstanden werden kann. (Oesterreicher 1998:22–23)

      Im Zuge dieses hermeneutischen Vorgehens sind sowohl Implikationen, die aus der jeweiligen diskurstraditionellen Verankerung eines Textes resultieren, zu berücksichtigen, als auch solche, die sich durch den Verschriftungs- und Verschriftlichungsprozeß ergeben.145 Ziel ist es dabei, letztendlich die „Verluste“ des kommunikativen Rahmens einer historischen Konstellation soweit als möglich auszugleichen und die einstige „diskursive Einbettung“ wiederherzustellen (Oesterreicher 1998:24).146

      Im Zuge seiner Überlegungen zur Problematik historischer Schrifterzeugnisse führt Oesterreicher (1998:26–27) noch einen weiteren Begriff ein, nämlich den der Textzentrierung. Darunter versteht er einen „schriftkulturelle[n] Prozeß, bei dem die ‚Ausblendung‘ der mit Diskursen ursprünglich verbundenen Vielfalt semiotischer Ausdrucksmodalitäten sich historisch sukzessive fixieren und diskurstraditionell festschreiben kann“ (Oesterreicher 1988:26). Dabei geht es vor allem um die beispielsweise in der mittelalterlichen Dichtung sichtbar werdenden Verfahren bei der Herausbildung von schriftlichen Diskurstraditionen, die zum Teil auf mündlichen Vorläufern basieren. In diesem Prozeß der Neukonstituierung treten bestimmte semiotische Verfahren eines Nähediskurses in den Hintergrund, während andererseits Textualitätsanteile zunehmen (Oesterreicher 1998:27).

      Ohne prinzipiell diesen Prozeß und die damit verbundenen Veränderungen in der Kommunikation in Abrede stellen zu wollen, erscheint doch der wesentlichere Aspekt dieser beiden, die Oesterreicher (1998:27) „wohlunterschieden“ wissen möchte, derjenige der Rekontextualisierung zu sein. Aus diesem Grund soll dieses Prinzip, welches wichtige hermeneutische Verfahren impliziert, auch in vorliegender Untersuchung zentraler Bestandteil sein und als „Gegengewicht“ zu einer rein nach modernen linguistischen Termini ausgerichteten Textinterpretation (cf. Kap. 3.1) fungieren.

      Im Rahmen der in der einleitenden Zielsetzung beschriebenen Methodik des Vorgehens in Bezug auf die Analyse der frühneuzeitlichen Texte (cf. Kap. 1.4) bildet die Herangehensweise mittels aktueller varietätenlinguistischer und soziolinguistischer Begrifflichkeiten, deren Grundlagen bereits erläutert wurden (cf. Kap. 3.1), den Fokus vorliegender Untersuchung. Eine rein auf dieser Methode fußende Analyse würde jedoch Gefahr laufen, voreilige oder ganz allgemein zu kurz greifende Ergebnisse zu folgern, vor allem im Hinblick auf eine womöglich überinterpretierte Modernität – im Sinne eines aktuellen linguistischen Verständnisses – der untersuchten Texte. Daher ist die hier vorgestellte Rekontextualisierung, im Sinne einer adäquaten zeitgeschichtlichen Verortung – und diese impliziert allgemein historische Epochenbezüge genauso wie spezifisch literarische –, unabdingbar, um eine geistesgeschichtliche Entwicklung, wie hier geplant, nachzuzeichnen. Diese Rekontextualisierung, wie sie von Oesterreicher (1998) im Hinblick auf eine sprachwissenschaftliche Nutzbarkeit hin konzipiert wurde, ist dabei nicht denkbar ohne die Tradition der klassischen Hermeneutik, spricht er doch selbst von der „Hermeneutik der Rekontextualisierung“ (Oesterreicher 1998:21).147

      Unabhängig von den bei Oesterreicher nur kursorisch angesprochenen Bezügen zu dieser Disziplin, schien es daher notwendig, einige entscheidende Aspekte der hermeneutischen Analyse aufzugreifen. Dabei ging es nicht darum, sich dezidiert einem der großen Klassiker (Schleiermacher et al.) anzuschließen, sondern Überlegungen herauszustellen, die ganz konkreten Nutzen für die vorliegende diachrone Konstellation der Textinterpretation haben und als methodische Grundpfeiler fungieren können.

      Die Arbeit mit Texten einer vergangenen Epoche zwingt einen somit unter Beachtung grundlegender hermeneutischer Prinzipien dazu, Relationen wie Vorstellungen bzw. Denkprozesse, Schriftzeugnisse, sprachliche Realisierung und zeitgenössischen Diskurs nur mit äußerster Vorsicht in Bezug zueinander zu setzen bzw. immer wieder neu zu überdenken und zu hinterfragen. Dieser Versuch einer Verankerung und Verortung der Korpustexte soll aus diesem Grund den zweiten methodischen Pfeiler vorliegender Untersuchung bilden und unter dem Schlagwort der Rekontextualisierung figurieren.

      Das konkrete Vorgehen im Einzelnen ist dabei natürlich abhängig von der Art des Textes, seiner Strukturierung, seiner Intentionalität und seiner Bedeutung innerhalb des Diskurses. Ganz allgemein besteht das Ziel darin, jeden Text des Korpus in seinem zeitgeschichtlichen Kontext adäquat zu verorten. Bei dieser Vorgehensweise, die eine exakte Lektüre und eine umsichtige, aber dennoch dezidierte Interpretation beinhaltet, sollen die vorgestellten hermeneutischen Verfahren eine methodisch wichtige Grundlage bilden. Es geht letztendlich darum, den gegebenen Text so zu interpretieren, daß alle für die vorliegende Fragestellung relevanten Bezüge aufgedeckt werden, d.h. das untersuchte