Das Verständnis von Vulgärlatein in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der questione della lingua. Roger Schöntag

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die Rekonstruktion einer geistesgeschichtlichen Entwicklung darstellt, die anhand ausgewählter frühneuzeitlicher Traktate sichtbar gemacht werden soll.

      Im Folgenden seien einige Aspekte traditioneller Modelle und Konzepte der Hermeneutik, die für das hier angestrebte Vorgehen von Relevanz sind, herausgegriffen und vorgestellt.128 Der Ausgangspunkt der modernen Textanalyse- und interpretation ist der heutigen communis opinio folgend die Hermeneutik Friedrich Schleiermachers (1768–1834), die in Bezug auf die zuvor von der hermeneutica sacra und der hermeneutica profana geprägten Zweiteilung der theologischen und juristischen Perspektive einen Neuanfang markierte.129 Dabei war der Ansatz Schleiermachers insofern neu, als er das Verstehen an sich sowie die Auslegung als Dreh- und Angelpunkte eines Textverständnisses formulierte und problematisierte (cf. Geisenhanslüke 2004:44; Rusterholz 2005a:113).130

      Für die hier vorzunehmende Textanalyse bedeutet dies, daß die Kunst des Verstehens darin liegt, die zur Verfügung stehenden Schriftzeugnisse hinsichtlich ihrer sprachlichen Eigenart, ihrer Zielsetzung und ihrer geistesgeschichtlichen Verankerung entsprechend einzuordnen und nur vor diesem Hintergrund vorsichtige Schlüsse über das darin ausgedrückte Denken zu ziehen bzw. die dahinterstehenden Ideen und Vorstellungswelten zu rekonstruieren.

      Ein weiterer wichtiger Aspekt hinsichtlich des vorliegenden Anliegens findet sich in den Schriften Wilhelm Diltheys (1833–1911). Die von Dilthey entwickelte Hermeneutik basiert zunächst auf den theoretischen Ausführungen Schleiermachers, geht aber darüber hinaus. Er erweitert beispielweise die „Kunst des Verstehens“ zu einer allgemeinen Erkenntnistheorie, zu einer „methodischen Auseinandersetzung mit Gegenständen der Kultur“ (Rusterholz 2005a:119). In Bezug auf schriftliche Äußerungen, die ein Teil davon sind, präzisiert er seine Vorstellung eines methodisch angelegten Erkenntnisprozesses als „kunstmäßige[s] Verstehen von dauernd fixierten Lebensäußerungen“, welches er wiederum als „Auslegung oder Interpretation“ (Dilthey 1990:319) benannt haben möchte. Diese schriftlich fixierten Äußerungen, vornehmlich in Form von Literatur (aber nicht nur), sind Ausdruck des menschlichen Seins und Schaffens; der Zugang erfolgt dabei über die Sprache.131

      Es soll nun eine letzte Anleihe bei der „klassischen“ Hermeneutik vorgenommen und diesbezüglich einige Überlegungen aus den Schriften Hans-Georg Gadamers (1900–2002) dargelegt werden. Gadamers Blick auf das Verstehen von Texten bzw. von Äußerungen im Allgemeinen ist von einem auf Martin Heidegger (1889–1976) zurückgehenden Wahrheitsanspruch geprägt, d.h. Anliegen ist es, „eine Erfahrung von Wahrheit auszumachen, die speziell in der Kunst zutage tritt“ (Geisenhanslüke 2004:54), um so die Geisteswissenschaften im Vergleich mit den Naturwissenschaften entsprechend aufzuwerten. Schlüssel für das Verstehen ist dabei wiederum die Sprache, wobei es ihm vorrangig nicht rein um das Verstehen geht, sondern um Verständigung.132 Basis ist deshalb in erster Linie die lebendige Rede, die schriftlichen Erzeugnisse müssen deshalb sozusagen erst wieder zum Sprechen gebracht werden, denn die „Urszene des Verstehens ist das Gespräch“ (Watzka 2014:213). Zentraler Punkt der Hermeneutik Gadamers ist der Aspekt der Historizität im Verstehen (cf. Gander 2011:93).133 Dabei ist hervorzuheben, daß die von ihm angesprochenen Horizonte nicht im eigentlichen Sinne verschmelzen, sondern daß es unter Berücksichtigung von Traditionsprozessen darum geht, einen Gegenwartshorizont von anderen historischen Horizonten zu isolieren. Dieser kann jedoch nicht für sich bestehen, sondern nur im Kontext der anderen bzw. aller, die es als Rezipient immer wieder neu zu bestimmen gilt (cf. Rusterholz 2005a:126).134

      Aus den bisher angeführten Ausführungen Schleiermachers, Diltheys und Gadamers sind deshalb folgende hier zentrale Elemente herauszugreifen: Ausgangspunkt der Untersuchung bilden schriftliche Zeugnisse, die wiederum Gedankengänge ihrer Autoren widerspiegeln. Um nun wie für vorliegende Untersuchung erstrebt, die Vorstellungswelt einer vergangenen Zeit zu rekonstruieren, ist es nötig, bei der Untersuchung der zur Verfügung stehenden Texte die historischen Implikationen der Epoche zu berücksichtigen und bei der Interpretation und Auslegung die Schlüsselfunktion der Sprache dahingehend in Betracht zu ziehen, daß die Diskrepanz zwischen je unterschiedlich versprachlichtem Text und daraus ableitbaren Gedankengängen bzw. erschließbaren Vorstellungen und Konzepten berücksichtigt wird. Dies bedeutet letztendlich vor allem Vorsicht bei den interpretatorischen Schlußfolgerungen aus dem vorhandenen Textmaterial obwalten zu lassen und dabei alle zeitgeschichtlichen Implikationen möglichst adäquat einzubeziehen.

      An diesem Punkt trifft die Hermeneutik, die nicht selten literarische Texte im Fokus hat, also Texte mit einem ästhetischen Anspruch und einer entsprechenden, dezidierten Wirkungsabsicht, auch auf die Geschichtswissenschaft, die ebenfalls an der Auslegung von Schriftzeugnissen interessiert ist.135 Historiographische Texte dienen zwar dazu, historische Ereignisse und Abläufe entsprechend der Wahrheit darzustellen (Simon 1996:277), so der grundsätzliche Anspruch, nichtsdestoweniger ist es auch möglich, diese als literarische Erzeugnisse im weiteren Sinne (d.h. Schriftzeugnisse mit spezifischen Inszenierungsstrategien und Kommunikationsabsichten) mit hermeneutischen Methoden zu beleuchten oder wie es Simon (1996:277) prägnant formuliert: „Historiographie ist Literatur, also der Literaturgeschichte und -kritik zugänglich […].“136 Die Wechselwirkung zwischen literaturwissenschaftlichen hermeneutischen Methoden und der Perspektive des Historikers besteht demnach darin, daß der zu untersuchende Text einerseits als sprachliches und damit in sensu largo literarisches Produkt zu sehen ist, und andererseits als ein geistesgeschichtliches, welches in einen entsprechenden Diskurs eingebunden ist, der wiederum den Zugang zu historischen Fakten ermöglicht (soweit objektivierbar).137

      Dies ist für vorliegende Untersuchung insofern relevant, da aus den Traktaten des Korpus, die ja mit je unterschiedlichen Zielsetzungen (literaturtheoretische, historiographische, sprachtheoretische, etc.) konzipiert wurden und keine literarischen Produkte im engsten Sinne sind, der jeweilige Kenntnisstand in der Debatte um das antike Latein herausgelesen werden soll, d.h. als historische Fakten eines Diskurses zu rekonstruieren ist.

      Anschließend an diese kursorischen Ausführungen zur Hermeneutik, die in erster Linie dem Traditionsstrang der traditionell verstandenen Philologie zuzurechnen ist, aber auch in anderen Disziplinen gewinnbringend Anwendung findet,138 sollen nun die disiecta membra der Literatur- und Sprachwissenschaft wieder zusammengeführt werden und zusätzlich Aspekte der Nützlichkeit dieser Vorgehensweise auch für die linguistische Analyse herausgestellt werden.139

      Auf bestimmte Konvergenzen beider Fachdisziplinen hat auch Leo Spitzer (1887–1960) hingewiesen, der sich in seinen Schriften oft sowohl mit literaturwissenschaftlichen und sprachwissenschaftlichen Fragestellungen beschäftigt hat als auch mit solchen der schwer einzuordnenden Stilistik. In seinem erstmals auf Englisch erschienen Buch Linguistics and Literary History (1948) gibt er in seinem einleitenden Aufsatz einige wichtige, eher praxisorientierte Leitgedanken zum Umgang mit literarischen Texten.

      Warum behaupte ich so nachdrücklich, daß es unmöglich ist, dem Leser eine schrittweise Anleitung zum Verständnis eines Kunstwerks an die Hand zu geben? In erster Linie, weil der erste Schritt, von dem alles abhängen kann, nie im Vorhinein geplant werden kann: er muß schon stattgefunden haben. (Spitzer 1969:31)

      Im Weiteren präzisiert Spitzer (1969:31) diesen ersten Schritt, der darin bestehen sollte, daß man über ein bestimmtes Detail eine Erkenntnis gewinnt, sodann diese mit dem gesamten literarischen (Kunst)Werk in Relation setzt, dazu eine Theorie konzipiert und aus dieser Konstellation heraus eine bestimmte Fragestellung an den Text heranträgt. Voraussetzung ist dabei nicht nur eine gewisse Erfahrung, Begabung und ein methodisches Vorgehen, sondern auch ein wiederholtes Lesen. Die Untersuchung eines Textes ist dabei von einer gewissen Zirkularität geprägt, denn erst wenn für einen bereits einen Zugang besteht, kann man weiteren bzw. tieferen Zugang erlangen, was er tautologisch dahingehend synthetisiert, „daß Lesen wirklich bedeutet, gelesen zu haben, und daß Verstehen bedeutet, verstanden zu haben“ (Spitzer 1969:32).140

      Ein anderer wichtiger Hinweis Spitzers in Bezug auf das hermeneutische Vorgehen ist in der Mahnung zur Vorsicht bei der Analyse verschiedener Kunstwerke zu sehen, da die Verschlüsselung durch die Sprache eine je spezifische darstellt.

      Der Grund dafür, daß der Schlüssel zum Verständnis nicht mechanisch von einem Kunstwerk auf das andere übertragen werden kann, liegt in der künstlerischen Ausdrucksweise